11

Vielleicht lag es am Nebel. Er ließ alles verzerrt erscheinen. Es gab keine festen Umrisse, keine klar erkennbaren Gefahren. Die glimmenden Gestalten im Nebel näherten sich bedächtig, schienen mitsamt ihrem verschleiernden Nebel den kiesigen Hang zu den antiken Ruinen geradezu hinaufzuschweben. Ihre Gesichter, ja, ihre Gestalten, waren undeutlich und verschwammen, bis sie kaum mehr als glühende Flecken zu sein schienen. Vielleicht lag es am Nebel, vielleicht auch nicht. Aus welchem Grund auch immer, Sperber hatte keine Furcht.

Etwa zwanzig Meter vor der zerfallenen Mauer der Ruine hielten die Delphae an und mit ihnen ihr schimmernder Nebel, der um sie wirbelte und die Nacht mit kaltem, blassem Feuer vertrieb.

Sperbers Geist schien eigenartig losgelöst, doch seine Gedanken waren klar und scharf. »Seid gegrüßt, Nachbarn«, rief er den Gestalten im Nebel zu.

»Seid Ihr wahnsinnig?« keuchte Itagne.

»Vernichtet sie, Sperber!« zischte Sephrenia. »Benutzt den Bhelliom! Löscht sie aus!«

»Sollten wir nicht erst einmal in Erfahrung bringen, was sie von uns wollen?«

»Wie könnt Ihr bloß so ruhig sein, Mann?« fragte Itagne heftig.

»Übung, vermutlich.« Sperber zuckte die Schultern. »Nach einer Weile kommen die natürlichen Instinkte zum Vorschein. Diese Leute da draußen haben keinerlei feindselige Absichten.«

»Er hat recht, Itagne«, erklärte auch Vanion. »Man spürt es, wenn jemand die Absicht hat, zu töten. Diese Leute sind nicht gekommen, um zu kämpfen. Sie zeigen keine Furcht, aber sie suchen auch keinen Streit mit uns. Warten wir doch ab, wie es weitergeht. Seid wachsam, aber haltet euch zurück – einstweilen jedenfalls.«

»Anakha!« rief eine der glimmenden Gestalten im Nebel.

»Das ist ein guter Anfang«, murmelte Vanion. »Erkundigt Euch, was sie wollen.«

Sperber nickte und trat näher an die verwitterten Trümmer der eingestürzten Mauer. »Ihr kennt mich?« rief er auf tamulisch.

»Selbst die Steine kennen den Namen Anakha. Keiner, der je gelebt hat, gleicht Euch.« Die Sprache klang archaisch und irgendwie unpersönlich. »Wir wollen Euch kein Übel und kommen in Freundschaft.«

»Ich werde mir anhören, was Ihr zu sagen habt.« Sperber entging nicht, wie Sephrenia hinter ihm scharf Atem holte.

»Wir bieten Euch und Euren Gefährten Zuflucht an«, erklärte der Delphae im Nebel. »Ihr seid von Feinden umgeben und die Gefahr im Land der Cyrgai ist groß für Euch. Kommt nach Delphaeus, dort werden wir euch Rast und Sicherheit gewähren.«

»Euer Angebot ist großmütig, Nachbar«, antwortete Sperber, »und meine Gefährten und ich danken Euch.«

»Wir fühlen Euer Zögern.« Die Stimme aus dem Nebel klang eigenartig hohl und mit einer Art Widerhall, wie man ihn in einem langen, leeren Korridor hören mag – ein Laut, der in unendlicher Ferne verklingt. »Seid versichert, daß wir gegen Euch und Eure Gefährten nichts Böses im Schilde führen. Solltet Ihr euch entscheiden nach Delphaeus zu kommen, geloben wir euch unseren Schutz. Wenige auf dieser Welt sind bereit, uns offen und ohne Furcht in die Augen zu sehen.«

»Das habe ich gehört. Aber es wirft eine Frage auf. Warum Euer Angebot, Nachbar? Wir sind hier Fremde. Welches Interesse haben die Delphae an unserer Sache? Was erhofft ihr euch davon, uns eure Freundschaft anzubieten?«

Die glimmende Gestalt im Nebel zögerte. »Ihr benutzt Bhelliom, Anakha – ob zum Guten oder Bösen, wißt Ihr nicht. Euer Wille gehört nicht mehr Euch, denn Bhelliom beugt ihn zu seinem eigenen Zweck. Ihr seid nicht mehr von dieser Welt. Euer Vorhaben und Euer Geschick werden von Bhelliom bestimmt. In Wahrheit seid Ihr und Eure Gefährten uns gleichgültig, denn wir bieten unsere Freundschaft nicht Euch an, sondern Bhelliom – und Bhelliom wird den Preis für diese Freundschaft zahlen müssen.«

»Das war deutlich genug«, murmelte Kalten.

»Die Gefahr, in der ihr euch alle befindet, ist größer als ihr ahnt«, fuhr der glimmende Sprecher fort. »Bhelliom ist die begehrenswerteste Kostbarkeit des ganzen Universums, und Wesen, wie ihr sie euch nicht einmal vorzustellen vermögt, wollen ihn in ihren Besitz bringen. Doch er läßt sich nicht besitzen. Er wählt selbst. Und er hat Euch erwählt, Anakha. In Eure Hand hat er sich gegeben, und durch Eure Ohren müssen wir mit ihm sprechen und unsere Wünsche kundtun.« Der Sprecher machte eine Pause. »Denkt über unsere Worte nach und legt Euer Mißtrauen ab. Euer Erfolg (oder Scheitern) bei der Durchführung von Bhellioms Vorhaben kann von unseren Absichten abhängen – den guten oder den weniger guten. Und wir werden dafür bezahlt! Doch darüber wollen wir später sprechen.«

Der Nebel wallte und verdichtete sich und die glimmenden Gestalten verschwammen und verblaßten. Ein plötzlicher Wind fegte über die Wüste, so kalt wie der Winter und so trocken wie Staub. Der Nebel zerfaserte, wallte und wirbelte wirr. Dann war er verschwunden, und mit ihm die Leuchtenden.

»Hört nicht auf sie, Sperber!« sagte Sephrenia mit schriller Stimme. »Zieht nicht einmal in Betracht, was er sagte! Es ist Lug und Trug!«

»Wir sind keine Kinder, Sephrenia«, versicherte Vanion der Frau, die er liebte. »Wir sind nicht so leichtgläubig, Fremden ohne weiteres zu trauen – schon gar nicht Fremden wie den Delphae.«

»Du kennst sie nicht, Vanion! Ihre Worte sind wie der Honig, der ahnungslose Fliegen in die Falle lockt! Ihr hättet sie vernichten sollen, Sperber!«

»Sephrenia«, sagte Vanion in besorgtem Tonfall, »du hast die letzten vierzig Jahre deine Hand auf meinen Schwertarm gelegt und versucht, mich davor zu bewahren, anderen Schaden zuzufügen. Was hat dich so verändert? Was macht dich plötzlich so blutdürstig?«

Sie blickte ihn beinahe feindselig an. »Du würdest es nicht verstehen.«

»Das ist eine Ausrede, Liebste. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß es wahrscheinlich nicht stimmt. Die Delphae waren vielleicht nicht völlig offen, was ihr Angebot betraf, aber sie waren nicht feindselig, und sie haben uns auf keine Weise bedroht.«

»Äh – Hochmeister Vanion«, unterbrach Ulath. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand mit nur halbwegs klarem Verstand Sperber bedrohen würde. Den Mann zu bedrohen, der Bhelliom in der Hand hält, wäre keine kluge Entscheidung – nicht einmal für Leute, die im Dunkeln glühen und ihre Nachbarn den Würmern zum Fraß vorwerfen.«

Sofort nutzte Sephrenia Ulaths Worte. »Genau das ist es, Vanion! Die Delphae hatten Bhellioms wegen Angst, uns anzugreifen. Nur der Stein hat sie zurückgehalten!«

»Aber sie haben sich zurückgehalten. Sie waren keine Gefahr für uns. Warum wolltest du, daß Sperber sie tötet?«

»Ich verabscheue sie!« Es klang wie ein Zischen.

»Warum? Was haben sie dir angetan?«

»Sie haben kein Recht zu existieren!«

»Alles hat ein Recht zu existieren, Sephrenia – selbst Wespen und Skorpione. Dein Leben lang hast du blutdürstige Pandioner mit Weisheit und Geduld gelehrt. Weshalb willst du das plötzlich nicht mehr wahrhaben?«

Sie wandte das Gesicht ab.

»Bitte, sprich mit mir. Du hast ein Problem, und deine Probleme sind auch die meinen. Laß uns gemeinsam versuchen, eine Lösung dafür zu finden.«

»Nein!« Sie warf sich auf dem Absatz herum und rannte davon.

»Um ehrlich zu sein, die ganze Geschichte entbehrt jeder Grundlage«, sagte Itagne, während sie öde Meilen unter einem grauen Himmel dahinritten.

»Das sind meist die besten Geschichten«, sagte Talen.

Itagne lächelte flüchtig. »Schon seit undenklichen Zeiten gibt es in Tamul sehr viele Sagen über die Leuchtenden. Es begann mit den üblichen Gruselmären, nehme ich an; aber die Tamuler hatten ja immer schon die Neigung, ein wenig zu übertreiben. Vor ungefähr siebenhundert Jahren hat dann ein unbedeutender Poet den Inhalt der Sage verändert. Statt sich auf das Gruselige zu konzentrieren, geriet er ins Schwärmen und malte in herzzerreißenden Versen aus, wie die Delphae ihre Lage empfanden. In endlosen scheußlichen Strophen beschrieb er, wie einsam und ausgestoßen sie sich fühlten. Bedauerlicherweise ging er zur ländlich idyllischen Tradition über und fügte seinen anderen närrischen Übertreibungen auch noch die Rührseligkeit dieses törichten Dünkels hinzu. Sein bekanntestes Werk ist eine nicht enden wollende Ballade mit dem Titel Xadane. Xadane war angeblich eine delphaeische Schäferin, die sich in einen normalen, menschlichen Hirtenjungen verliebte. Solange sie sich tagsüber trafen, war alles wunderschön, doch wenn der Nachmittag sich neigte, mußte Xadane fortlaufen, damit ihr Liebster nicht erfuhr, was sie wirklich war. Wie gesagt, die Ballade ist schrecklich lang, einschläfernd und voll von abgedroschenen Versen, in denen der Poet Xadane in Selbstmitleid schwelgen läßt. Es ist schlichtweg unerträglich!«

»Wenn ich recht gehört habe, bezeichnen sich diese Leute gestern nacht im Nebel selbst als Delphae«, bemerkte Bevier. »Falls dieser Name in der tamulischen Literatur ebenfalls benutzt wird, läßt das doch auf irgendeine Verbindung schließen.«

»Da habt Ihr natürlich recht, Herr Ritter«, erwiderte Itagne. »Aber es gibt keinerlei Überlieferungen. Die Sagen sind sehr alt, und ich vermute, daß viele der überspannten Phantasie drittklassiger Poeten entsprangen. Angeblich liegt die Stadt Delphaeus in einem abgeschiedenen Tal hoch im Gebirge von Südatan. Demnach sind die Delphae ein tamulisches Volk, entfernt mit den Atanern verwandt, jedoch nicht von deren riesenhafter Statur. Wenn wir unseren Poeten glauben dürfen – was wir aber lieber nicht sollten –, waren die Delphae ein einfaches Hirtenvolk, das seinen Herden in dieses Tal gefolgt war und es nicht mehr verlassen konnte, weil eine Geröllawine den einzigen Paß zur Außenwelt verschüttete.«

»Das ist keineswegs unmöglich«, warf Ulath ein.

»Zur Unmöglichkeit kommt es erst ein wenig später in den alten Sagen«, entgegnete Itagne trocken. »Danach gibt es einen See mitten in diesem Tal, und dieser See soll der Grund für die Eigentümlichkeit der Delphae sein. Angeblich glüht er, und da er die einzige Wasserquelle im Tal ist, sind die Delphae und ihre Herden gezwungen, da von zu trinken und darin zu baden. Den alten Sagen zufolge ist das der Grund, daß sie ebenfalls zu glühen anfingen.« Er lächelte unwillkürlich. »Sie müssen ein Vermögen an Kerzen sparen.«

»So etwas ist doch nicht wirklich möglich, oder?« fragte Talen. »Ich meine, daß Menschen im Dunkeln leuchten, nur weil sie etwas Bestimmtes essen oder trinken.«

»Ich bin kein Wissenschaftler, junger Herr, deshalb dürft Ihr nicht mich fragen, was möglich ist und was nicht. Es könnte an einem bestimmten Mineral liegen, vermute ich. Oder an irgendeiner Algenart. Das wäre zumindest eine Erklärung für diese irreale Erscheinung.«

»Die Leute vergangene Nacht leuchteten wirklich, Exzellenz«, erinnerte Kalten ihn.

»Ja, und ich tue mein möglichstes, es zu vergessen!« Itagne blickte über die Schulter. Sephrenia hatte sich geweigert, sich irgendeine Diskussion über die Delphae anzuhören, und so bildete sie mit Berit die Nachhut. »Die Reaktion der erhabenen Sephrenia auf die Delphae ist unter Styrikern keineswegs ungewöhnlich, müßt ihr wissen. Allein schon der Name raubt ihnen die Vernunft. Wie auch immer, Xadane wurde äußerst beliebt und es gab die üblichen Nachahmer. Niemand hat die literarische Welt stärker beeinflußt als die Delphae. Von daher erklärt sich die Bezeichnung ›delphaeische Literatur‹. Kluge Leute sind klug genug, sie nicht ernst zu nehmen, und dumme Leute sind dumm genug, den ganzen Unsinn zu glauben. Ihr wißt ja, wie das ist.«

»O ja!« rief Bevier. »Ich mußte als Student ganze Bibliotheken voll gräßlicher Verse lesen. Jeder Professor hatte seinen Lieblingsdichter, den er uns gnadenlos aufdrängte. Ich glaube, das war der Grund, daß ich schließlich die militärische Laufbahn einschlug.«

Khalad kam zu ihnen zurückgeritten. »Es soll nicht so aussehen, als wollte ich Kritik an meinen Vorgesetzten üben, meine Herren«, sagte er. »Aber der Entschluß, die Straße zu verlassen und querfeldein zu reiten, erscheint mir ziemlich unbedacht an einem Tag, da man die Sonne nicht sehen kann. Weiß jemand, wohin wir reiten?«

»Nach Osten!« sagte Vanion ohne zu zögern.

»Jawohl, Eminenz«, entgegnete Khalad. »Wenn Ihr Osten sagt, ist es Osten – auch wenn es gar nicht wirklich Osten ist. Müßten wir der Grenze nicht schon ziemlich nahe sein?«

»Stimmt. Sie ist nicht mehr weit voraus.«

»Ist nach Eurer Karte nicht der Fluß die natürliche Grenze zwischen Cynesga und Tamul?«

Vanion nickte.

»Tja, ich war vorhin auf der Kuppe dieses Hügels da vor uns und hab' mich umgeschaut. Ich konnte gut dreißig Meilen in jede Richtung sehen, aber da war nirgendwo ein Fluß zu erblicken. Könnte es sein, daß jemand die Sarna trocken gelegt hat?«

»Komm, beruhige dich«, murmelte Sperber.

»Kartographie ist keine exakte Wissenschaft, Khalad«, erklärte Vanion. »Die Entfernungen auf den Landkarten, egal welchen, sind nur ungefähr. Wir sind bei Morgengrauen aufgebrochen und in Richtung der hellsten Stelle der Wolkendecke geritten. Das ist Osten. Es sei denn, jemand hat die Himmelsrichtungen geändert. Wir haben sämtliche Orientierungspunkte beachtet und reiten nach wie vor in dieselbe Richtung, die wir heute früh eingeschlagen haben!«

»Wo ist dann der Fluß, Eminenz?« fragte Khalad. Er blickte Itagne an. »Wie breit ist das Sarnatal, Exzellenz? Was meint Ihr?«

»Gut hundertachtzig Meilen. Die Sarna ist der längste und breiteste Fluß des Kontinents, und das Tal ist sehr fruchtbar.«

»Gras? Bäume? Getreidefelder?«

Itagne nickte.

»Es gibt keinerlei Spur von Grün in irgendeiner Richtung, meine Herren«, erklärte Khalad. »Überall ringsum nur braune Öde.«

»Wir reiten ja, gen Osten!« beharrte Vanion. »Das atanische Gebirge muß im Norden sein – links von uns.«

»Das ist schon möglich, Eminenz, aber seine Berggipfel sind heute offenbar etwas verschämt und verstecken sich in den Wolken.«

»Ich habe Euch doch gesagt, daß die Karte ungenau ist, Khalad. Das ist die Erklärung!« Vanion blickte über die Schulter. »Reitet zurück und bittet Sephrenia und Berit aufzuschließen. Es ist ungefähr Mittag, nicht wahr, Kalten?«

»Ganz bestimmt, Eminenz.«

»Gut. Suchen wir in den Satteltaschen, vielleicht findet sich etwas Eßbares.«

»Woher wollen Vanion und Kalten denn wissen, wie spät es ist?« wandte Itagne sich an Sperber.

Sperber lächelte. »Wir verlassen uns dabei meistens auf Khalad – wenn die Sonne zu sehen ist. Ist es dagegen wolkig, verlassen wir uns auf Kaltens Magen. Er kann uns für gewöhnlich auf die Minute genau sagen, wie lange es her ist, daß er das letzte Mal gegessen hat.«

Am Spätnachmittag, als sie Rast für die Nacht machten, entfernte Khalad sich ein Stück von den andern, die ihr Lager aufschlugen. Mit beinahe selbstgefälliger Miene blickte er über die öde Wüste. »Sperber!« rief er. »Könntet Ihr bitte einen Moment hierherkommen? Ich möchte Euch etwas zeigen.«

Sperber setzte Farans Sattel ab und schlenderte zu seinem Knappen hinüber. »Ja?«

»Ich finde, Ihr solltet mit Hochmeister Vanion reden. Auf mich wird er wahrscheinlich nicht hören, da er kaum von seiner Meinung abzubringen ist. Aber jemand muß ihn überzeugen, daß wir heute nicht ostwärts geritten sind.«

»Zuerst mußt du mich davon überzeugen!«

»Na gut.« Der stämmige junge Mann deutete über die Wüste. »Wir kamen aus dieser Richtung, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wenn wir nach Osten geritten wären, müßte das Westen sein, richtig?«

»Logischerweise.«

»Eben. Und Westen ist dort, wo normalerweise die Sonne untergeht.«

»Bitte, Khalad! Spiel jetzt nicht den Neunmalklugen. Komm zur Sache.«

»Jawohl, Herr Ritter. Wenn das Westen ist, warum geht die Sonne dann dort drüben unter?« Er drehte sich um und zeigte nach links, wo ein glühendes Orange die Wolken färbte.

Sperber blinzelte, dann stieß er eine Verwünschung aus. »Komm, reden wir mit Vanion!« Er ging Khalad voraus quer durchs Lager zum pandionischen Hochmeister, der sich mit Sephrenia unterhielt.

»Wir haben ein Problem«, wandte er sich an die beiden. »Irgendwo sind wir heute falsch abgebogen.«

»Reitet Ihr immer noch darauf herum, Khalad?« sagte Vanion gereizt. Sein Gespräch mit Sephrenia war offenbar nicht sehr erfreulich gewesen.

»Unser junger Freund hat mich auf etwas aufmerksam gemacht«, entgegnete Sperber. »Sehr ausführlich und eindringlich, weil ich ja schwer von Begriff bin. Er sagte, daß wir den ganzen Tag nach Norden geritten sind, falls nicht jemand den Weg der Sonne verändert hat.«

»Das ist unmöglich!«

Sperber drehte sich um und zeigte auf das orangefarbene Glühen der Wolken am Horizont. »Das ist nicht die Richtung, aus der wir gekommen sind, Vanion.«

Vanion folgte Sperbers Finger, dann begann er zu fluchen.

»Du wolltest ja nicht auf mich hören!« tadelte Sephrenia ihn. »Glaubst du mir jetzt, daß die Delphae dich nach Strich und Faden täuschen?«

»Es war unser eigener Fehler, Sephrenia – na ja, meiner jedenfalls. Wir können nicht einfach den Delphae die Schuld an allem geben, das schiefgeht!«

»Ich kenne dich, seit du ein Knabe warst, Vanion, und dir ist noch nie ein solcher Fehler unterlaufen. Ich habe selbst erlebt, wie du in dunkler Nacht während eines Schneesturms den richtigen Weg gefunden hast!«

»Offenbar habe ich ein paar Orientierungspunkte falsch gedeutet.« Vanion verzog das Gesicht. »Danke, daß du so höflich warst, Khalad – und so geduldig. Wärst du nicht gewesen, wären wir bis zum Polareis weitergeritten. Ich bin manchmal sehr eigensinnig.«

Sephrenia lächelte Vanion voller Zuneigung an. »Ich würde es lieber als deine Unbeirrbarkeit bezeichne.«

»Im Grunde genommen läuft es auf dasselbe hinaus.«

»Ja. Aber es klingt viel netter.«

»Errichte ein paar Orientierungszeichen, Khalad«, bat Vanion. Er schaute sich um. »Stecken oder dergleichen gibt es hier keine. Häuf Steine auf und befestige oben farbige Stoffetzen. Wir müssen den jetztigen Sonnenstand genau bestimmen und ihn uns einprägen, damit wir morgen früh nicht noch einmal den gleichen Fehler machen.«

»Ich kümmere mich darum, Eminenz.«

»Sie sind zurück!« sagte Kalten und rüttelte Sperber unsanft wach.

»Wer ist zurück?« Verschlafen setzte Sperber sich auf.

»Deine glimmenden Freunde! Sie möchten wieder mit dir sprechen!«

Sperber stand auf und folgte seinem Freund zum Rand des Lagers.

»Ich hab' Wache gehalten«, berichtete Kalten leise, »als sie plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind. Itagnes Geschichten sind ja recht unterhaltsam, aber ganz stimmen sie offenbar nicht. Die Leuchtenden leuchten gar nicht immer. Sie haben sich im Dunkeln angeschlichen und begannen erst zu glimmen, als sie an Ort und Stelle waren.«

»Auch diesmal ein Stück abseits?«

Kalten nickte. »O ja, sie halten Distanz. Es wäre unmöglich, sie anzugreifen.«

Diesmal herrschte kein Nebel, und es waren nur zwei Leuchtende. Sie standen nur etwa zwanzig Meter von den angebundenen Pferden entfernt, doch das gespenstische Glimmen ließ ihre Züge nicht erkennen.

»Die Gefahr für Euch wächst, Anakha!« behauptete dieselbe hohl klingende, widerhallende Stimme. »Eure Feinde suchen Euch landauf, landab.«

»Wir haben niemanden gesehen, Nachbar.«

»Der unsichtbare Gegner ist der gefährlichste. Eure Feinde suchen mit dem Geist nach Euch. Wir beschwören Euch, nehmt unser Angebot an, Euch Zuflucht zu gewähren. Bald könnte es zu spät sein!«

»Ich möchte Euch um nichts auf der Welt kränken, Nachbar, aber wir haben nur Euer Wort, was diese unsichtbare Gefahr betrifft, und es könnte ja sein, daß Ihr ein wenig übertreibt. Ihr sagtet, daß Bhelliom meine Schritte lenkt, und Bhelliom hat unbeschränkte Macht. Ich habe es mehrmals selbst ausprobiert. Habt Dank für Eure Sorge, aber ich bin immer noch der Meinung, ich kann auf mich und meinen Freund aufpassen.« Er machte eine kurze Pause, dann stieß er impulsiv vor. »Wie wär's, wenn wir auf dieses höfliche Geschwätz verzichten und endlich Klartext reden. Ihr habt bereits ein gewisses Eigeninteresse zugegeben. Rückt doch jetzt frei damit heraus, was Ihr wollt und was Ihr dafür zu geben bereit seid. Das könnte sich als Grundlage für Unterhandlungen erweisen.«

»Dein Charme ist einfach umwerfend, Sperber«, knurrte Kalten.

»Wir werden Euren Vorschlag überdenken, Anakha.« Die hallende Stimme klang kalt.

»Tut das. Ach, da ist noch etwas, Nachbar. Hört auf, uns durch falsche Vorspiegelungen in die Irre zu führen. Täuschung und Trug machen nie einen guten Eindruck!«

Der glimmende Delphae wich in die Wüste zurück und verschwand wortlos außer Sicht.

»Dann glaubt Ihr mir also, nicht wahr, Sperber?« erklang Sephrenias Stimme unerwartet hinter den beiden Rittern. »Ihr habt erkannt, wie gemein und verlogen diese Kreaturen sind!«

»Sagen wir mal, ich betrachte diese Sache unvoreingenommen, kleine Mutter. Ihr hattet allerdings völlig recht mit dem, was Ihr am Abend gesagt habt. Wir könnten Vanion die Augen verbinden und ihn einen ganzen Tag unentwegt im Kreis drehen – trotzdem würde er unbeirrt genau nach Norden deuten.« Er schaute sich um. »Sind alle wach? Ich glaube, wir sollten eine Lagebesprechung halten.«

Sie kehrten zu der Stelle zurück, wo sie ihre Decken als Betten auf dem harten, unbequemen Kiesel ausgebreitet hatten. »Ihr seid wirklich sehr schlau, Sperber«, sagte Bevier. »Daß unsere Besucher die Beschuldigung nicht leugneten, die Ihr aus der Luft gegriffen habt, läßt darauf schließen, daß Sephrenia von Anfang an recht hatte, was die Leuchtenden betrifft. Sie haben uns bewußt in die Irre geleitet!«

»Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Cyrgai da draußen sind«, gab Ulath zu bedenken. »Und die Cyrgai sind zweifellos unsere Feinde. Wir wissen nicht, was die Delphae wirklich beabsichtigen; aber letzte Nacht haben sie immerhin die Cyrgai für uns vertrieben. Das macht sie mir direkt sympathisch.«

»Könnte es eine abgekartete Sache gewesen sein?« fragte Berit.

»Das ist sehr unwahrscheinlich«, antwortete Itagne. »Die Cyrgai wurden mit der Überzeugung geboren, daß sie die Krone der Schöpfung sind. Sie würden sich nie auf ein Abkommen einlassen, in dem sie eine untergeordnete Rolle spielen müssen – nicht einmal zum Schein. Sie würden das als unerhörte Herabsetzung betrachten.«

»Er hat recht«, pflichtete Sephrenia ihm bei. »Außerdem wäre ein Bündnis dieser Art, so ungern ich es zugebe, auch für die Delphae vollkommen untypisch. Eine gemeinsame Sache zwischen Delphae und Cyrgai kann es nicht geben. Ich weiß nicht, weshalb die Delphae sich in diese Sache einmischen, aber ganz sicher tun sie es nur deshalb, weil sie ihre eigenen Gründe dafür haben. Sie würden sich nie von jemand anders einspannen lassen.«

»Großartig!« sagte Talen sarkastisch. »Jetzt müssen wir uns wegen zweier Feinde Sorgen machen.«

»Weshalb sollten wir uns überhaupt Sorgen machen?« Kalten zuckte die Schultern. »Bhelliom kann uns binnen eines Herzschlags an den Rand von Matherion befördern. Warum verschwinden wir nicht einfach von hier und überlassen es den Cyrgai und Delphae, ihre Meinungsverschiedenheiten ohne uns auszutragen?«

»Nein!« sagte Sephrenia.

»Warum nicht?«

»Weil die Delphae uns bereits einmal in die Irre geführt haben! Wir wollen nicht nach Delphaeus!«

»Den Bhelliom können sie nicht täuschen, Sephrenia«, versicherte Vanion ihr. »Es mag ihnen ja gelungen sein, mich irrezuführen, bei Bhelliom ist das jedoch etwas ganz anderes.«

»Ich glaube nicht, daß wir dieses Risiko eingehen dürfen, Lieber. Die Delphae wollen irgendwas von Sperber, und es hat offenbar etwas mit Bhelliom zu tun. Wir dürfen ihnen auf keinen Fall beide in die Hände spielen. Ich weiß ja, daß es anstrengend und gefährlich ist, aber behalten wir unsere Füße auf dem Boden. Bhelliom bewegt sich durch eine gewaltige Leere. Falls die Delphae Bhelliom täuschen können, wäre es möglich, praktisch überall aus dieser Leere wieder aufzutauchen.«

»Was ist eine Ekloge?« wollte Talen wissen. Sie ritten am nächsten Morgen gen Osten – so hofften sie zumindest –, und Itagne setzte seinen Vortrag über die delphaeische Literatur fort.

»Eine Art primitives Drama«, erklärte er. »Meist geht es um die Begegnung zweier Hirten. Sie stehen herum und philosophieren in gräßlichen Versen.«

»Ich kenne einige Hirten«, warf Khalad ein, »und Philosophie war selten ihr Gesprächsthema. Sie haben sich viel mehr für Frauen interessiert.«

»Auch in Eklogen geht es um Frauen, aber so idealisiert, daß es kaum noch erkennbar ist.« Itagne zupfte nachdenklich an einem Ohrläppchen. »Diese Zurück-zur-Natur-Bewegung scheint eine Zivilisationskrankheit zu sein«, murmelte er. »Je zivilisierter die Menschen werden, desto romantischer erscheint ihnen das einfache, ländliche Leben. Die harte Plackerei und den Schmutz scheinen sie dabei völlig zu vergessen. So mancher schmelzige Poet wird ganz rührselig beim Gedanken an Schäfer – und Schäferinnen, natürlich.

Ohne Schäferinnen würde es nicht halb soviel Spaß machen. Die Edelleute verlieben sich in unregelmäßigen Abständen immer wieder in die ländliche Tradition und nehmen vieles auf sich, um ihre Vorstellung vom Leben auf dem Lande in die Tat umzusetzen. Kaiser Sarabians Vater ließ sogar unweit von Saranth eine sogenannte Schaffarm errichten. Er und sein Hof begaben sich im Sommer dort hin und verbrachten Monate damit, so zu tun, als würden sie Herden von schrecklich überfütterten Schafen hüten. Ihre ›einfachen‹ Kittel und Röcke waren aus Samt und Seide maßgeschneidert. Sie saßen mit schwärmerischer Miene herum, verfaßten grauenvolle Verse und achteten gar nicht darauf, daß ihre Schafe in alle Richtungen davonirrten.« Itagne lehnte sich in seinem Sattel zurück. »Solche Hirtengesänge schaden natürlich nicht. Sie sind nur albern und übertrieben gefühlsselig. Und die Dichter, die süchtig davon sind, neigen dazu, Moral in großen Portionen auszuteilen. Das war in der Literatur schon immer das Problem – eine Rechtfertigung dafür zu finden. Einem praktischen Zweck dient die Dichtkunst eigentlich nicht, wißt ihr.«

»Dennoch wäre ein Leben ohne Bücher öde und leer«, warf Bevier ein.

»Das stimmt, Ritter Bevier«, bestätigte Itagne. »Wie dem auch sei – die delphaeische Literatur, die wahrscheinlich überhaupt nichts mit den echten Delphae zu tun hat, entstand aus diesen lächerlichen literarischen Wurzeln. Doch nach einigen Jahrhunderten diesen Unsinns waren die Möglichkeiten der ländlichen Tradition so ziemlich erschöpft. Also begannen unsere Poeten herumzuirren – wie unbeaufsichtigte Schafe, wenn ich diese Redewendung auf sie ausdehnen darf. Irgendwann im vergangenen Jahrhundert gelangten sie zu der Ansicht, daß die Delphae eine nichtstyrische Art von Magie ausüben. Darüber erregten sich meine styrischen Kollegen an der Universität jedesmal ungemein.« Itagne blickte über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß Sephrenia, die auch jetzt mit Berit in der Nachhut ritt, außer Hörweite war. »Was viele an den Styrikern stört, ist diese schwammige Mischung aus Überheblichkeit und anklagendem Selbstmitleid. Will man an der Universität einen Styriker ärgern, braucht man in seiner Gegenwart lediglich ›delphaeische Magie‹ zu sagen, und schon geht er hoch wie ein Feuerwerkskörper.«

»Habt Ihr auch nur die geringste Erklärung für Sephrenias Reaktion auf die Delphae?« fragte Vanion mit besorgter Miene. »Ich habe noch nie erlebt, daß sie sich so benimmt.«

»Ich kenne die erhabene Sephrenia nicht so gut, Hochmeister Vanion. Doch ihr Aufbrausen, als ich das erste Mal delphaeische Literatur erwähnte, gibt mir zu denken. In Xadane gibt es einen kurzen Abschnitt, der darauf hindeutet, daß die Styriker während des Krieges, in dem die Cyrgai angeblich ausgerottet wurden, mit den Delphae verbündet waren. Offensichtlich berief sich dieser Vers auf eine sehr obskure Stelle in einem historischen Text aus dem siebten Jahrhundert. Darin wird ein Verrat erwähnt, doch nicht viel mehr. Als der Krieg gegen die Cyrgai begann, setzten die Styriker sich offenbar mit den Delphae in Verbindung und brachten sie durch ein Täuschungsmanöver dazu, die Cyrgai von Osten her anzugreifen. Sie versprachen Unterstützung, doch als die Cyrgai zum Gegenangriff ansetzten und die Delphae überrannten, konnten die Styriker sich nicht mehr an ihre Versprechen erinnern. Die Delphae wurden fast ausgerottet. Seither fühlen die Styriker sich ziemlich unbehaglich und suchen nach immer neuen Ausreden, um diesen hinterhältigen Vertrauensbruch vor sich selbst zu rechtfertigen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Styriker nirgendwo sehr beliebt sind und ihr Verrat die Ursache mancher bigotter Auswüchse ist. Verständlicherweise mögen Styriker diese Literatur nicht.« Er blickte sinnend über die öde Wüste. »Eine der unschönen Eigenschaften menschlichen Wesens ist die Neigung Menschen zu hassen, die man schlecht behandelt hat. Das ist viel einfacher, als sich seine Schuld einzugestehen. Wenn wir uns einreden können, daß die Menschen, die wir verraten oder versklavt haben, von vornherein nichtmenschliche Ungeheuer waren, ist unsere Schuld bei weitem nicht so schrecklich, wie wir insgeheim doch wissen. Menschen verstehen sich sehr gut darauf, die Schuld auf andere abzuwälzen. Wir möchten schließlich gern eine gute Meinung von uns selbst haben, nicht wahr?«

»Ich glaube, es gehört mehr dazu, Sephrenia so in Rage zu bringen«, meinte Vanion zweifelnd. »Sie ist viel zu vernünftig, um gleich aufzubrausen, nur weil jemand etwas Unschmeichelhaftes über Styriker sagt. Sie hat mehrere Jahrhunderte in den elenischen Königreichen von Eosien zugebracht, und dort gehen antistyrische Vorurteile weit über literarische Beleidigungen hinaus.« Er seufzte. »Wenn sie wenigstens mit mir darüber reden würde. Ich krieg' einfach nichts aus ihr heraus! Sie ergeht sich lediglich in heftigen Anschuldigungen. Ich verstehe es nicht!«

Sperber hatte eine ungefähre Ahnung, was geschah. Aphrael hatte angedeutet, daß Sephrenia etwas ungemein Schmerzliches durchstehen müsse, und für Sperber wurde immer offensichtlicher, daß die Delphae die Ursache dieses Schmerzes sein würden. Zudem hatte Aphrael gesagt, Sephrenias Leiden sei eine wesentliche Voraussetzung für die Entfaltung der in ihr schlummernden Anlagen. Itagne, der ja keinen von ihnen gut kannte, mochte da tatsächlich über etwas Bedeutsames gestolpert sein. Sephrenia war styrisch bis in die Fingerspitzen, und eine ethnisch begründete Schuld für eine Untat, die vor Äonen begangen worden war, würde genau die Art von Schmerz erzeugen, von der Aphrael so kummervoll gesprochen hatte. Doch Sephrenia würde nicht als einzige leiden. Vanion hatte gesagt, Sephrenias Probleme seien auch die seinen. Bedauerlicherweise traf das auch auf Sephrenias Schmerz zu.

Während sie weiter dahinritten, waren Sperbers Gedanken so trostlos wie die Umgebung.