9

Sperber und seine Gefährten verließen Cyron früh am nächsten Morgen und ritten ostwärts durch weite, goldene Felder reifenden Weizens. Die sanfthügelige Gegend fiel allmählich zu dem breiten Tal ab, in dem der Fluß Edek, direkt an der Grenze zwischen Edom und Cynesga, in die Pela mündete.

Sperber ritt an der Spitze, Flöte in seine Arme gekuschelt. Die Kleine war an diesem Morgen ungewöhnlich still. Nachdem sie gut zwei Stunden unterwegs waren, lehnte Sperber sich zur Seite und blickte sie an. Ihre Augen wirkten starr und leer, und ihr Gesicht war ausdruckslos. »Was ist?« fragte er.

»Nicht jetzt, Sperber!« wies sie ihn zurecht. »Ich bin beschäftigt.«

»Aphrael, wir sind gleich an der Grenze. Sollten wir nicht …?«

»Laß mich in Ruhe!« Mit einem ärgerlichen Laut drückte sie die Stirn an seine Brust.

»Was ist los, Sperber?« Sephrenia zügelte Ch'iel neben Faran.

»Aphrael redet nicht mit mir!«

Sephrenia beugte sich vor und blickte forschend in Flötes Gesicht. »Ah!« sagte sie.

»Ah, was?«

»Laßt sie jetzt in Ruhe, Sperber. Sie ist zur Zeit woanders.«

»Die Grenze ist direkt vor uns, Sephrenia! Können wir es uns wirklich leisten, einen halben Tag damit zu vergeuden, die Cynesganer zu überreden, daß sie uns in ihr Land lassen?«

»Sieht ganz so aus, als hätten wir keine Wahl. Kommt, gebt sie mir herüber.«

Sperber hob das halb bewußtlose kleine Mädchen zu Sephrenia hinüber und legte es ihr in die Arme. »Vielleicht kann ich uns auch ohne Aphraels Hilfe unbemerkt über die Grenze bringen. Ich weiß jetzt, wie man's macht.«

»Nein, Sperber! Ihr seid noch nicht soweit, es allein zu versuchen. Ihr dürft Euch auf keinen Fall auf irgendwelche möglicherweise gefährlichen Experimente einlassen. Wir müssen das Risiko an der Grenze eingehen. Es ist unmöglich zu sagen, wie lange Aphrael anderswo beschäftigt sein wird.«

»Es ist doch nichts Schlimmes? Oder befindet Ehlana sich etwa in Gefahr?«

»Ich weiß es nicht, und ich möchte Aphrael jetzt auch nicht stören, um sie zu fragen. Danae wird sich schon um ihre Mutter kümmern. Ihr werdet Euch auf sie verlassen müssen!«

»Es ist wirklich sehr schwierig, wißt Ihr. Wie lange braucht man, bis man sich daran gewöhnt hat, daß es drei von ihr gibt – und daß alle drei ein- und dieselbe sind?«

Sephrenia blickte Sperber etwas verwirrt an.

»Aphrael, Flöte und Danae sind eine Person, aber sie können gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein, oder sogar an drei – was weiß ich –, und zwei oder drei verschiedene Dinge tun.«

»Stimmt.«

»Verwundert Euch das denn kein bißchen?«

»Verwundert es Euch, daß euer elenischer Gott angeblich weiß, was jeder einzelne auf der Welt denkt? Und das gleichzeitig?«

»Hm – nein. Eigentlich nicht.«

»Wo ist dann der Unterschied?«

»Er ist Gott, Sephrenia!«

»Sie ist Göttin, Sperber!«

»Das dürfte nicht ganz das gleiche sein.«

»Ist es aber! Geht und sagt den anderen, daß wir beim Überqueren der Grenze auf uns allein gestellt sind.«

»Sie werden wissen wollen, wieso.«

»Dann lügt ihnen was vor. Gott wird Euch vergeben. Eine der Gottheiten jedenfalls.«

»Es ist einfach unmöglich, mit Euch zu reden, wenn Ihr so argumentiert!«

»Dann redet eben nicht mit mir. Zur Zeit ist es mir sowieso lieber, wenn Ihr es laßt!«

»Stimmt etwas nicht?«

»Es war ein gewaltiger Schock für mich, als Ihr die Wolke aufgelöst habt und sie auf styrisch zu fluchen begann.«

»Das ist mir nicht entgangen.« Sperber verzog das Gesicht. »Wie könnte es jemandem entgangen sein? Ich nehme an, daß es eine besondere Bedeutung hat, oder?«

»In welcher Sprache flucht Ihr, wenn Ihr euch die Zehe stoßt?«

»Elenisch, natürlich.«

»Eben. Es ist Eure Muttersprache. Läßt das nicht darauf schließen, daß Styrisch die Muttersprache desjenigen ist, der hinter diesem Schatten steckt?«

»Daran hatte ich gar nicht gedacht! Ihr habt gewiß recht.«

»Und genau das macht mir zu schaffen, Sperber – sehr sogar. Es deutet auf Dinge hin, mit denen ich mich nicht so leicht abfinden kann.«

»Zum Beispiel?«

»Daß ein Styriker mit unserem Feind zusammenarbeitet, und zwar einer mit gewaltigen Kräften. Dieser Schatten ist das Ergebnis eines sehr komplizierten Zaubers. Ich bezweifle, daß es mehr als acht bis zehn Personen in ganz Styrikum gibt, die das fertigbrächten. Und ich kenne jede einzelne von ihnen. Sie sind meine Freunde. Es schmerzt, sie verdächtigen zu müssen. Und jetzt geht, stört jemand anderen und überlaßt mich meinen Gedanken.«

Sperber zügelte Faran und wartete auf die anderen, um mit ihnen zu reden. »Es gibt eine kleine Änderung in unseren Plänen. Aphrael ist zur Zeit anderswo beschäftigt. Das bedeutet, daß wir die Grenze nicht unbemerkt überqueren können.«

»Was macht sie denn?« erkundigte sich Bevier.

»Glaub mir, Bevier, das willst du gar nicht wissen. Gerade du nicht.«

»Arbeitet sie wieder an einem dieser Gottesdinge?« fragte Talen.

»Talen!« wies Bevier ihn zurecht. »Das heißt Wunder, nicht Gottesdinge.«

Talen schnippte mit den Fingern. »Das war das Wort, das mir einfach nicht eingefallen ist.«

Vanion runzelte die Stirn. »Grenzüberquerungen sind immer zeitraubend. Und die Cynesganer sind berüchtigt, daß sie sich sehr viel Zeit mit den Formalitäten lassen. Es dauert manchmal tagelang, bis sie mit einem Bestechungsgeschenk zufriedengestellt sind.«

»Dafür gibt es Streitäxte, Hochmeister Vanion!« grollte Ulath. »Wir benutzen sie, um allerlei Ungelegenes aus dem Weg zu räumen – Unterholz, Bäume, lästige Beamte und dergleichen.«

»Auf internationale Verwicklungen sollten wir lieber verzichten, Ritter Ulath«, warnte Vanion. »Aber wir könnten die Dinge vielleicht ein wenig beschleunigen. Ich habe einen von Kaiser Sarabian höchstpersönlich unterzeichneten Paß. Möglicherweise hat er soviel Gewicht, daß man uns die Grenze ohne längere Verzögerung überschreiten läßt.«

Die Grenze zwischen Edom und Cynesga wurde durch die Pela gebildet, und am anderen Ende der festen Brücke über diesen Fluß erhob sich ein großes massives Blockhaus mit einer Pferdeweide dahinter.

Vanion führte die Gefährten über die Brücke bis zur Schranke auf der cynesganischen Seite, wo eine Schar Bewaffneter in eigentümlichen, wallenden Gewändern wartete.

Der kaiserliche Paß, den Vanion den Grenzwachen vorwies, verschaffte ihnen keinen sofortigen Durchgang, sondern komplizierte die Angelegenheit. »Woher soll ich wissen, daß das wirklich die Unterschrift Seiner Majestät ist?« fragte der cynesganische Hauptmann mißtrauisch. Er war ein dunkelhäutiger Mann in einem losen, schwarzweiß gestreiften Gewand und einem langen, kunstvoll um den Kopf gewickelten Stoffstreifen. Sein Tamulisch besaß einen starken Akzent.

»Was der Sache wohl näher kommt, Nachbar – wie wollt Ihr wissen, daß es nicht seine Unterschrift ist?« fragte Sperber auf tamulisch. »Die Ataner können sehr unfreundlich sein gegenüber Personen, die direkte Befehle des Kaisers mißachten.«

»Des Kaisers Unterschrift zu fälschen wird mit dem Tode bestraft!« sagte der Hauptmann drohend.

»Das habe ich gehört«, erwiderte Vanion. »Aber das gilt auch für Personen, die seine Befehle mißachten. Ich würde sagen, einer von uns ist in Schwierigkeiten.«

»Meine Männer müssen euer Gepäck nach Schmuggelgut durchsuchen!« sagte der Hauptmann von oben herab. »Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, während sie ihre Befehle ausführen.«

»Tut das«, sagte Sperber schroff. »Und denkt daran, daß eine falsche Entscheidung schlimme Folgen für Eure Laufbahn haben kann!«

»Wie meint Ihr das?«

»Ein Mann ohne Kopf wird selten befördert.«

»Ich habe nichts zu befürchten. Ich befolge strikt die Anweisungen meiner Regierung.«

»Und die Ataner, die Euch den Kopf abhacken werden, befolgen strikt die Anweisungen der ihren. Ich bin sicher, jeden Betroffenen wird es dann sehr beruhigen, daß alles genau nach Vorschrift verlief.« Sperber drehte dem übereifrigen Hauptmann den Rücken zu und kehrte mit Vanion zu den Gefährten zurück.

»Nun?« fragte Sephrenia.

»Des Kaisers Stimme wird in Cynesga offenbar nicht sehr laut vernommen«, erwiderte Vanion. »Unser Freund in der wallenden Robe hat ein ganzes Buch voller Vorschriften und wird sich jeder einzelnen bedienen, uns so lange wie möglich aufzuhalten.«

»Habt Ihr denn nicht versucht, ihn zu bestechen?« fragte Ulath.

»Ich habe eine entsprechende Andeutung gemacht«, Vanion zuckte die Schultern. »Aber er schien sie zu überhören.«

»Also, das ist ungewöhnlich«, bemerkte Kalten. »An Bestechung denkt ein Beamter immer zuerst, egal, wo auf der Welt. Das könnte darauf schließen lassen, daß dieser Hauptmann uns hinzuhalten versucht, bis Verstärkung eintrifft, meint Ihr nicht?«

»Und die ist wahrscheinlich schon unterwegs«, warf Ulath ein. »Wir sollten etwas unternehmen.«

»Das sind bloße Vermutungen, meine Herren!« rügte Sephrenia. »Es juckt euch doch nur, mit diesen Grenzwachen elenische Dinge zu tun.«

»Wolltest du die Leute hier mit elenischen Dingen überraschen, Ulath?« erkundigte sich Kalten.

»Ich habe wirkungsvollen Elenismus vorgeschlagen, ehe wir überhaupt hier waren.«

»Wir spielen nicht aus schierem Blutdurst mit dem Gedanken, kleine Mutter«, versicherte Vanion der Frau, die er liebte.

»Ach nein?«

»Noch können wir die Lage in den Griff bekommen. Aber wenn erst tausend Cynesganer aus der nächsten Garnison angeritten kommen, wird's ein bißchen problematisch.«

»Aber…«

Vanion hob eine Hand. »Kein Aber, Sephrenia. Meine Entscheidung gilt. Na ja, eigentlich Sperbers Entscheidung, da ja er jetzt Hochmeister ist.«

»Interimshochmeister!« verbesserte Sperber.

Vanion mochte es gar nicht, wenn man ihn korrigierte. »Möchtet Ihr das hier übernehmen?«

»Nein. Ihr macht es schon richtig.«

»Würdet Ihr dann den Mund halten? Es ist eine militärische Entscheidung. Deshalb müssen wir dich, Sephrenia, respektvollst bitten, dein hübsches Näschen da herauszuhalten!«

Sie sagte ein sehr barsches Wort auf styrisch.

»Ich liebe dich auch«, versicherte Vanion ihr schmeichelnd. »Also gut, meine Herren, wandern wir unauffällig zu unseren Pferden hinüber. Und dann tun wir einige der von Ulath erwähnten elenischen Dinge mit den Männern, die unsere Sattelbeutel durchstöbern. Anschließend jagen wir sämtliche Pferde von der Weide und machen uns wieder auf den Weg.«

Etwa zwanzig Grenzwachen unterstanden dem Befehl des Offiziers. Ihre Hauptwaffe war offensichtlich der Speer, obwohl auch Krummsäbel von ihren Gürteln hingen, die sie über altertümlichen Rüstungen trugen.

»Entschuldigt mich einen Moment, mein Bester«, sagte Ulath freundlich zu dem Burschen, der seine Sattelbeutel durchwühlte. »Ich brauche für ein paar Minuten mein Werkzeug.« Er griff nach der Streitaxt, die vom Sattelknauf hing.

»Warum das?« fragte der Cynesganer argwöhnisch in gebrochenem Tamulisch.

»Mir ist da was im Weg.« Ulath lächelte. »Ich will es beseitigen.« Er hob die Axt vom Sattelknauf und prüfte die Schärfe ihrer Schneide mit dem Daumen. Dann schlug er den Grenzwächter mit einem Hieb nieder.

Der Kampf bei den Pferden war kurz und das Ergebnis vorhersehbar. Grenzwachen als Truppe zählen nicht gerade zu den besten Kriegern der Welt.

»Was tust du da?« brüllte Sperber Talen an, der soeben seinen Degen aus der Leiche eines Cynesganers zog.

»Stragen hat mir Unterricht erteilt«, erwiderte Talen. »Ich wollte feststellen, ob er wirklich was von Fechtkunst versteht. – Vorsicht!«

Sperber wirbelte herum, schlug den Speer eines angreifenden Grenzwächters zur Seite und hieb den Mann nieder. Er wandte sich wieder Talen zu, als der Junge gerade geschickt den Hieb eines Gegners parierte und dessen Krummsäbel zur Seite schlug. Dann stieß er geschmeidig vor, und sein Degen durchbohrte den erstaunten Cynesganer. »Gut gemacht, findet Ihr nicht?« Er grinste stolz.

»Hör auf, dich vor uns in Szene zu setzen – und brauch nicht so lange, dich nach dem Stich wieder zu fangen. Mit deinem überflüssigen Getue gibst du dir nur eine Blöße.«

»Jawohl, hochverehrter Lehrmeister.«

Das bißchen Bedenken, das es bezüglich des Kampfausgangs gegeben haben mochte, schwand, sobald die Gefährten im Sattel saßen. Der Zwischenfall endete abrupt, als das Kreischen: »Ihr seid unter Arrest!« des aufgeblasenen Hauptmanns verstummte, weil Ritter Bevier kühl seine Lochaberaxt geschwungen und dem Kopf des Hauptmanns das Fliegen gelehrt hatte.

»Legt eure Waffen nieder!« forderte Ulath die wenigen Überlebenden auf. »Ergebt euch oder sterbt!«

Zwei Wachen hatten jedoch ihre Pferde erreicht. Sie plagten sich in die Sättel und galoppierten nach Osten. Einer erstarrte und stürzte nach etwa fünfzig Metern vom Pferd, mit Berits Pfeil im Rücken. Der andere kam ein Stückchen weiter; dann aber fiel auch er nach dem melodischen Sirren von Khalads Armbrust.

»Guter Schuß«, lobte Berit.

»Es geht«, entgegnete Khalad bescheiden.

Die überlebenden Grenzwächter warfen ihre Waffen von sich.

»Ihr habt einen guten Kampf geführt, Sperber«, lobte Vanion seinen Freund.

»Ich hatte einen guten Lehrmeister. – Kalten, fessle die Burschen, und dann verjag ihre Pferde.«

»Warum ich?«

»Weil du gerade zur Stelle bist. Außerdem ist da noch die andere Sache.«

»Ich habe meinen Schwur nicht gebrochen!« protestierte Kalten.

»Nein, aber du hattest es vor!«

»Um was geht's?« wollte Vanion wissen.

»Um eine Dame, Eminenz«, erwiderte Sperber mit gespielter Herablassung. »Und Herren sprechen nicht über so etwas.«

»Was machst du?« fragte Aphrael scharf. Sie hatte den Kopf von Sephrenias Schulter gehoben und blickte Sperber mißtrauisch an. »Es gab einige Unannehmlichkeiten an der Grenze. Wahrscheinlich folgt man uns – verfolgt uns, um genauer zu sein.«

»Kann ich dich denn nicht eine Minute allein lassen, Vater?«

»Es war mehr oder weniger unvermeidlich. Bist du fertig, was immer du getan hast?«

»Für den Augenblick, ja.«

»Edek liegt unmittelbar vor uns, und hinter uns haben wir wahrscheinlich ein ganzes Bataillon cynesganischer Soldaten. Meinst du, du kannst uns ein Stück weiterbringen?«

»Warum hast du das nicht längst schon selbst getan? Du weißt doch, wie man's macht!«

»Sephrenia hat es nicht zugelassen.«

»In kritischen Augenblicken schweift seine Aufmerksamkeit manchmal ab«, erklärte Sephrenia. »Ich wollte nicht, daß er uns auf den Mond verfrachtet.«

»Ich weiß, was du meinst«, versicherte ihr das kleine Mädchen. »Wie wär's, wenn wir direkt nach Cynestra springen, Sperber? Zwischen hier und dort liegt nichts als Wüste.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Sperber nachdenklich. »Sie hatten uns an der Grenze erwartet. Es sieht ganz so aus, als hätte unser Freund da draußen alles und jedes in Alarmbereitschaft versetzt, das an unserem Weg liegt. Bestimmt gibt es in Cynestra eine große Garnison, und ich möchte mich dort erst gründlich mit der Situation vertraut machen, bevor ich möglicherweise irgendwo einen Fehler begehe.«

»Ich würde sagen, das leuchtet ein.«

»Wie geht es deiner Mutter?«

»Sie hat riesigen Spaß. Die politische Lage in Matherion ist momentan ziemlich undurchschaubar. Und du weißt ja, wie sehr Mutter Politik liebt.«

»Ich freue mich, daß sie glücklich ist. Du mußt uns alles genau erzählen. Aber zuerst wollen wir Edek und unsere Verfolger hinter uns lassen. Ich mag es gar nicht, wenn jemand so dicht hinter mir ist, daß er nach meinen Fersen schnappen kann.«

»Sag den anderen, sie sollen anhalten, und hol Vanions Karte. Ich will sichergehen, daß wir diesmal am richtigen Ort ankommen.«

»Daran werde ich mich nie gewöhnen!« sagte Kalten schaudernd, nachdem sie hundertfünfzig Meilen Wüste in einem einzigen, verschwommenen Augenblick hinter sich gebracht hatten.

»Eure Karte ist nicht besonders genau, Vanion«, kritisierte Aphrael. »Wir wollten eigentlich zu einem Punkt auf der anderen Seite dieser Felsen.« Sie zeigte auf eine zerklüftete Felsspitze, die hoch aus der Wüste aufragte.

»Ich habe die Karte nicht gezeichnet!« sagte Vanion in entschuldigendem Tonfall. »Sind wir etwa nicht nahe genug? Wir sind bestimmt nur wenige Meilen von dem Punkt entfernt, zu dem wir ursprünglich wollten. Also spielt es keine große Rolle.«

»Ihr hättet schon festgestellt, welche Rolle es spielt, wenn wir ein großes Gewässer entlangreiten müßten«, sagte sie ätzend. »Es ist zu ungenau!«

Vanion blickte über die Schulter nach Westen. »Es ist schon fast Sonnenuntergang. Wie wär's, wenn wir diese Straße jetzt verlassen und einen Lagerplatz für die Nacht suchen, um uns dann in Ruhe über dieses Problem zu unterhalten?«

Sperber lächelte. Trotz Vanions ständiger Einwände, daß er nicht mehr der Hochmeister der Pandioner sei, ergriff er ungefragt die Führung, es sei denn, ihm fielen plötzlich seine neuen Lebensumstände ein. Sperber störte es nicht besonders. Er war es gewöhnt, Befehle von Vanion entgegenzunehmen, und daß sein Freund das Kommando an sich riß, ersparte ihm die lästigen Einzelheiten, die dabei unvermeidlich waren.

Sie ritten etwa zwei Meilen in die Wüste und schlugen ihr Lager in einer kleinen Mulde hinter hoch aufragenden, verwitterten Felsblöcken auf.

Im Unterschied zur rendorischen Wüste, die zum größten Teil eine Sandfläche war, schien die cynesganische aus rostigem braunen und sonnengebackenen Kieselgeröll zu bestehen, in dem keine Spur von Leben zu entdecken war. Die Dünen Rendors verliehen der Wüste wenigstens den Anschein steter Veränderung, die cynesganische Wüste aber war völlig tot. Kahle Felsen schienen nach dem Himmel zu krallen, und die schier endlose Leere aus Kiesel und Fels wurde nur von flachen, weißgebleichten Alkalifeldern unterbrochen.

Ulath schaute sich um. »Häßlicher Ort«, brummte er. Er war an Bäume und schneebedeckte Gipfel gewöhnt.

»Schade, daß du so darüber denkst.« Kalten grinste. »Ich hatte eigentlich vor, ihn dir zu verkaufen.«

»Ich würde ihn nicht geschenkt nehmen!«

»Bedenk doch seine gute Seite. Es regnet hier nur äußerst selten.«

»Ich glaube, das ist Teil des Problems.«

»Aber es dürfte hier eine Menge jagdbares Wild geben.«

»Wirklich? Zu sehen ist aber nichts.«

»Doch. Schlangen, Eidechsen, Skorpione und dergleichen.«

»Hast du Geschmack an gebackenen Skorpionen gefunden?«

»Äh – nein, eigentlich nicht.«

»Dann würde ich auch keine Pfeile an sie vergeuden.«

»Da wir gerade vom Essen reden…«

»Tun wir das?«

»Es ist ein Thema, das von Zeit zu Zeit zur Sprache kommen muß. Hast du eine Ahnung, wie man mit Steinen Feuer macht?«

»Nein. Im Moment wüßte ich es wirklich nicht.«

»Dann melde ich mich freiwillig, heute das Abendessen zu bereiten. Ich habe hier in der Gegend weder Reisig noch irgendwelche Zweige, ja, nicht mal trockenes Laub gesehen, also können wir auch kein Feuer machen. Aber etwas Kaltes zum Essen hat noch nieman dem geschadet.«

»Feuer brauchen wir nicht unbedingt«, erklärte Vanion. »Wohl aber Wasser für die Pferde.«

»Aphrael und ich kümmern uns darum, Liebster«, versicherte Sephrenia ihm.

»Gut. Ich glaube, wir werden etwa einen Tag hierbleiben. Sperber und Aphrael werden mit Bhelliom an unserem kleinen Problem der genauen Ortsbestimmung arbeiten.« Er blickte die Kindgöttin fragend an. »Werdet ihr sehr lange brauchen?«

»Schwer zu sagen, Vanion. Wenn ich es tue, kann ich mich nach der Umgebung richten. Ich weiß also, wo ich bin, egal, wie schnell ich mich bewege. Bhelliom aber springt ohne Zeitverlust und irgendwelche Bezugspunkte von einem Ort zum anderen. Das ist ein völlig anderer Verlauf einer solchen Reise. Entweder müssen Sperber und ich lernen, wie Bhellioms Methode funktioniert, oder wir müssen Bhelliom beibringen, unsere Vorgehensweise zu verstehen.«

»Was ist einfacher?« fragte Kalten.

»Das weiß ich nicht. Es ist möglich, daß es keinen großen Unterschied gibt – daß beide Methoden sehr, sehr schwierig sind.« Sie blickte Vanion an. »Sind wir hier jetzt einigermaßen sicher?«

Vanion kratzte sich unter dem kurzen silbergrauen Bart. »Niemand rechnet damit, daß wir hier sind. Natürlich könnte jemand durch Zufall über uns stolpern, aber eine geplante Suche dürfte unwahrscheinlich sein. Sie wissen nicht, wo wir sind, und die Ringe sind abgeschirmt; also kann unser Freund da draußen sie nicht orten. Ich würde sagen, wir sind hier sicher.«

»Gut, das verschafft uns ein wenig Zeit. Nutzen wir sie, ein ungetrübteres Verhältnis zwischen Sperber und Bhelliom herzustellen. Momentan tut sich nichts so Wichtiges, daß einige Patzer und Fehlstarts Schaden anrichten würden. Später dagegen könnten Pannen zur Katastrophe führen.«

Sephrenia sagte am nächsten Morgen nicht, woher sie das Wasser hatte; jedenfalls war es eiskalt und schmeckte nach Schmelzwasser. Es glitzerte einladend in seinem schattigen kleinen Teich hinter einem rostfarbenen Felsblock und trug schon dadurch beachtlich zur allgemeinen Entspannung bei. Die größte Sorge von Wüstenwanderern gilt für gewöhnlich dem Wasser.

Flöte führte Sperber, Khalad und Talen ein ziemliches Stück hinaus auf eine weite Kiesfläche, um mit der Unterweisung zu beginnen.

»Hier wird's bald ziemlich heiß werden!« sagte Talen unwillig.

»Wahrscheinlich«, bestätigte das kleine Mädchen.

»Warum mußten Khalad und ich mitkommen?«

»Vanion braucht die Ritter in seiner Nähe, falls jemand zufällig über unser Lager stolpert.«

»Du hast mich nicht richtig verstanden. Warum wollt ihr zwei überhaupt noch jemanden dabei haben?«

»Sperber braucht Männer und Pferde, die er transportieren kann. Es sind ja keine Mehlsäcke, die er von einem Ort zum anderen befördert.« Sie blickte auf Vanions Karte. »Wollen mal sehen, ob Bhelliom uns zu dieser Oase hier oben bringen kann, Sperber.« Sie deutete auf eine Markierung auf der Karte.

»Wie sieht sie aus?« fragte er.

»Woher soll ich das wissen? Ich war noch nie dort.«

»Du willst, daß ich nur mit einem Namen arbeite, Aphrael? Laß uns die Methode anwenden wie damals, als wir von Jorsan nach Korvan gesprungen sind – und zu all den anderen Orten, hin und her, um die andere Seite zu verwirren. Du sagst Bhelliom, wohin wir wollen, und dann befehle ich ihm, mit uns dorthin zu springen.«

»Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, daß ich immer bei euch sein kann, Sperber. Manchmal habe ich auch anderswo Dringendes zu tun. Deshalb versuche ich ja, dich und Bhelliom zur Zusammenarbeit auszubilden – ohne meine Anweisung!«

»Nur ein Name ist nicht viel, um sich danach zu richten.«

»Bestimmt gibt's dort Bäume, Sperber«, warf Khalad ein. »Eine Oase ist eine Art Teich. Und überall, wo es Wasser gibt, wachsen Bäume.«

»Und wahrscheinlich gibt's dort auch Häuser«, fügte Talen hinzu.

»Häuser sind fast schon ein Muß, da Wasser hier in Cynesga so rar ist.«

»Laß mich die Karte sehen«, bat Sperber. Er studierte sie geraume Zeit sorgfältig. »Also gut«, sagte er schließlich. »Versuchen wir's. Dann sehen wir ja, was geschieht.« Er hob den Deckel von seinem Ring und drückte den Reif an die Schatulle. »Öffne dich!« befahl er. Dann steckte er den anderen Ring an den Finger und nahm Bhelliom heraus. »Ich bin's wieder«, sagte er zu dem Edelstein.

»Oh, das ist verrückt, Sperber!« rügte Flöte.

»Förmliche Begrüßungen dauern zu lange«, entgegnete er. »Ich könnte es schließlich mal sehr eilig haben.« Sorgfältig stellte er sich eine Oase vor – einen Teich, von einem artesischen Brunnen gespeist, mit Palmen rundum und weißen Häusern mit flachen Dächern. »Bring uns dorthin, Blaurose«, befahl er.

Die Luft wabberte, verschwamm und wurde grau. Dann klärte sich das Bild abrupt, und die Oase lag vor ihnen, genau, wie Sperber sie sich vorgestellt hatte.

»Siehst du, Sperber?« sagte Aphrael selbstgefällig. »Das war doch gar nicht schwer, oder?«

»Talen«, forderte Khalad seinen Bruder auf. »Wie wär's, wenn du zu einem der Häuser reitest und dich nach dem Namen dieser Oase erkundigst?«

»Es ist Zhubay, Khalad«, versicherte Flöte ihm. »Dorthin wollten wir, also sind wir auch da.«

»Es macht dir doch bestimmt nichts aus, wenn wir uns auf jeden Fall mal vergewissern, oder?«

Sie bedachte ihn lediglich mit einem höchst ungnädigen Blick.

Talen ritt zu den paar Häusern und kehrte wenige Minuten später zurück. »Schauen wir auf die Karte«, sagte er zu Khalad.

»Warum?« fragte Flöte. »Wir sind in Zhubay, nahe der atanischen Grenze.«

»Nein, Göttin«, widersprach der Junge und studierte mehrere Minuten die Karte. »Ah! Hier ist es!« Er zeigte mit dem Finger auf die Karte. »Hier sind wir – Vigayo, beinahe an der Südgrenze zwischen Cynesga und Arjuna. Ihr habt das Ziel um neunhundert Meilen verfehlt, Sperber. Ihr solltet noch ein wenig an Eurer Zielsicherheit arbeiten.«

»Woran hast du nur gedacht?« fragte Aphrael verärgert.

»So ziemlich an das, was Khalad ausgemalt hat – Bäume, ein Teich, weiße Häuser. Und genau das haben wir vor uns!«

»Was jetzt?« fragte Talen. »Kehren wir dorthin zurück, wo wir angefangen haben, und versuchen es noch einmal?«

Aphrael schüttelte den Kopf. »Bhelliom und die Ringe sind nicht abgeschirmt. Wir dürfen Sephrenia, Vanion und die anderen nicht in Gefahr bringen, indem wir zu oft dorthin zurückkehren. Laß mich hinunter, Sperber. Ich möchte nachdenken.«

Er stellte Aphrael auf den Boden, und sie schlenderte zum Rand der Oase, wo sie eine Zeitlang Steinchen ins Wasser warf. Sie war immer noch sehr nachdenklich, als sie zurückkehrte. Sperber hob sie wieder auf die Arme. »Und?« fragte er.

»Bring uns nach Zhubay, Sperber«, sagte sie, und diesmal klang ihre Stimme entschlossen.

»Laß mich die Karte noch einmal sehen, Khalad.«

»Nein!« wandte Aphrael ein. »Laß die Karte. Befiehl Bhelliom einfach, uns nach Zhubay zu bringen.«

»Genau!« Khalad schnippte mit den Fingern. »Warum haben wir nicht gleich daran gedacht?«

»Woran?« fragte Sperber verwundert.

»Versucht es.« Khalad grinste. »Ich glaube, Ihr werdet überrascht sein.«

»Wenn wir auf dem Mond landen, könnt ihr zwei euch auf etwas gefaßt machen!« drohte Sperber.

»Versuch es einfach, Sperber«, forderte Flöte ihn auf.

»Blaurose, bring uns nach Zhubay!« Es klang sehr skeptisch.

Wieder verschwamm alles um sie, und als die Luft wieder klar war, saßen sie auf ihren Pferden neben einer anderen Oase. Es gab einige unverkennbare Unterschiede zwischen dieser und der vorherigen Wüsteninsel.

»Es ist wahrscheinlich nicht nötig«, sagte Khalad zu seinem Bruder, »aber frag sicherheitshalber, wo wir sind.«

Talen ritt um die Oase herum und sprach mit einer alten Frau, die eben aus einem der Häuser getreten war. Grinsend kehrte er zurück. »Es ist Zhubay!«

»Wie hat Bhelliom diesen Ort gefunden, wenn er sich nur nach dem Namen richten konnte?« fragte Sperber heftig. »Vermutlich hatte er nicht einmal den Namen je zuvor gehört!«

»Aber die Leute, die hier wohnen, kennen ihn.« Khalad zuckte die Schultern. »Der Name Zhubay ist gewissermaßen ein Bestandteil ihrer Gedankengänge. Mehr hat Bhelliom nicht gebraucht, um den Ort zu finden. – So in etwa funktioniert es doch, nicht wahr, Flöte?«

»Genau so funktioniert es. Sperber braucht nichts weiter zu tun, als den Namen des Ortes zu sagen, zu dem er will. Bhelliom findet ihn und bringt uns dorthin.«

»Bist du sicher?« Talen hatte noch immer seine Zweifel. »Es erscheint mir zu einfach!«

»Es gibt eine Möglichkeit, genaueres herauszufinden. Bring uns nach Ahkan, Sperber.«

»Wo liegt das? In welchem Land, meine ich?«

»Ich glaube, daß brauchst du nicht zu wissen. Bring uns einfach dorthin!«

Ahkan erwies sich als ein Städtchen im Gebirge – irgendeinem Gebirge. Es war von dunkelgrünen Kiefern umgeben, und die nahen Berggipfel trugen Schneehauben.

»Es geht immer besser!« rief Flöte glücklich.

»Wo sind wir?« Talen schaute sich interessiert um. »Also, in Cynesga sind wir hier bestimmt nicht. Aber wo?«

»Ist das so wichtig?« Flöte zuckte die Schultern. »Auf nach Torrelta, Sperber.«

In Torrelta schneite es. Der Wind pfiff von einer bleigrauen See und peitschte einen Schneesturm vor sich her. Die offenbar aus grob behauenen Baumstämmen erbauten Häuser waren in dem wirbelnden Schnee kaum zu erkennen.

»Es gibt keine Grenzen!« jubelte Flöte. »Wir können überall hin!«

»Na gut«, sagte Sperber. »Und nach welchem Irgendwo sind wir hier gekommen?«

»Das spielt doch gar keine Rolle! Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück!«

»Aber gern«, erwiderte Sperber freundlich. »Sobald du mir gesagt hast, wo wir hier sind.«

»Mir wird kalt, Sperber. Für einen Schneesturm bin ich nicht richtig angezogen!«

»In Cynesga ist es sonnig und warm, und dorthin kehren wir zurück – sobald du mir gesagt hast, wo wir sind.«

Sie stieß ein sehr unanständiges Wort aus. »Torrelta befindet sich an der Nordküste von Astel, Sperber. Hier ist schon fast Winter.«

In gespieltem Erstaunen blickte er sich um. »Ich glaube, du hast tatsächlich recht. Das ist ja nicht zu fassen!« Er stellte sich die kiesige Fläche vor, wo sie am vergangenen Abend ihr Lager aufgeschlagen hatten. Kurz suchte er nach einem Namen, als ihm bewußt wurde, welchen Fehler er gemacht hatte, als sie vom Lager aufgebrochen waren.

»Halte die Schatulle offen, Khalad«, wies Sperber seinen Gefährten an. »Ich werde Bhelliom und Ehlanas Ring hineinlegen, sobald wir ankommen.« Wieder stellte er sich das Lager vor. »Bring uns dorthin, Blaurose!« befahl er.

»Wo seid ihr gewesen?« fragte Sephrenia scharf. Sie und Vanion waren auf die Kiesebene hinausgeritten, um nach Sperber und den anderen Ausschau zu halten.

»Ach, wißt ihr«, sagte Talen ausweichend, während er sich den Schnee von den Schulter streifte. »Mal da, mal dort.«

»Gehe ich fehl in der Annahme, daß einer dieser Orte ziemlich weit entfernt war?« Vanion blickte auf den Schnee, der immer noch an den Reisenden klebte.

»Es ist wirklich erstaunlich, Sephrenia!« rief Flöte glücklich. »Und so einfach!«

Khalad schloß die Schatulle und reichte sie Sperber, der den Deckel über den Rubin seines Ringes klappte und die Schatulle unter seinen Kittel schob. »Wir haben allerdings anfangs einen falschen Sprung gemacht«, gestand er.

»Wie funktioniert es denn?« erkundigte Vanion sich gespannt.

»Wir überlassen alles Bhelliom.« Sperber zuckte die Schultern. »Wir haben gar keine andere Wahl! Es geht nur schief, wenn wir zu helfen versuchen.«

»Könnt ihr nicht ein bißchen genauer sein?« fragte Sephrenia.

»Sperber sieht es ziemlich richtig«, antwortete Flöte. »Er braucht Bhelliom bloß einen Namen zu nennen – den Namen irgendeines Ortes. Bhelliom findet diesen Ort, und dann bringt er uns dorthin.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles, teure Schwester. Auf diese Weise wird es nicht einmal Sperber gelingen, Fehler zu machen.«