12

Kring blickte nachdenklich über den Rasen. »Ich war auf der Stelle verrückt nach ihr, Atan Engessa«, gestand er seinem Freund, der ihn wie einen Turm überragte. »Von dem Augenblick an, da ich sie zum erstenmal sah, konnte ich kaum noch an etwas anderes denken.« Die beiden standen im Gebäudeschatten des Innenministeriums.

»Ihr seid ein Glückspilz, Freund Kring.« Engessas Stimme war tief und sanft. »Bei den wenigsten Menschen ist das Leben mit einer solchen Liebe gesegnet.«

Kring lächelte ein wenig schief. »Ich bin sicher, mein Leben wäre ohne sie viel einfacher.«

»Bedauert Ihr es?«

»Nicht einen Augenblick! Ich war der festen Überzeugung, ich hätte ein erfülltes Leben. Schließlich war ich der Domi meines Volkes. Ich war sicher, meine Mutter würde eine passende Frau für mich finden, wenn die Zeit dafür gekommen war – so, wie es bei uns Sitte ist. Ich hätte geheiratet und Söhne gezeugt. Damit wäre ich meinen Verpflichtungen nachgekommen. Doch dann sah ich Mirtai und erkannte, wie leer mein Leben gewesen war.« Er fuhr sich über den barbierten Kopf. »Ich fürchte, mein Volk wird große Schwierigkeiten mit ihr haben. Wäre ich nicht der Domi, wäre die ganze Sache kein allzu großes Problem.«

»Wärt Ihr nicht der Domi, hätte Mirtai Euren Antrag vielleicht nicht angenommen, Freund Kring. Sie ist eine stolze Frau. Es war ihre Bestimmung, die Gemahlin eines Herrschers zu werden.«

»Ich weiß. Ich hätte auch nie gewagt, mich ihr zu nähern, wenn ich nicht Domi wäre. Aber es wird Probleme geben, das weiß ich jetzt schon. Mirtai ist eine Fremde und ganz und gar nicht wie die Frauen der Peloi. Rang und Ansehen sind für unsere Frauen sehr wichtig, und Mirtai ist von einer anderen Rasse. Sie ist größer als die größten Peloi, und sie ist schöner als alle Frauen, die ich je gesehen habe. Das allein würde schon genügen, die Herzen von Peloifrauen mit Neid zu erfüllen. Ihr habt gesehen, wie Tikumes Frau Vida sie angeschaut hat, nicht wahr?«

Engessa nickte.

»Die Frauen meines Volkes werden Mirtai noch mehr hassen. Sie wird Doma, die Frau des Domi, und damit die Erste unter den Frauen. Um die Sache noch zu komplizieren, wird sie eine der reichsten aller Peloi.«

»Wie das?«

»Ich habe es zu etwas gebracht. Meine Herden sind gewachsen, und ich habe fleißig geplündert. Mein ganzes Vermögen wird Mirtai gehören. Sie wird riesige Schaf- und Rinderherden ihr eigen nennen. Die Pferdeherden bleiben allerdings mein Besitz.«

»Ist das Sitte bei den Peloi?«

»O ja. Schafe und Rinder sind Nahrung: demzufolge gehören sie den Frauen, wie auch die Betten und Wagen. Das Gold, das wir vom König für zemochische Ohren bekommen, gehört allen gleichermaßen. So bleiben uns Männern der Peloi als einziges unsere Waffen und Pferde. Wenn man es recht bedenkt, gehört den Frauen alles, und wir Männer widmen unser Leben dem Schutz ihres Eigentums.«

»Das sind seltsame Sitten, Freund Kring.«

Kring zuckte die Schultern. »Ein Mann sollte seinen Kopf nicht mit Gedanken an Besitz belasten. Es lenkt ihn nur ab, wenn er kämpfen muß.«

»Eine Ansicht, der man kaum widersprechen kann, mein Freund. Wer kümmert sich um Euren Besitz, bis Ihr heiratet?«

»Meine Mutter. Sie ist eine vernünftige Frau, und eine Schwiegertochter wie Mirtai wird ihr Ansehen beträchtlich steigern. Die Peloifrauen geben einiges auf meiner Mutter Meinung. Ich hoffe, es gelingt ihr, die Dinge in den Griff zu bekommen – zumindest unter meinen Schwestern.« Er lachte, »Ich freue mich jetzt schon auf ihre Gesichter, wenn ich ihnen Mirtai vorstelle und sie ihr Ehrerbietung erweisen müssen. Ich mag meine Schwestern nicht besonders. Sie beten jede Nacht um meinen Tod.«

»Eure eigenen Schwestern?« fragte Engessa betroffen.

»Ja, sicher. Wenn ich sterbe, bevor ich verheiratet bin, geht mein gesamter Besitz auf meine Mutter über, und meine Schwestern werden alles erben. Sie betrachten sich jetzt schon als vermögende Frauen. In der fälschlichen Hoffnung, einmal alles zu erben und dann mit ihrem Reichtum zu protzen, haben sie bereits einige durchaus annehmbare Freier abgelehnt. Ich war bisher immer zu sehr damit beschäftigt, Krieg zu führen, als daß ich an eine Heirat gedacht hätte. Und mit jedem Jahr, das verging, fühlten meine Schwestern sich des Besitzes der Herden sicherer.« Er grinste. »Mirtais plötzliches Erscheinen wird sie aus der Fassung bringen, fürchte ich. Ein Brauch unseres Volkes gebietet, daß eine Braut vor der Hochzeit zwei Monate im Zelt der Mutter ihres Versprochenen verbringt, um alles zu lernen, was sie über ihn wissen muß. Während dieser Zeit werden meine Mutter und Mirtai auch Ehemänner für alle meine Schwestern auswählen; denn zu viele Frauen in einem Zelt – das kann nicht gutgehen. Und das wird meinen Schwestern den Rest geben. Vermutlich werden sie versuchen, Mirtai zu ermorden. Ich werde ihnen natürlich davon abraten«, fügte er salbungsvoll hinzu. »Schließlich bin ich ihr Bruder. Aber ich bin sicher, daß meine Schwestern nicht auf mich hören werden – zumindest nicht, ehe Mirtai ein paar von ihnen getötet hat. Aber ich habe sowieso zu viele Schwestern.«

»Wie viele?« wollte Engessa wissen.

»Acht. Ihr Rang wird sich erheblich ändern, wenn ich heirate. Bis jetzt betrachtet man sie allesamt als reiche Erbinnen. Nach meiner Hochzeit aber sind sie mittellose Jungfern und bei jedem Bissen von Mirtai abhängig. Ich glaube, dann werden sie bitter bereuen, daß sie ihren Freiern einen Korb gegeben haben. – Schleicht dort jemand durch die Schatten bei der Hauswand?«

Engessa blickte zum Gebäude des Innenministeriums. »Sieht ganz so aus! Fragen wir ihn, was er hier zu suchen hat. Es wäre keine gute Idee, irgend jemanden ins Haus zu lassen, solange Atana Mirtai und die Unterweltkönige noch dort zu tun haben.«

»Stimmt.« Kring zog seinen Säbel ein Stück aus der Scheide, und das ungleiche Paar schlich über den Rasen, um den huschenden Schatten nahe der Hauswand aufzuhalten.

Ehlana blickte von Sperbers Brief auf. »Wie weit ist es von hier nach Tega, Sarabian? Luftlinie, meine ich?«

Sarabian hatte sein Wams abgelegt und bot in seinem engen Beinkleid und dem Leinenhemd mit den bauschigen Ärmeln einen durchaus erfreulichen Anblick. Sein schulterlanges schwarzes Haar hatte er im Nacken zusammengebunden, und er übte Ausfälle mit seinem Rapier, indem er auf einen goldenen Armreif zielte, der an einem langen Strick von der Decke hing. »Ungefähr vierhundertfünfzig Meilen. Was meint Ihr, Oscagne?« sagte er, während er die engarde-Position einnahm. Wieder machte er einen Ausfall und traf den Rand des Armreifs, der sich daraufhin drehte und am Strick hin und her pendelte. »Verdammt!« murmelte er.

»Vielleicht eher fünfhundert Meilen, Majestät.«

»Könnte es dort wirklich regnen?« fragte Ehlana skeptisch. »Hier ist das Wetter herrlich. Fünfhundert Meilen, das ist doch nicht so weit weg! Doch Sperber schreibt, daß es auf Tega bereits die ganze Woche regnet.«

»Wer kann sich schon aufs Wetter verlassen?« Sarabian machte einen weiteren Ausfall und stieß seine Fechtwaffe diesmal gekonnt durch den Armreif.

»Guter Stoß«, lobte Ehlana, ohne recht bei der Sache zu sein.

»Danke, Majestät.« Sarabian verbeugte sich und schwenkte sein Rapier. »Das macht wirklich Spaß.« Er duckte sich melodramatisch.

»Nieder mit dir, du Hund!« Er machte einen neuerlichen Ausfall, diesmal aber verfehlte er den Armreif um eine Handbreit. »Verflixt!«

»Alean, Liebes«, wandte Ehlana sich an ihre Kammermaid. »Sei so nett und sieh nach, ob der Seemann, der diesen Brief gebracht hat, noch in der Burg ist.«

»Sofort, Majestät.«

Sarabian blickte seine Gastgeberin fragend an.

»Der Seemann, der eben von Tega gekommen ist. Ich möchte seine Meinung über das dortige Wetter hören.«

»Ihr glaubt doch nicht, daß Euer Gemahl Euch belügen würde, Majestät?« fragte Oscagne bestürzt.

»Warum denn nicht? Ich würde ihn belügen, wenn es einen triftigen politischen Grund dafür gäbe.«

»Ehlana!« Sarabian war schockiert. »Ich dachte, Ihr liebt Sperber!«

»Was, in aller Welt, hat das damit zu tun? Natürlich liebe ich ihn. Ich liebe ihn, seit ich etwa in Danaes Alter war. Aber Liebe und Politik sind zwei ganz verschiedene Dinge, die nie miteinander verquickt werden sollten. Sperber führt irgendwas im Schilde, Sarabian, und Euer ehrenwerter Außenminister weiß vermutlich, um was es geht.«

»Ich?« protestierte Oscagne.

»Ja, Ihr. Nixen, Oscagne? Nixen? Ihr habt doch nicht ernsthaft erwartet, daß ich diese Mär glaube? Wirklich, Ihr habt mich ein bißchen enttäuscht. Ist Euch tatsächlich nichts besseres eingefallen?«

»Ich war ein wenig in Zeitnot, Majestät«, entschuldigte er sich verlegen. »Prinz Sperber war in Eile. Hat das Wetter uns verraten?«

»Nur zum Teil.« Ehlana hielt den Brief in die Höhe. »Mein Liebster hat sich selbst verraten. An lyrische Redewendungen hat Sperber früher nie einen Gedanken verschwendet. Bisher lasen sich seine Briefe immer so, als hätte er sie mit seinem Breitschwert geschrieben. An diesem aber – und an allen anderen aus Tega – wurde gefeilt und geschliffen, daß sie einem Dichter Ehre machen könnten. Ich bin gerührt, daß er sich so viel Mühe gegeben hat, aber ich glaube ihm kein Wort! Also, wo ist er? Und was hat er wirklich vor?«

»Das wollte er nicht sagen, Majestät. Er hat sich nur an mich gewandt, weil er eine gute Ausrede brauchte, sich für mehrere Wochen aus Matherion zu entfernen.«

Sie lächelte ihn süß an. »Ist schon gut, Oscagne. Ich werde es selbst herausfinden. Das macht sowieso mehr Spaß.«

»Es ist ein großes Gebäude«, berichtete Stragen am nächsten Morgen. »Eine gründliche Durchsuchung kostet viel Zeit.« Er, Caalador und Mirtai waren soeben von ihrem erfolglosen nächtlichen Einbruch zurückgekehrt.

»Wie weit seid ihr gekommen?« erkundigte sich Sarabian.

»Wir haben die beiden obersten Stockwerke durchkämmt, Majestät«, antwortete Caalador. »Heute nacht nehmen wir uns den dritten Stock vor.« Caalador hatte sich erschöpft in einen Sessel fallen lassen. Wie seine beiden Begleiter trug er noch die hautenge schwarze Kleidung. Gähnend sagte er: »Gott, bin ich müde! Ich werde zu alt für so was!«

Stragen rollte einen vergilbten Satz Pläne auf. »Ich bin immer noch der Meinung, daß die Antwort hier zu finden ist! Statt Türen zu öffnen und in Schreibpulten herumzustöbern, sollten wir die Abmessungen mit diesen Plänen vergleichen!«

»Du glaubst also immer noch, daß es dort Geheimgänge und verborgene Räume gibt, Stragen?« Wieder gähnte Caalador. »Das spricht nicht für deinen Geschmack was Literatur angeht, alter Junge.«

Sarabian blickte ihn verwirrt an.

»Thalesier sind geradezu süchtig nach kitschigen Geistergeschichten, Majestät«, erklärte Caalador.

»Das verschafft den Schreibstuben in Emsat stets Arbeit. Nach großer Literatur wird heutzutage ja kaum mehr verlangt.« Stragen zuckte die Schultern. »Bei uns wird eine ganze Menge höchst beliebter Schundliteratur in schmutzigen Seitengassen gehandelt – haarsträubende Geschichten, die in finsteren Sturmnächten auf Totenäckern oder in Spukhäusern spielen. Die Dirnen von Emsat verschlingen diese Bücher. Ich vermute, die Polizisten des Innenministeriums teilen ihren Geschmack. Schließlich ist ein Polizist so was wie eine Hure, denn er ist ebenso käuflich, nicht wahr?«

»Ich bin da nicht ganz mitgekommen«, gestand Mirtai. »Und ich weiß auch nicht, ob ich es überhaupt möchte. Vermutlich heckt ihr wieder etwas Abscheuliches aus, Stragen. – Caalador, würdet Ihr aufhören, so zu gähnen? Euer Gesicht sieht aus wie ein offenes Scheunentor!«

»Ich bin müde, Schätzchen. Ihr zwei habt mich nach meiner Schlafenszeit viel zu lange wachgehalten!«

»Dann geht zu Bett. Wenn Ihr Euren Mund so weit aufreißt, während Ihr mich anseht, schmerzen mir die Kiefer.«

»Ihr solltet jetzt alle schlafen gehen«, riet Ehlana ihnen. »Ihr seid nun die offiziellen königlichen Einbrecher, und ihr würdet Sarabian und mich zu Tode blamieren, wenn ihr mitten beim Einbruch einschlaft.«

»Wollen wir die Sache praktischer angehen?« fragte Caalador, während er sich erhob. »Ich kann bis zum Abend zwei Dutzend berufsmäßige Einbrecher hierher bringen, und bis zum Morgengrauen sind alle Geheimnisse des Innenministeriums in unserer Hand.«

»Und bis morgen nachmittag weiß das ganze Innenministerium, daß wir sie haben«, wandte Stragen ein. »Unser behelfsmäßiges Spitzelnetz hat Lücken, Caalador. Wir hatten nicht genug Zeit, alle unsicheren Kantonisten zu entfernen.«

»So große Eile besteht nun auch nicht, meine Herren«, versicherte Ehlana ihnen. »Selbst wenn wir die im Innenministerium versteckten Dokumente tatsächlich finden, können wir nichts in dieser Sache unternehmen, ehe mein vom Weg abgekommener Gemahl nicht wieder nach Hause gefunden hat.«

»Wie könnt Ihr so sicher sein, daß Sperber Euch täuscht, Ehlana?« fragte Sarabian.

»Weil es seinem Wesen entspricht. Sperber hat sein ganzes Leben meinem Schutz gewidmet. Natürlich ist das schrecklich lieb von ihm, aber manchmal auch äußerst lästig. Er hält mich immer noch für ein kleines Mädchen – obwohl ich ihm weiß Gott oft genug bewiesen habe, daß er sich da täuscht. Zur Zeit unternimmt er irgend etwas Gefährliches und möchte nicht, daß ich mir Sorgen um ihn mache. Er hätte mir nur zu sagen brauchen, was er beabsichtigt, und mir die Gründe nennen sollen, wieso er es für notwendig hält. Ich weiß, es fällt euch Männern schwer zu glauben, daß auch Frauen vernünftig sind – und viel praktischer veranlagt als ihr!«

»Ihr seid sehr streng, Ehlana«, warf Sarabian ihr vor.

»Nein, ich sehe die Dinge nur realistisch. Sperber tut, was er glaubt, tun zu müssen – egal, was ich sage. Ich habe gelernt, das hinzunehmen. Aber ich will eigentlich nur sagen, daß wir in dieser Sache nicht das Geringste unternehmen können, solange Sperber und die übrigen noch am anderen Ende der Welt durch die Gegend streifen. Dabei spielt es keine Rolle, was wir im Innenministerium ans Licht bringen. Wir werden das Ministerium auflösen und ein Viertel der kaiserlichen Polizei in die Kerker werfen. Anschließend rufen wir in ganz Tamuli den Ausnahmezustand aus, und die Ataner sorgen dafür, daß unsere Befehle befolgt werden. Der daresische Kontinent wird wie ein Ameisenhaufen aussehen, über den die Reiterei hinweggedonnert ist. Da ich nicht weiß, was Sperber tut, habe ich keine Ahnung, wie er auf dieses Chaos reagieren wird. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß ihr ihn in noch größere Gefahr bringt; denn ich bin sicher, daß er sich bereits in sehr großer Gefahr befindet.«

»Wißt Ihr was, Ehlana?« sagte Sarabian. »Ihr seid sogar noch mehr um Sperber besorgt als er um Euch.«

»Natürlich. Darum geht es in der Ehe schließlich.«

Sarabian seufzte. »In keiner von meinen.«

»Weil Ihr zu viele Gemahlinnen habt und Eure Zuneigung planmäßig verteilen müßt, Sarabian. Jede Eurer Frauen gibt Euch nur soviel Liebe, wie Ihr selbst gebt.«

»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es sicherer ist, sich nicht auf eine Frau festzulegen.«

»Aber langweilig, mein Freund. Von Leidenschaft für nur eine Person verzehrt zu werden, ist ungemein aufregend. Es ist vielleicht mit einem Leben in einem Vulkankrater vergleichbar.«

»Wie anstrengend!« Er schüttelte sich.

»Aber vergnüglich!« entgegnete sie lächelnd.

Baroneß Melidere hatte sich schon früh zurückgezogen und das mit starken Kopfschmerzen begründet. Es lag keineswegs daran, daß sie ihre Pflichten als Ehlanas Hofdame zu anstrengend fand; der Grund war, daß sie endlich eine wichtige Entscheidung treffen mußte. Denn je länger sie damit wartete, desto schwerer würde es ihr fallen. Die Baroneß hatte den Punkt erreicht, an dem sie sich klarwerden mußte, wie es mit Stragen weitergehen sollte.

Melidere war weder unschuldig noch naiv. Das sind Hofdamen selten. Ein unberührtes Mädchen hat nur eine Wahl, wenn es um eine Beziehung mit einem Mann geht. Ein erfahreneres Mädchen hat zwei, und das war die Crux von Melideres Dilemma. Natürlich würde Stragen einen durchaus akzeptablen Liebhaber abgeben. Er war vorzeigbar, interessant und besaß ausgezeichnete Manieren. Eine Liaison mit ihm würde Melideres Ruf am Hof nicht schaden – ganz im Gegenteil. Das war ursprünglich sogar ihre Absicht gewesen. Nun war die Zeit gekommen, den entscheidenden Schritt zu wagen und Stragen in ihr Schlafgemach zu bitten. Sie konnte die Liaison kurz gestalten, konnte sie aber auch ausdehnen und jedesmal erneuern, wenn Stragen Cimmura besuchte. Das würde der Affäre eine gewisse Form geben und beiden die Freiheit lassen, anderen Vergnügungen nachzugehen, wie in solchen Situationen üblich. Doch Melidere war sich nicht sicher, ob das wirklich alles war, was sie wollte. In letzter Zeit hatte sie immer öfter eine dauerhaftere Beziehung in Erwägung gezogen. Und darin lag das Dilemma.

Für Herzensdinge gibt es einen Rhythmus, ja, beinahe so etwas wie Gezeiten. Wenn die Flut ihren höchsten Stand erreicht, muß die Dame ihrem Erwählten gewisse Zeichen geben. Eines dieser Zeichen weist zum Schlafgemach, das andere zum Traualtar. Melidere konnte es nicht länger aufschieben. Sie mußte sich für eines der beiden Zeichen entscheiden.

Stragen faszinierte sie. Eine geheimnisvolle Aura aufregender Gefahr umgab ihn, und Melidere, eingeengt von den Ritualen höfischen Lebens, fühlte sich davon angezogen. Es konnte berauschend sein, ja, süchtig machen. Aber wie sollte sie wissen, ob diese Erregung nicht mit den Jahren schwand?

Außerdem gab es da ein weiteres Problem, das Stragens Person betraf. Seine ungeklärte Herkunft und das Fehlen eines offiziellen Ranges hatten ihn überempfindlich werden lassen. Auf jede oft unbedacht geäußerte und keineswegs beabsichtigte Bemerkung reagierte er gereizt und benahm sich als Ehlanas Gefolgsmann wie ein ungeladener Gast bei einem Bankett – stets von der heimlichen Angst erfüllt, man könnte ihm die Schande antun, ihn fortzuschicken. Edelleuten wagte er nur mit allergrößter Ehrfurcht gegenüberzutreten, und in ihrer Gesellschaft fühlte er sich stets als Außenseiter. Manchmal schienen sie für Stragen Angehörige einer anderen Gattung Mensch zu sein.

Dieses Problems würde sie, Melidere, sich als erstes annehmen müssen, falls sie beschloß, ihn zu heiraten, das war ihr klar. Sie selbst wußte, daß ein Titel nichts über den Menschen aussagte, und daß Rang und Namen gekauft werden konnten. Aber wie sollte sie Stragen dies beibringen? Sie könnte ihm ohne Schwierigkeiten den Titel eines hohen Edelmanns erkaufen; aber das würde bedeuten, daß sie ihm ein Geheimnis verraten müßte, das sie seit ihrer Kindheit hütete. Nie hatte Melidere auf irgendeine Weise durchblicken lassen, daß sie eine der wohlhabendsten Personen am Hof war – vor allem deshalb nicht, weil ihr sagenhafter Reichtum nicht auf legale Weise erworben war.

Aber das war es! Beinahe hätte sie laut gelacht, als sie erkannte, wie einfach es war. Wenn sie Stragen wirklich heiraten wollte, brauchte sie ihn nur in ihr Geheimnis einzuweihen. Das würde sie gleichstellen und die Barriere niederreißen, die ohnehin nur in Stragens Einbildung bestand. Melidere war Baroneß, doch ihre Familie konnte sich noch nicht allzu lange Zeit mit dem Adelstitel schmücken.

Ihr Vater – ein Mann mit breiten Schultern und dichtem blonden Lockenhaar – war als junger Bursche Schmied in Cardos gewesen und hatte mit einer simplen Erfindung, die er sich in seiner Werkstatt ausgedacht hatte, ein Vermögen gemacht. Für die meisten Menschen sind Goldmünzen Geld – Gegenstände von großem und unveränderlichem Wert. Einige jedoch erkennen, daß der Wert einer Münze davon abhängt, was ihr laut Regierungsbeschluß eingeprägt ist. Diese eingravierte Zahl – und damit der Wert der Münze – bleibt erhalten, selbst wenn mit einer Feile oder einem scharfen Messer von ihrem Rand gleichmäßig ein klein wenig abgeschabt wurde. Die unendlich winzigen Späne reinen Goldes, die man dadurch bekommt, sind kaum der Rede wert, wenn man lediglich den Rand einer einzigen Münze unmerklich abschabt. Bearbeitet man auf diese Weise jedoch tausend Münzen, sieht die Sache schon ganz anders aus. Manche Regierungen versuchen solche Eingriffe zu verhindern, indem sie den Rand der Münzen bei der Prägung riffeln. Eine geriffelte Münze hat regelmäßige fortlaufende Kerben. Würde man daran herumfeilen oder schaben, wäre es sofort ersichtlich. Melideres erfindungsreicher Vater hatte eine Möglichkeit gefunden, dieses Problem zu umgehen und einen Satz Schneideisen zur Neuriffelung angefertigt, ein Eisen für jede Münzgröße. Ein einfacher Schmied bekommt sein Leben lang nicht genügend Münzen in die Hand, daß die Mühe sich lohnen würde, solche Schneideisen herzustellen. Doch Melideres Vater war ein Genie. Er schmiedete diese Schneideisen nicht, um sie selbst zu verwenden, doch ebensowenig verkaufte er sie. Er vermietete sie mitsamt den Diensten gutausgebildeter Gesellen und nahm dafür einen Prozentsatz des Gewinns.

Melidere lächelte. Sie war überzeugt, daß in ganz Eosien sehr wenige Goldmünzen ihr ursprüngliches Gewicht besaßen, und sie wußte, daß fünf Prozent des Unterschieds zwischen Nennwert und wahrem Wert als Barren in der geheimen Schatzkammer im Keller ihres Landhauses bei Cardos gestapelt waren. Sobald sie Stragen wissen ließ, daß sie eine größere und erfolgreichere Diebin war als er, würde alles übrige leicht sein. Stragens Respekt, was ihre aristokratische Herkunft betraf, würde bestimmt so etwas wie fast ehrfürchtigem Staunen über ihre Fähigkeiten weichen, die Gesetze zu übertreten. Sie konnte ihm sogar den Ursprung ihres Reichtums zeigen, denn sie trug das kostbarste Andenken ihrer Kindheit – die Originalschneideisen ihres Vaters – stets bei sich. Auch jetzt lagen sie in der mit Samt ausgekleideten Rosenholzschatulle auf Melideres Frisiertisch: polierte Stahljuwelen, kostbarer als Brillanten.

Während ihr bewußt wurde, daß sie die Mittel zur Hand hatte, Stragen zu heiraten, erkannte sie zugleich, daß sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte. Sie würde ihn heiraten. Gleich beim nächsten Mal, wenn sie ihn sah, würde sie dieses Zeichen geben und kein anderes.

Dann fiel ihr noch etwas ein. Die Unternehmungen ihres Vaters waren auf den eosischen Kontinent beschränkt gewesen. Ganz Tamuli war überschwemmt von noch unberührten Münzen, die nur darauf warteten, Feile und Messer kennenzulernen. Sobald Stragen das erkannte, würde er nicht zum Traualtar schreiten, sondern rennen.

Melidere griff lächelnd nach ihrer Haarbürste und summte vor sich hin, während sie ihr langes honigblondes Haar bürstete. Wie jedes vernünftige elenische Mädchen war sie das Problem logisch angegangen, und wie fast immer hatte auch diesmal die Logik den Sieg davongetragen. Logik war angenehm und beruhigend, vor allem, wenn die Gesetze – auch die der Moral – aus dem Spiel blieben.

»Halt! Wartet!« flüsterte Stragen, als sie die breite Treppe zum dritten Stock hinuntersteigen wollten. »Dort unten ist noch jemand!«

»Was will er so spät hier?« fragte Mirtai leise. »Alle anderen sind doch schon vor Stunden heimgegangen!«

»Wir könnten ihn fragen«, murmelte Caalador.

»Red keinen Unsinn. Ist es einer der Wächter?«

»Keine Ahnung«, antwortete Stragen. »Ich habe ihn selbst nicht gesehen, nur das Flackern einer Kerze. Jemand da unten hat eine Tür geöffnet.«

»Vielleicht irgendein kleiner Untergebener, der mit seiner Arbeit nicht fertig geworden ist.« Caalador zuckte die Schultern.

»Was jetzt?« fragte Mirtai.

»Wir warten.« Caalador setzte sich auf die oberste Stufe.

Stragen überlegte. »Bleibt ihr zwei hier«, schlug er vor, »ich sehe nach. Wenn es so ausschaut, als wollte er die Nacht hier verbringen, hätte es wenig Sinn, wenn wir bis zum Morgen auf dieser Treppe herumsitzen.«

Als er hinunterschlich, verursachten seine wie angegossen sitzenden weichen Schuhe nicht den geringsten Laut auf den Perlmuttfliesen. Kaum hatte er den unteren Korridor erreicht, sah er an dessen Ende den feinen Streifen von Kerzenlicht unter einer Tür hervorschimmern. Mit dem Selbstvertrauen, das sich aus langer Übung ergibt, schlich er darauf zu. Vor der Tür angekommen, vernahm er Stimmen.

Stragen zog nicht einmal in Erwägung, an der Tür zu lauschen. So etwas taten nur Anfänger. Er schlich ins angrenzende Zimmer, tastete sich vorsichtig voran und drückte das Ohr an die Wand.

Kein Geräusch war zu vernehmen. Lautlos fluchend kehrte Stragen auf den Flur zurück und betrat ebenso lautlos den Raum zur anderen Seite des beleuchteten Zimmers. Kaum hatte er ihn betreten, konnte er hören, wie zwei Männer sich unterhielten.

»Unser verehrter Premierminister begreift allmählich die Lage«, sagte soeben eine rauhe Stimme. »Aber es fällt ihm nicht leicht. Pondia Subat ist sehr beschränkt, wenn es um etwas Neues geht.«

»Damit muß man rechnen, Exzellenz.« Stragen erkannte die zweite Stimme. Sie gehörte Teovin, dem Leiter der Geheimpolizei. »Der Premierminister ist bloß eine Galionsfigur und hat ebensowenig zu sagen wie der Kaiser.«

»Das habt Ihr also auch bemerkt«, sagte der Sprecher mit der rauhen Stimme.

»Es ist nicht damit zu rechnen, daß Subat viele Fragen stellt. Solange er sich im wesentlichen über die Situation im klaren ist, wird es ihm wahrscheinlich ohnehin lieber sein, wenn wir uns um alles kümmern, ohne daß er die Einzelheiten erfährt. Das wollte er ja von vornherein. Seid Ihr bei den anderen weitergekommen?«

»Bei einigen. Ihr habt gewiß Verständnis, daß ich dieses Thema sehr vorsichtig angehen muß. Das elenische Luder hat sich hier am Hof viele Freunde gemacht. Aber sie hören alle auf mich. Ich habe den Schlüssel zur Schatzkammer, und schon das verschafft mir ihre Aufmerksamkeit. In den meisten Ministerien muß man sich mit zu vielen Förmlichkeiten befassen; deshalb habe ich kaum Zeit an die betreffenden Minister verschwendet. Das Kultusministerium wird uns wahrscheinlich ebensowenig von Nutzen sein wie das Ministerium für bildende Künste.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Exzellenz. Das Kultusministerium ist auch für die Universitäten zuständig. Wir müssen weiter denken, über die gegenwärtige Zwangslage hinaus. Wir wollen doch nicht, daß ganze Generationen mit der Überzeugung durchs Leben gehen, das Innenministerium und Finanzministerium wären Brutstätten für Hochverrat. Genaugenommen handeln wir ja gegen die Wünsche des Kaisers.«

»Das stimmt wohl, aber das Innenministerium ist für die Polizei zuständig, und das Finanzministerium erhebt die Steuern und treibt sie ein. Egal, was wir tun, keiner von uns wird sich beliebt machen. Aber Ihr habt vermutlich recht. Wenn die Geschichtsprofessoren ihre Studenten lehren, daß wir Hochverräter sind, werden die Leute in Zukunft möglicherweise behaupten, es sei ihre vaterländische Pflicht, Gesetzeshüter zu mißachten und vielleicht auch keine Steuern mehr zu bezahlen.«

»Da fällt mir etwas ein, Kanzler Gashon«, sagte Teovin nachdenklich. »Ihr habt doch eine speziell ausgebildete Sondereinheit der Polizei, nicht wahr? Burschen mit gewaltigen Muskeln begleiten Eure Steuereintreiber, um dafür zu sorgen, daß die Leute ihre Schulden auch bezahlen.«

»O ja. So oder so bezahlt jeder seine Steuern. Ich bekomme Geld von ihnen allen – oder Blut!«

»Dann hört mir bitte zu. Die Elenier wissen wahrscheinlich, daß das Innenministerium und vermutlich auch die Armee gegen sie sind. Deshalb werden sie alles versuchen, die notwendigen Maßnahmen zu verhindern. Ich würde gern einige meiner wichtigeren Leute verstecken. Könnte ich sie in Eure Polizeitruppe versetzen? Auf diese Weise kann ich meinen gewohnten Pflichten nachgehen – selbst wenn die Elenier damit beginnen, Polizeiwachstuben niederzubrennen.«

»Das läßt sich machen, Teovin. Braucht Ihr sonst noch etwas?«

»Geld, Kanzler Gashon.«

Gashon machte ein gequältes Gesicht. »Würdet Ihr statt dessen ewige Freundschaft nehmen?«

»Ich fürchte, damit lassen sich die erforderlichen Leute nicht bestechen, Exzellenz.« Teovin hielt nachdenklich inne. »Ja, das ließe sich machen! Ich könnte wahrscheinlich in vielen Fällen eine Art Steuerimmunität versprechen.«

»Dieses Wort habe ich noch nie gehört.«

»Als Belohnung für ihre Hilfe erlassen wir jenen Leuten die Steuern, die für uns von Nutzen sind.«

»Das ist sittenwidrig!« stieß Gashon hervor. »So etwas Schockierendes habe ich noch nie im Leben gehört!«

»Es war nur ein Gedanke.«

»Schlagt so etwas nie wieder vor, Teovin! Das läßt mir ja das Blut stocken! Können wir jetzt das Haus verlassen? Ich weiß nicht, aus welchem Grund, aber ich fühle mich in Polizeiwachstuben einfach nicht wohl.«

»Selbstverständlich, Exzellenz. Ich glaube, wir sind alles durchgegangen, was zwischen uns bleiben sollte.«

Stragen blieb lauschend in dem dunklen Büro sitzen, während die zwei Männer die Stühle zurückschoben und auf den Flur hinaustraten. Dann hörte er, wie sich Teovins Schlüssel im Schloß drehte. Der blonde Unterweltkönig wartete noch etwa zehn Minuten, ehe er zum Fuß der Treppe ging und leise nach oben rief: »Sie sind weg!«

Mirtai und Caalador kamen die Treppe herunter. »Wer war es?« wollte Caalador wissen.

»Der Leiter der Geheimpolizei und der Finanzminister. Es war ein sehr aufschlußreiches Gespräch. Teovin spannt andere Minister für seine Zwecke ein. Sie wissen zwar nicht, was er tatsächlich vorhat, aber er konnte bereits mehrere Kollegen davon überzeugen, daß es in ihrem eigenen Interesse sei, sich ihm anzuschließen.«

»Darauf können wir später näher eingehen«, wandte Caalador ein. »Es ist fast Mitternacht. Machen wir uns auf die Suche!«

»Nicht nötig.« Stragen zuckte mit den Schultern. »Ich habe gefunden, was wir suchten.«

»Dieser Mensch ist eine echte Zumutung«, wandte Caalador sich an die atanische Riesin. »Er läßt eine sensationelle Bemerkung fallen und tut so, als wäre es eine Nebensächlichkeit! Na gut, Stragen, bring uns mit deiner Brillanz völlig aus der Fassung. Sorg dafür, daß mir die Augen aus den Höhlen quellen und daß Mirtai in Bewunderung für dich dahinschmilzt.«

»Ich habe wirklich nicht viel dazu beigetragen«, gestand Stragen. »Ehrlich gesagt, bin ich rein zufällig darauf gestoßen. Es gibt ein Geheimzimmer! Wir müssen allerdings erst noch den Eingang finden und uns vergewissern, daß die gesuchten Dokumente sich wirklich dort befinden. Aber dieses Zimmer wäre genau der richtige Aufbewahrungsort. Ich hätte eigentlich gleich daran denken müssen!«

»Und wo liegt es?« wollte Mirtai wissen.

»Direkt neben Teovins Amtsstube.«

»Das ist allerdings der richtige Aufbewahrungsort«, bemerkte Caalador. »Wie hast du es gefunden?«

»Um ehrlich zu sein, hab' ich's noch gar nicht gefunden. Aber die Logik sagt mir, daß es dieses Zimmer gibt.«

»Werft Eure weichen Schuhe und schwarzen Sachen lieber noch nicht weg, Caalador«, riet Mirtai.

»Ihr verletzt meine Gefühle, Schätzchen«, klagte Stragen.

»Weil ich mit elenischer Logik schon allerhand erlebt habe. Erzählt uns mehr!«

»Ich wollte versuchen, so viel wie möglich mitzuhören. Deshalb schlich ich in die angrenzende Schreibstube, um zu lauschen.«

»Und?«

»Ich konnte keinen Ton hören!«

»Die Wände sind aus Stein, Stragen«, gab Mirtai zu bedenken, »und obendrein mit Muscheln beklebt.«

»Es gibt keine vollkommen schalldichte Wand, Mirtai. Immer gibt es irgendwelche Risse und Ritzen, in die der Mörtel nicht eindrang. Wie dem auch sei, als ich es in der Schreibstube auf der anderen Seite versuchte, konnte ich alles mithören. Glaubt mir, zwischen diesen beiden Räumen befindet sich eine Kammer!«

»Es paßt wirklich alles zusammen, Schätzchen«, sagte Caalador zu Mirtai. »Der Eingang zu dieser Kammer muß logischerweise in Teovins Büro sein, stimmt's? Diese Dokumente sind streng vertraulich und er möchte ganz gewiß nicht, daß jemand ohne sein Wissen Einblick nimmt. Wir hätten ein bißchen länger über alles nachdenken sollen. Dann hätten wir eine Menge Zeit sparen können!«

»Wir haben die Zeit nicht vollkommen vergeudet.« Mirtai lächelte. »Ich habe die Kunst des Einbrechens gelernt, und ich hatte Gelegenheit, mich regelrecht in euer beider Zuneigung zu suhlen. Ihr habt mich glücklicher gemacht, als ich mit Worten ausdrücken könnte! – Die Tür zur Amtsstube ist bestimmt verschlossen.«

»Das ist überhaupt kein Problem.« Caalador grinste und hielt ein nadelfeines Werkzeug mit einem Haken an der Spitze hoch.

»Gehen wir's an!« drängte Stragen. »Es ist Mitternacht, und möglicherweise brauchen wir den Rest der Nacht, den Eingang zu dieser Geheimkammer zu finden.«

»Das kann nicht Euer Ernst sein!« sagte Ehlana abfällig.

»Möge meine Zunge sich grün färben, wenn es nicht so ist, Majestät.« Caalador machte eine Pause. »Gräßlich, nicht wahr?«

»Ich verstehe nicht«, gestand Sarabian.

»Es ist ein Gemeinplatz, Majestät«, erklärte Stragen, »aus einer Literaturgattung, die in Eosien zur Zeit sehr beliebt ist.«

»Wollt Ihr diesem Schwulst wirklich die Ehre machen, ihn Literatur zu nennen, Stragen?« murmelte Baroneß Melidere.

»Sie befriedigt die Bedürfnisse der geistig Minderbemittelten, Baroneß.« Er zuckte die Schultern. »Wie dem auch sei, kaiserliche Majestät, diese Literaturgattung besteht hauptsächlich aus Geistergeschichten. Es gibt fast immer eine Burg oder ein Schloß, wo es spukt, mit Geheimgängen und geheimen Räumen, und die Eingänge sind normalerweise hinter Bücherschränken versteckt. Das ist in fast jeder Gruselmär so. Man empfindet es beinahe als alltäglich – so alltäglich, daß ich nie auf die Idee gekommen wäre, irgend jemand könnte tatsächlich solche Methoden anwenden.« Er lachte. »Ich frage mich, ob Teovin es sich selbst ausgedacht hat oder die Idee einer dieser Geistergeschichten entnahm. Wenn ja, würde das seinen gräßlichen Literaturgeschmack verraten.«

»Sind in Eosien Bücher denn problemlos erhältlich?« fragte Oscagne interessiert. »Hier sind sie schrecklich teuer.«

»Es ist die Folge einer gezielten Aktion unserer Heiligen Mutter Kirche im vergangenen Jahrhundert, das Lesen und Schreiben allgemein zu fördern«, erklärte Ehlana. »Die Kirche wollte, daß ihre Kinder ihre Botschaft lesen können, also verbrachten die Priester sämtlicher Pfarreien viel Zeit damit, ihre Schäfchen das Lesen zu lehren.«

»Man braucht allerdings nicht sehr lange, die Botschaft der Kirche zu lesen«, fuhr nun Stragen wieder fort. »Mit dem Ergebnis, daß es anschließend Unmengen von Leuten gibt, die eine Fähigkeit besitzen, die sie gar nicht einsetzen können. Allerdings war es die Erfindung des Papiers, die den sprunghaften literarischen Anstieg auslöste. Die Kosten für die Anfertigung von Abschriften sind nicht besonders hoch. Aber die Preise für Pergament waren kaum erschwinglich. Als Papier auf den Markt kam, wurden Bücher viel billiger. In fast jeder größeren Stadt gibt es Schreibstuben mit ganzen Trupps von Schreibern, die tonnenweise Bücher kritzeln. Es ist ein gewinnbringendes Geschäft. Die Bücher haben keine Illustrationen, keine verzierten Anfangsbuchstaben und dergleichen, und mit der Schrift gibt man sich nicht allzuviel Mühe. Aber sie sind lesbar und vor allem erschwinglich. Aber nicht jeder, der lesen kann, hat einen guten Geschmack. So kommt es, daß eine Menge grauenvoller Geschichten von Leuten verfaßt werden, die so gut wie kein Talent dafür haben. Sie schreiben über Abenteuer, Geister, Helden, Liebe und – na ja, so anstößige Dinge, daß die Leute sie nicht offen in die Bücherregale stellen. Die Kirche möchte natürlich, daß nur Heiligenlegenden und religiöse Verse geschrieben werden, aber kaum jemand liest so etwas Langweiliges. Wie gesagt, zur Zeit sind Geistergeschichten in Mode – vor allem in Thalesien. Es hat etwas mit unserem nationalen Charakter zu tun, glaube ich.« Er blickte Ehlana an. »Die gesuchten Dokumente in Teovins Geheimkammer zu finden, wird eine langwierige Arbeit sein, meine Königin. Es gibt dort Berge von Schriftstücken, und ich kann schlecht jede Nacht ganze Trupps von Helfern über das Dach einsteigen lassen. Mirtai, Caalador und ich werden jedes einzelne Dokument selbst lesen müssen.«

»Vielleicht auch nicht, Durchlaucht Stragen«, wandte Ehlana ein. Sie lächelte den blonden Unterweltkönig an. »Ich hatte völliges Vertrauen in Eure Unehrlichkeit, mein lieber Junge. Deshalb war ich sicher, daß Ihr früher oder später finden würdet, was wir suchten. Dann erinnerte ich mich an eine Sache, von der Sperber mir einmal erzählt hat. Er hatte sich eines Zaubers bedient, um Kragers Gesicht in einem Wasserbecken erscheinen zu lassen, damit Talen sein Bild zeichnen konnte. Ich sprach mit einem der Pandioner, die uns begleiteten – einem Ritter Alvor. Er hat mir eine sehr interessante Geschichte erzählt. Da Sephrenia keine große Lust zeigt, Elenisch zu lesen, haben sie und Sperber eine Möglichkeit gefunden, dieser Unlust mit einem kleinen Trick beizukommen. Sephrenia blickt auf eine Buchseite – nur ganz flüchtig –, und kann sie dann Stunden, sogar Tage später in einem Spiegel oder auf einer ruhigen Wasseroberfläche erscheinen lassen. Ritter Alvor beherrscht diesen Zauber. Er ist ein noch ziemlich junger und sehr behender Bursche und wird keine Schwierigkeiten haben, euch zu begleiten. Nehmt ihn bei eurem nächsten Besuch im Innenministerium mit und laßt ihn in Teovins Geheimkammer herumschmökern. Ich könnte mir vorstellen, daß er in nur einer Nacht das gesamte Archiv im Kopf mitnehmen kann.«

»Geht das wirklich, Majestät?« fragte Caalador zweifelnd.

»O ja, Caalador. Ich habe Alvor auf die Probe gestellt und ihm ein Buch gereicht, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Er blätterte es in zwei Minuten durch, dann übertrug er Seite für Seite auf den Spiegel da drüben. Ich verglich sie mit dem Original – es war eine perfekte Kopie. Nicht einmal die Flecken auf den Buchseiten fehlten.«

»Diese Pandioner sind wirklich recht brauchbare Burschen«, stellte Caalador fest.

»Wißt Ihr…«, Ehlana lächelte, »… das ist mir auch aufgefallen. Da ist vor allem einer, den ich sehr gut gebrauchen kann.«