24. 

 

blumeDie Schlinge hob sich drohend vor dem morgendlichen Himmel ab; ein Himmel, so blau, dass er fast schon unnatürlich wirkte. Eine schweigende Menge bevölkerte den Platz vor dem Galgen. Erst als zwei Wärter Duncan heranführten, erhoben sich einzelne Stimmen aus der Menge, wütend, voller Hass. Man hatte ihm die Hände auf den Rücken gefesselt, seine Kleidung war zerrissen. Der Henker, ein vierschrötiger Mann mit der bulligen Gestalt eines Ochsentreibers, half ihm auf das hölzerne Gestell. Duncan hob den Blick zum Galgen. Sein Gesicht war unbewegt, nur in seinen Augen las Moira Furcht. Sieh nicht dorthin, wollte sie ihm zurufen, sieh mich an! Doch kein Wort kam aus ihrem Mund. Dann legte der Henker ihm die Schlinge um den Hals, ein dicker Strick, wie eine Schlange … 

Moira fuhr auf, ihr Herz raste, ihr ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Es war ein Traum, nichts weiter als ein Traum, sagte sie sich und versuchte, ihren jagenden Atem zu beruhigen. Dennoch dauerte es, bis sie ihre zitternden Hände so weit im Griff hatte, dass sie das Zunderkästchen öffnen und die kleine Kerze auf ihrem Nachttisch anzünden konnte. 

Die Flamme tauchte das Zimmer in einen schwachen Schein und warf zuckende Schatten an die Wand. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Sie lauschte. Im Haus war es still wie in einem Grab, auch von den Straßen war nichts zu hören. Es war noch dunkel, selbst das Hausmädchen, das stets als Erste aufstand, schlief noch. 

Seit sechs Tagen lebte Moira hier. Sie war nicht wieder zurückgekehrt zu McIntyre, obwohl das ihre Pflicht als Ehefrau gewesen wäre. Aber auch McIntyre hatte es abgelehnt, noch länger mit ihr unter einem Dach zu wohnen. Stattdessen war sie bei den Brennans, Bekannten von Dr. Wentworth, untergekommen, die sie in einem kleinen Zimmer in ihrem Haus in Parramatta einquartiert hatten. Bei Wentworth selbst unterzuschlüpfen wäre unschicklich gewesen. Auch wenn Moira das zurzeit herzlich egal war, so hatte er doch um ihretwillen darauf bestanden. 

Sie warf die Bettdecke zurück und trat ans Fenster. Vor ihr erstreckte sich die Hauptstraße von Parramatta, die weiß getünchten Häuser schimmerten hell in der Dunkelheit. Weiter hinten konnte sie das neuerrichtete Gefängnis sehen. Dort, wo Duncan jetzt war. Die Bilder ihres Alptraums stiegen wieder in ihr auf, die Menschenmenge, der Galgen … Keuchend krallte Moira die Finger in die Fensterbank. Bitte, dachte sie flehend, lass den heutigen Tag nicht Duncans letzter sein! 

Die meisten der aus Toongabbie geflüchteten Sträflinge waren wieder eingefangen worden. Vielen hatte man in einem Sammelverfahren bereits den Prozess gemacht und sie zu den üblichen Schlägen verurteilt, die nun, wie Moira gehört hatte, nach und nach im Straflager von Toongabbie verabreicht wurden. Fitzgerald hingegen blieb verschwunden. Moira war sich nicht sicher, ob er wirklich nur aus eigennützigen Gründen das Boot genommen hatte. Immerhin hatte seine Flucht für kurze Zeit die Aufmerksamkeit der Rotröcke von Duncan abgelenkt. Ob es dem Hünen gelungen war zu entkommen? Wahrscheinlicher war, dass er längst ertrunken auf dem Grund des Gewässers ruhte. Aber ein Teil von ihr wünschte sich, dass er es geschafft hatte. 

* 

»Erhebt Euch!« Richter Chamberlain klopfte auf das Pult. Wenigstens blieb ihnen diesmal Mr Zuckerman erspart. 

Ein Scharren von vielen Füßen, als sich die Zeugen und Schaulustigen erhoben. Moiras Hände waren eiskalt, ein dicker Klumpen saß in ihrer Kehle und ließ sie schwer schlucken. Ein paar warme Finger legten sich über ihre – Dr. Wentworth, der sie zur Verhandlung begleitet hatte, nickte ihr aufmunternd zu. 

Wieder vor Gericht. Wieder Duncan auf der Anklagebank. Diesmal hatte man ihn nicht geschlagen, aber er trug erneut Ketten. Die geballten Fäuste auf seinem Rücken verrieten seine innere Anspannung. Er drehte sich um, suchte Moira. Als ihre Blicke sich trafen, huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, und seine verkrampften Finger lösten sich. 

Die Anklagen waren schwerwiegend, ganz wie es Major Penrith, der zu Moiras Erleichterung nicht zur Verhandlung erschienen war, gesagt hatte. Dem gegenüber standen die Aussagen der Zeugen, darunter Mary, das Kindermädchen der kleinen Elizabeth, sowie Ihre Exzellenz, Mrs Anna King. Die Frau des Gouverneurs hatte ausgesagt, vom Fenster des Kinderzimmers aus mit angesehen zu haben, wie Samuel Fitzgerald den Soldaten getötet hatte. Nicht Duncan. 

Der Richter hielt ein Blatt in der Hand und blickte in die Runde. »Im Namen Seiner Majestät König George III. ergeht folgender Urteilsspruch: Der Angeklagte wird vom Vorwurf des Mordes an dem Gefreiten Spencer freigesprochen.« 

Von Moiras Herz löste sich ein riesiger Brocken. Die abgrundtiefe Erleichterung ließ sie fast zusammensinken, sie schwankte leicht. Wentworth fasste ihren Arm. 

»Zum zweiten Anklagepunkt.« Richter Chamberlain griff nach einem weiteren Blatt. »Der Vorwurf der Rebellion und der Flucht aus dem Straflager von Toongabbie wird umgewandelt in den Vorwurf des unerlaubten Entfernens von der Arbeit.« 

Moira atmete auf. Die englische Strafgesetzgebung machte es möglich, dass manche Vergehen, die normalerweise die Todesstrafe nach sich zogen, von einem gnädigen Richter zu einem weniger schweren Vergehen abgemildert werden konnten. Zumindest hatte Wentworth ihr das so erklärt und ihr damit Mut gemacht. 

»Nach sorgfältiger Abwägung aller Zeugenaussagen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte damit lediglich das Ziel verfolgte, den Gouverneur und dessen Familie zu schützen. Daher wird auch dieser Anklagepunkt fallengelassen.« Der Richter legte das Blatt zur Seite. »Kommen wir zum letzten Anklagepunkt. Der Angeklagte wird beschuldigt, sich der Festnahme entzogen zu haben und aus dem Gouverneurssitz in Parramatta geflohen zu sein. Dafür wird der Angeklagte zu zehn Tagen Zuchthaus verurteilt. Da der Angeklagte sich bereits seit sechs Tagen in Gewahrsam befindet, hat er noch vier Tage zu verbüßen.« 

Moira stieß einen weiteren kleinen Seufzer aus, sie bebte innerlich. Ein Raunen ging durch den Raum. 

»Ich bitte um Ruhe!«, forderte der Richter. »Die Verhandlung ist noch nicht beendet. Seine Exzellenz Gouverneur King wird nun das Wort an Euch richten.« 

Moira hob überrascht den Kopf, als der Gouverneur nach vorne trat. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er überhaupt anwesend war. Duncan drehte sich erneut um und warf ihr einen raschen, fragenden Blick zu. Sie schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch. 

Der Gouverneur war es gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, das merkte man schon seinen ersten Worten an. Er begrüßte die Anwesenden und schwang sich dann auf zu einer Rede über Werte und Tugenden des aufgeklärten Menschen, um damit zu schließen, wie sehr er Duncan verpflichtet sei, der sich beherzt gegen die rebellischen Straftäter gestellt und damit seine Frau und seine von ihnen beiden über alles geliebte Tochter Elizabeth vor dem Schlimmsten bewahrt habe. 

»Ich habe gehört«, wandte er sich nun direkt an Duncan, »dass Euch wegen eines anderen Vergehens die Verbannung nach Norfolk Island droht.« 

»Ja, Sir.« Duncans Stimme war rau. Moira konnte sehen, wie sich seine Fäuste ballten. 

»Nun«, sprach der Gouverneur weiter, »nach allem, was Ihr für meine Familie getan habt, kann ich das natürlich nicht zulassen. Da das Urteil bereits gesprochen wurde, ist es leider nicht mehr rückgängig zu machen. Aber ich werde den Vollzug der Strafe auf unbestimmte Zeit aussetzen.« 

Moira war benommen vor Dankbarkeit und Erleichterung. Hatte sie richtig verstanden – Duncan musste nicht nach Norfolk Island? 

Von neuem erfüllte Raunen den Raum. Aber der Gouverneur war noch nicht fertig. Er hielt kurz inne, um sich umständlich in sein Taschentuch zu schnäuzen, dann hob er die Hand. Das Gemurmel verstummte. 

»Ihr habt erst ein Jahr Eurer siebenjährigen Deportation hinter Euch, ist das richtig, Mr O’Sullivan?« 

Duncan bejahte erneut, diesmal mit einem fragenden Unterton, und straffte sich. 

»Nun, das ist zwar eigentlich zu wenig, aber diese besonderen Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Verehrte Anwesende«, der Gouverneur machte eine bedeutungsvolle Pause. »Verehrte Anwesende, ich möchte den heutigen Tag zum Anlass nehmen, eine Neuerung einzuführen: das ticket of leave, die Freilassung auf Bewährung. Damit erhalten Sträflinge, die sich in vorbildlicher Weise ausgezeichnet haben, die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen ihr eigener Herr zu sein.« 

Moira hielt die Luft an. Wollte der Gouverneur Duncan etwa ein solches ticket of leave gewähren? Ihr Herz pochte laut gegen ihre Rippen. 

»Leider«, fuhr der Gouverneur fort, »kommt Mr O’Sullivan nicht für ein ticket of leave in Frage.« 

Moiras Zuversicht sank wieder in sich zusammen. Gleich darauf flammte Zorn in ihr auf. Wieso nicht? Hatte Duncan nicht Mrs King und die kleine Elizabeth gerettet, wie der Gouverneur gerade erst selbst gesagt hatte? Wieso machte Gouverneur King ihm erst Hoffnung, wedelte ihm damit gewissermaßen wie einem Hund mit der Wurst vor der Nase, um sie dann wieder wegzuziehen? Sie schnaufte vor Empörung und blickte zu Wentworth, der besänftigend seine Hand auf die ihre legte. 

»Und zwar deswegen«, sagte der Gouverneur mit einem feinen Lächeln, »weil ein Sträfling mit einem ticket of leave kein eigenes Land besitzen darf. Daher, Mr O’Sullivan, habe ich mich entschieden, Euch bereits jetzt das conditional pardon, den bedingten Straferlass, zu gewähren.« 

Moira blieb vor Überraschung und Freude der Mund offen stehen. Ein conditional pardon war gleichbedeutend mit einer tatsächlichen Freilassung, mit der einzigen Einschränkung, dass eine Rückkehr nach Irland oder England nicht möglich war. Aber das würde ja bedeuten … 

»Außerdem –«, wollte Gouverneur King fortfahren, aber Moiras Freudenschrei ließ ihn verstummen. Sofort ruckten alle Köpfe zu ihr hinüber. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um weitere Äußerungen zurückzuhalten, aber in ihr gluckste es. Irgendwo hinter sich glaubte sie die unerträgliche Mrs Zuckerman etwas zischen zu hören. Sie konnte Wentworths Mundwinkel zucken sehen, als könne er nur mit Mühe einen ernsthaften Ausdruck beibehalten. 

Auch der Gouverneur lächelte. »Außerdem«, fuhr er fort, als hätte es die Unterbrechung nicht gegeben, »steht Euch nach Eurer Entlassung wie allen freigelassenen Sträflingen Land in der Größe von dreißig Morgen zu.« 

Hätte Wentworth sie nicht zurückgehalten, Moira wäre jubelnd aufgesprungen und zu Duncan gelaufen, ohne sich einen Deut um ihren Ruf zu scheren. So aber blieb sie auf ihrem Platz, die Hände auf den Mund gepresst, und konnte doch nicht verhindern, dass sich kleine Laute des Glücks aus ihrer Kehle stahlen. Hinter ihr erhoben sich murmelnde Stimmen, gemischt mit Ausrufen des Beifalls und der Empörung. Moira blickte sich kurz um und sah gerade noch, wie McIntyre nahezu fluchtartig den Raum verließ. 

»Einfach unerhört«, vernahm sie dann die keifende Stimme von Mrs Zuckerman rechts hinter sich. »Und ich war mit dieser schamlosen Person bekannt!« 

* 

Duncan trat aus dem stickig-heißen Lazarettgebäude, wo er seinen Vater besucht hatte, und wandte sich in Richtung der schnurgeraden Hauptstraße von Parramatta. Die Geschichte des »wilden weißen Mannes«, wie man Joseph hier nannte, hatte in Windeseile die Runde in der Kolonie gemacht. Was allerdings bedeutete, dass auch Joseph nach seiner Genesung mit einer Anklage wegen Flucht aus dem Gefangenenlager rechnen musste. Aber Dr. Wentworth war zuversichtlich, dass diese Sache ebenfalls glimpflich ausgehen würde, da sie sicher längst verjährt war. 

Die großflächige Überschwemmung hatte überall Schaden angerichtet. An allen Ecken und Enden der Stadt erscholl Hämmern und Sägen, sah Duncan Sträflingstrupps, die in der glühenden Sommerhitze Löcher reparierten, Häuser deckten oder neu bauten und angeschwemmten Unrat wegräumten. 

Am linken Straßenrand war ein vierrädriger Karren mit einem gebrochenen Rad liegengeblieben, einige Rotröcke liefen herum. Beißender Latrinengeruch aus den offenen Fässern machte schnell klar, dass es sich hierbei um den Wagen handelte, der die Fäkalien aus der Kaserne abfuhr. Offenbar machte es der Einsatz der Sträflinge für das öffentliche Wohl nötig, dass man für diese Arbeit rangniedere Soldaten heranziehen musste. Ein berittener Offizier begleitete sie. Zwei Soldaten hatten einen langen Balken als Hebel angesetzt und versuchten, den Karren damit anzuheben, um das gebrochene Rad von der Achse lösen zu können. 

»Lieutenant, es ist zu schwer!«, hörte Duncan einen von ihnen rufen. »Vielleicht sollten wir erst die Fässer abladen?« 

»Nichts da, gebt Euch etwas mehr Mühe!« 

Duncan fuhr herum. Er kannte die Stimme. Und richtig: Es war niemand anderes als Major Penrith, der soeben vom Pferd stieg. Der ehemalige Major Penrith, berichtigte er sich. Denn der Mann war kein Major mehr. 

Wie ihm Moira erzählt hatte, die es von Dr. Wentworth erfahren hatte, war der Gouverneur sehr ungehalten über Major Penrith gewesen. James Penrith war beschuldigt worden, durch sein Fehlverhalten für den Tod eines Untergebenen verantwortlich gewesen zu sein – der Ärmste war von einem Krokodil gefressen worden. Dr. McIntyre und die drei Rotröcke in seiner Begleitung hatten gegen den Major ausgesagt. Außerdem warf man ihm Korruption, Bestechlichkeit und unerlaubten Rumhandel vor. Daraufhin hatte der Gouverneur Major Penrith zum Lieutenant degradiert und festgelegt, ihn für längere Zeit mit Strafkommandos zu betrauen. Zurzeit war er offenbar dafür verantwortlich, die Fäkalienabfuhr der Kasernenlatrine zu überwachen. 

Penrith schrie Befehle, die Soldaten mühten sich weiter mit dem Hebel ab, doch nichts geschah. 

»Ihr nichtsnutziges Gesindel, könnt Ihr denn nichts alleine?« Mit leichtem Humpeln kam Penrith anmarschiert und half mit, den Hebel hinunterzudrücken. Im nächsten Moment brach der Balken krachend entzwei, der Wagen fiel zurück auf das gebrochene Rad, und der Inhalt zweier Fäkalienkübel ergoss sich auf die Straße. Duncan war weit genug entfernt, um nicht getroffen zu werden, aber ein Teil der stinkenden Brühe hatte Penriths Stiefel, seine weißen Beinkleider und den Ärmel seines roten Uniformrocks besudelt. Duncan durchströmte ein Gefühl tiefer Befriedigung. 

Penrith fluchte. In diesem Moment ging sein Blick in Duncans Richtung. Der Fluch erstarb ihm auf den Lippen, er wurde erst blass und dann rot. 

»Verdammter irischer Bastard«, stieß er in ohnmächtiger Wut hervor. »Mit dir bin ich noch nicht fertig!« Hektisch strich er über seinen beschmutzten Ärmel. »Du … du Abschaum wirst dir noch wünschen, nie geboren worden zu sein!« Ruckartig drehte er sich um und brüllte neue Befehle. 

Für einen Moment regte sich Sorge in Duncan. Dann schüttelte er den Kopf – wie konnte Penrith ihm jetzt noch schaden? Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich abwandte und den Weg nach Toongabbie einschlug. 

* 

Das Kutschenhaus hatte kaum Schaden genommen. Duncan blickte hinauf zu dem roh gezimmerten Dach, das an manchen Stellen ausgebessert werden musste. Dort, auf dem Heuboden, hatte er sein Lager gehabt. Und sich mit Moira getroffen. 

Es nutzte nichts, es länger hinauszuzögern, also drehte er sich um und ging über den Platz, auf dem der Schlamm mittlerweile getrocknet und von rissigen Furchen durchzogen war. Nach den regnerischen Tagen und Wochen war es jetzt wieder so heiß, dass die Luft vor Hitze flimmerte. Nur ein brauner Streifen an den weiß gestrichenen Hauswänden verriet, dass hier vor kurzem noch das Wasser gestanden hatte. 

Eine seltsame Scheu ergriff ihn, als er vor dem Haus des Doktors stand. Seine Zunge klebte am Gaumen, Schweiß sammelte sich zwischen seinen Schulterblättern. Die Veranda lag im Schatten des Daches, das von hölzernen Pfeilern getragen wurde. Hier hatte der Aufseher ihn damals angekettet, als sie den Sträfling Henderson zum Doktor gebracht hatten. Und hier war Moira zu ihm gekommen und hatte ihm etwas zu trinken gebracht. Für einen Moment glaubte er wieder die schweren Eisenketten um seine Handgelenke zu spüren. Er packte das längliche Bündel in seiner Hand fester und klopfte. 

Dr. McIntyre öffnete selbst – und starrte ihn so verwirrt an, als hätte er sich vor seinen Augen in einen Schellfisch verwandelt. »O’Sullivan«, murmelte er. 

Duncan hätte es verstanden, wenn McIntyre ihn gar nicht erst hätte eintreten lassen, aber entweder war er zu überrascht von seinem Besuch, oder er hatte ihn erwartet. Jedenfalls zögerte der Doktor nur kurz, bevor er ihn hereinbat. 

In der Wohnstube war Duncan noch nie gewesen, immer nur in Küche und Studierzimmer. Eine bräunliche Verfärbung in Knöchelhöhe zeigte auch hier an, bis wohin das Wasser während der Überschwemmung gereicht hatte. Tisch, Stühle und Schränke waren an den Füßen etwas aufgequollen, und die Holzbohlen des Fußbodens hatten sich ein wenig verzogen, aber es sah nicht so aus, als wäre weiterer Schaden entstanden. Überhaupt machte die Stube einen durchweg ordentlichen und gepflegten Eindruck. 

Als McIntyre ihm einen Platz anbot, zögerte er, bevor er sich setzte und das in ein Tuch gewickelte Bündel hinter sich auf den Stuhl legte. Nach all den langen Monaten als Sträfling würde es wohl noch eine ganze Zeit dauern, bis er sich wieder wie ein freier Mann fühlen würde. 

Unaufgefordert erschien Ann und stellte einen Krug mit Wasser und zwei Gläser auf den Tisch. Etwas war anders an ihr. Sie hatte ihre mausbraunen Haare zu einem kleinen Knoten geschlungen, trug ein einfaches helles Kleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte, und wirkte nicht mehr ganz so verhuscht wie früher. 

»Danke, Ann«, sagte McIntyre freundlicher, als Duncan es je von ihm gehört hatte. Bei diesen Worten schien sie förmlich zu erglühen. Dann knickste sie und ging hinaus. 

Obwohl er Durst hatte, trank Duncan nur einen kleinen Schluck. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er befürchtete, in McIntyres Gegenwart nicht mehr hinunterzubekommen. Auch der Doktor wirkte angespannt, aber im Gegensatz zu Duncan schüttete er das Wasser mit einem einzigen Schluck hinunter. Als er das Glas auf dem Tisch absetzte, hörte es sich unnatürlich laut an. 

»Nun bist du also tatsächlich frei.« Er vermied es, Duncan anzusehen. »Was willst du hier?« 

Auch Duncan stellte sein Glas ab. »Mich bedanken. Für das, was Ihr für meinen Vater getan habt. Ihr habt ihm das Leben gerettet.« 

McIntyre wirkte fast erleichtert, seine Schultern sanken herab. »Nun«, brummte er. »Dazu ist ein Arzt schließlich da.« 

»Außerdem habe ich etwas für Euch.« Duncan griff hinter sich und reichte McIntyre das längliche Bündel. 

Der Doktor sah ihn in einer Mischung aus Hoffnung und Unglauben an, dann schob er sein Glas und den Krug zurück, legte das Bündel auf den Tisch und begann, es mit Bedacht aufzuschnüren. Ein schmales, metallenes Rohr kam zum Vorschein. 

McIntyres Wangen bekamen hektische Flecken. »Das oculus introspectans!«, stieß er hervor. Das Rohr war ein wenig ramponiert und an einer Stelle plattgedrückt; nichts, was man nicht wieder hätte richten können. »Wo hast du es gefunden?« 

»Außerhalb von Parramatta. Halb im Uferschlamm begraben.« 

War es wirklich Zufall gewesen, dass ihm der silbrige Schimmer unter all dem Gestrüpp und angeschwemmtem Treibgut aufgefallen war? Duncan glaubte nicht an Zufall. Aber wegen dieses Rohrs hatte es zum ersten Mal Streit zwischen Moira und ihm gegeben. Sie hatte nicht gewollt, dass er dieses Ding, dessen Zweck sich ihr nicht erschloss und den er ihr auch nicht erklären wollte, weil er noch immer zu seinem Wort stand, zurück zu McIntyre brachte. 

»Er hat eine Waffe auf dich gerichtet!«, hatte sie gegrollt. »Du bist ihm zu nichts mehr verpflichtet!« 

Das war sicher richtig, und doch empfand er es so. 

McIntyre strich fast zärtlich über das dünne, metallene Rohr. »Das ist … sehr freundlich von dir«, brachte er schließlich stockend hervor. Die Worte kosteten ihn sichtbar Überwindung. »Es war in der Truhe«, sprach er dann unvermittelt weiter. Duncan hatte den Eindruck, als hätte der Doktor plötzlich das Bedürfnis, mit ihm darüber zu reden. Und so erfuhr er, dass die Truhe, in der McIntyre seine Forschungsunterlagen gesammelt hatte, davongeschwemmt worden war. Man hatte sie vorgestern flussabwärts entdeckt, mit zerkratztem Deckel und einer eingedrückten Seitenwand, und was von McIntyres Notizen noch vorhanden war, war durchweicht und die Tinte unlesbar zerlaufen. Und das oculus war verschwunden. Bei der Erinnerung glitt für einen Moment Schmerz über sein Gesicht. »Ann und ich konnten einige meiner Notizen retten. Ich überlege, die Ergebnisse meiner Forschungen noch einmal neu niederzuschreiben und dann zu publizieren. Vielleicht lege ich es auch erst einigen Kollegen vor. Ich dachte da an Dr. Balmain und Dr. Wentworth.« 

McIntyre hatte mehr zu sich selbst gesprochen, und so schwieg Duncan. Er war kein Arzt, was hätte er auch sagen sollen? Schließlich nickte er. 

Der Doktor zögerte, strich erneut über das Rohr. Er schien mit sich zu ringen, dann gab er sich einen Ruck und schaute auf. 

»Du … du könntest dir nicht vorstellen, dieses oculus zu reparieren? Natürlich gegen Bezahlung«, fügte er rasch dazu. »Und vielleicht … noch ein weiteres Modell herzustellen?« 

* 

Moira griff zum wiederholten Mal in den mit Gras vermischten Lehm, nahm eine Handvoll der angenehm kühlen, klebrigen Masse heraus und beschmierte damit die Wand aus ineinandergeflochtenen Ästen und Zweigen. Ein bisschen kam sie sich dabei vor wie Robinson Crusoe, jenem einsamen Schiffbrüchigen aus Mr Defoes Roman. Für ihre Behausung hatten sie etliche schlanke Akazienstämme aufrecht in den Boden getrieben und dazwischen dünne Ruten eingeflochten. Zwei rechteckige Aussparungen, die nicht mit Flechtwerk ausgefüllt worden waren, bildeten die Fenster. Jetzt fehlte nur noch der Lehmverputz. Auf diese Art hatten bereits die ersten Siedler in der Botany Bay ihre Hütten errichtet, hatte Wentworth erzählt. Dankenswerterweise hatten sie auch von den Eora Unterstützung bekommen, die sie mit Holz, Rinde und manchmal auch mit Essen versorgt hatten. 

Sobald Moira etwas Zeit hätte, wollte sie ihren Eltern schreiben. Was sie wohl zu all diesen neuen Entwicklungen sagen würden? Mutter würde natürlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, und auch ihr Vater wäre sicher wenig erfreut darüber. Aber vielleicht würde wenigstens ihre Schwester Ivy sie verstehen. 

Sie blickte auf und strich sich mit dem Handrücken eine Strähne zurück unter den Sonnenhut. Ein kleines, graupelziges Känguru näherte sich ihr mit diesen seltsam hüpfenden Bewegungen, die sie bei keinem anderen Tier je gesehen hatte. Dann ließ es sich keine zwei Schritt entfernt neben ihr auf seinen kräftigen Hinterbeinen nieder und beäugte wachsam, was Moira da tat. 

Moira lächelte, wischte sich die lehmbeschmierten Hände notdürftig an einem alten Tuch sauber und streckte vorsichtig einen Arm aus. Das Känguru machte den Hals lang und schnupperte an Moiras Hand, die großen dunklen Augen hinter den langen Wimpern blickten sanftmütig. Dann rümpfte es die Nase und sprang davon. 

Moira sah ihm hinterher und ließ ihren Blick über das noch unbestellte Stück Land schweifen, das nun ihnen – nein, Duncan – gehörte. Nördlich von Parramatta, nicht weit entfernt von Wentworths Farm, voller Gras und Sträucher und hier und da ein paar Bäume, die sich in einen unglaublich blauen Himmel erhoben. Sie hatten es gemeinsam abgemessen; dreihundert mal vierhundert Schritte. Auf einem Teil davon würden sie Mais anpflanzen und vielleicht auch Weizen. Und später einmal wollten sie Schafe züchten. Oder Pferde. Im Geist sah sie schon eine kleine Herde von kräftigen Rappen, Braunen und Füchsen vor sich, die sich auf der Wiese tummelten. 

Im Süden grenzte ihre Parzelle an einen schmalen Bachlauf, und dahinter begann das Land von Mr Betts, ihrem Nachbarn. Von dort sah sie jetzt Duncan mit großen Schritten kommen, und das Herz hüpfte ihr vor Freude. Er trug ein zusammengewickeltes Tuch unter dem Arm, das er jetzt neben sich legte. 

»Ich bin schrecklich schmutzig!«, lachte sie, als er sie umarmen wollte, und entwand sich ihm. »Was hast du da?« 

»Eine Überraschung.« Er setzte sich neben sie ins Gras und erzählte ihr von Joseph, von dem ehemaligen Major und davon, dass es mehr als genug Arbeit gebe, mit der er etwas Geld verdienen könnte. »Ich kann als Kesselflicker arbeiten und auf den Feldern.« Er schwieg einen Moment. »Und für den Doktor«, setzte er dann hinzu. 

»Du denkst doch nicht etwa daran, das zu tun?« 

»Doch«, sagte er. »Das denke ich.« 

Moira schluckte eine heftige Erwiderung hinunter. Es war Duncans Entscheidung, und sie war viel zu glücklich, um sich darüber aufzuregen. Und vielleicht hatte er sogar recht, schließlich sollte man sich McIntyre nicht noch mehr zum Feind machen. 

McIntyre hatte in eine Trennung eingewilligt und sich bereit erklärt, Moira einen kleinen monatlichen Betrag zu zahlen, schließlich war sie noch immer seine Ehefrau und er daher von Gesetzes wegen verpflichtet, für sie zu sorgen. Auch wenn diese Regelung ein gewisses Maß an finanzieller Sicherheit bot, behagte sie weder ihr noch Duncan. Am liebsten hätte Moira nie wieder etwas mit McIntyre zu tun gehabt. Aber eine andere Lösung war nicht möglich. McIntyre würde nie den Skandal einer Scheidung auf sich nehmen, die noch dazu langwierig und äußerst kostspielig war, sofern sie überhaupt Aussicht auf Erfolg hatte. Aber hatte nicht schon D’Arcy Wentworth unverheiratet mit einer ehemaligen Sträflingsfrau zusammengelebt und damit gezeigt, dass man sich hier, in diesem fernen Land weit weg von Europa, nicht unbedingt um die Konventionen scheren musste? 

Duncan wickelte das Tuch auf und legte ihr ein in schwarzes Leder gebundenes Buch in den Schoß. »Ich habe den Doktor gefragt, ob ich sie haben kann.« 

»Meine Bibel!« Moira strich mit einem halbwegs sauberen Fingerknöchel über den Einband und musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie sie vor vielen Monaten Duncan damit in der Küche angetroffen hatte – und an das anregende Bibelstechen … 

»Es war aus dem Hohelied der Liebe«, murmelte sie. 

»Was?« 

»Was ich dir damals nicht aus der Bibel vorlesen wollte. ›Meinem Freund gehöre ich, nach mir steht sein Verlangen.‹« 

»Tut es das?« Duncan lächelte, dann schnupperte er und blickte suchend um sich. »Was riecht hier eigentlich so seltsam?« 

Moira legte die Bibel zurück in das Tuch und deutete auf den Topf, den sie nach draußen gebracht hatte, um den Gestank nicht in der Hütte zu haben. »Ningali hat Wurzeln und ein Stück Fleisch gebracht, und ich habe versucht, daraus einen Eintopf zu kochen.« Sie verzog schuldbewusst den Mund und hob die Schultern. »Er ist ganz fürchterlich angebrannt.« 

Sie war nie in die Kunst des Kochens eingeweiht worden. Das war auch nicht nötig gewesen; eine Dame, so pflegte sich ihre Mutter auszudrücken, hatte dafür schließlich Personal. 

Duncan öffnete den Topfdeckel, um einen Blick hineinzuwerfen, rümpfte die Nase – und schloss den Deckel schnell wieder. 

»Meine kleine Schwester war also hier?«, fragte er beiläufig. 

Moira nickte mit einem nachsichtigen Lächeln. Seit Duncan von seiner Familie wusste, ließ er kaum eine Gelegenheit aus, darüber zu sprechen. »Wahrscheinlich steckt sie noch irgendwo in der Gegend. Sie und ihr Dingo.« 

Sie warf einen Blick des Bedauerns auf den Topf mit dem angebrannten Essen. »Vielleicht sollte ich noch einmal zu D’Arcy gehen und um Brot und Zwiebeln bitten. Hoffentlich bereut er nicht schon, dass er uns seine Unterstützung angeboten hat.« 

»Lass dem armen Dr. Wentworth etwas Gnadenfrist. Wir werden noch oft genug vor seiner Tür stehen, wenn du wieder den Kochlöffel schwingst.« Duncan schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich mit einer Frau zusammenleben soll, die so grauenvoll kocht.« 

»Na warte!« Moira griff in den Eimer mit Lehm und warf einen Klumpen nach ihm. Er wich aus, und der Klumpen landete im Gras. Im nächsten Moment war Duncan aufgesprungen und versuchte, sich auf sie zu stürzen. Moira war schneller, entwischte ihm, stolperte fast über den Eimer, fing sich aber und rannte davon. Ihr Sonnenhut fiel ins Gras. Duncan setzte ihr nach und jagte sie um die Hütte. Er erwischte sie, als sie vor lauter Lachen nicht mehr weiterkonnte. 

»Meine kleine Wildkatze …« Er umfing sie von hinten und presste sich an sie. Sie lehnte sich gegen ihn, spürte ihren raschen Herzschlag an ihrem Hals und den seinen dicht daneben. 

»Ich werde Mr Betts bitten, mir seinen Pflug zu leihen«, murmelte er in ihr Haar. »Und dann werde ich anfangen, das Feld zu pflügen. Aber das«, er küsste sie auf den Scheitel, »hat Zeit bis morgen.« 

Er drehte sie um und küsste ihre Augenlider. Moira atmete schneller, und das nicht nur, weil sie gerannt war. Sie ließ sich in seine Umarmung fallen. Dann hob er sie hoch und trug sie in ihre kleine Hütte zu ihrem Schlafplatz aus Stroh, Fellen und Decken. Und diesmal versuchte sie gar nicht erst, leise zu sein. 

Als der Abend hereingebrochen war und sich die Geräusche der Nacht herabgesenkt hatten, trat Moira noch einmal vor die Tür der kleinen Hütte, dort, wo sie demnächst eine einfache Veranda bauen würden. Die Nacht umfing sie mit samtiger Wärme, das Zirpen der Grillen tönte durch die Luft. Sie stand ganz still, blickte über das Land, das sich da im Dunkeln vor ihr erstreckte. Dann richtete sie den Blick nach oben, hinauf in den nächtlichen Himmel, wo die schmale Mondsichel schimmerte und tausend Sterne wie Edelsteine in einem Bett aus schwarzem Samt funkelten. Sie breitete die Arme aus, atmete tief durch und ließ sich durchströmen vom Geist des Landes, dieses fremden, wunderbaren Landes. 

Sie war angekommen. Hier, in dieser kleinen, leicht schiefen Hütte, die sie in all ihrer Unvollkommenheit selbst gebaut hatten, fühlte sie sich endlich zu Hause. 

Und das Leben steckte voller neuer Möglichkeiten. 

* 

Im Dunkel der Nacht glomm das Herdfeuer der kleinen Hütte als warmer Schein durch die Ritzen in den Flechtwänden und ergoss sich als schmaler Streifen aus der Türöffnung. Ningali beobachtete, wie Mo-Ra Zwiesprache hielt mit dem Land, das die Ahnen einst ins Leben gesungen hatten. Auch Dan-Kin trat jetzt heraus, legte die Arme um Mo-Ra und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann gingen beide wieder hinein. Bald darauf vernahm Ningali erneut die wohligen kleinen Laute, die klangen, als würde Mo-Ra etwas ganz ausnehmend gut gefallen. 

Einen Moment lang war Stille, dann hörte sie ihren Bruder und Mo-Ra miteinander reden und leise lachen. Auch Ningali lachte, lautlos und glücklich. Sie würde auf die beiden aufpassen, so, wie sie es schon lange getan hatte. Aber jetzt war es Zeit, sie alleine zu lassen. 

Sie legte dem Dingo kurz die Hand auf den Kopf, dann drehte sie sich um und verschwand zwischen den Bäumen.