23. 

 

blume»Es kann doch nicht verschwunden sein!« Allmählich war Joseph die Ratlosigkeit anzusehen. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich es hier irgendwo versteckt habe.« 

Duncan kam es vor, als suchten sie bereits seit Stunden. Konnte jemand das Boot genommen haben? Dieses Gebiet war nicht gänzlich unbewohnt, wie die Reste einer Feuerstelle bewiesen; einige Eingeborenen-Clans hatten an diesem Platz ihre Fischgründe, wie Joseph ihm erzählt hatte, und auch der eine oder andere Sträfling hatte hier sicher schon Zuflucht gesucht. 

Die Bäume wuchsen fast bis ans Wasser, nur ein schmaler steiniger Uferkranz säumte die halbkreisförmige Bucht, an die Joseph sie geführt hatte. In ihrer Mitte erhob sich eine kleine bewaldete Insel. Dahinter, so hatte Joseph erklärt, läge westlich die Mündung des Hawkesbury, nach Osten hingegen käme man ins offene Meer. 

Der größere der beiden Eora-Männer, die sie begleiteten, stieß einen leisen Ruf aus und winkte. Das kleine Boot lag kieloben im Dickicht, von Schlingpflanzen nahezu vollständig überwuchert. Mit Steinmessern und bloßen Händen räumten sie die zähen Ranken beiseite. Zwei Paddel kamen zum Vorschein. Auf den ersten Blick sah das Boot, das gerade eben Platz für drei Personen bot, unbeschädigt aus, aber dann erblickte Duncan etliche winzige, kreisrunde Löcher – das Werk von Holzkäfern. Ob sie damit eine längere Seefahrt überstehen würden? 

»Das wird schon gehen«, behauptete Samuel leichthin, als hätte er seine Gedanken erraten. Er wollte das Boot bereits durch das Gebüsch ziehen, als sich zeigte, dass eines der Paddel einen langen Riss hatte und zu brechen drohte. 

Joseph nutzte die erzwungene Pause, um Duncan und Samuel zu erklären, an welchen Landmarken sie sich orientieren mussten, um zur Mündung des Hawkesbury zu kommen. In der Zwischenzeit schienten die beiden Eora das Paddel mit einer behelfsmäßigen Konstruktion aus einem dicken Ast und Pflanzenfasern und stopften die kleinen Wurmlöcher so gut es ging mit Moos und Holzstückchen aus. Samuel wartete ungeduldig, bis sie fertig waren, dann schleifte er das Boot ans steinige Ufer. 

»Was tust du?«, fragte Duncan. »Moira ist noch nicht da!« 

»Ich will nur sehen, ob es schwimmt.« Samuel versetzte dem Boot einen Stoß, bis es auf den leichten Wellen schaukelte, dann zog er es wieder ans Ufer. »Na also. Damit paddle ich bis nach Timor!« Er grinste breit, als Duncan ihn argwöhnisch ansah, und stieß ihn in die Seite. »He, war nur ein Scherz! Aber sobald ich was gegessen habe, kann’s von mir aus losgehen.« Er stapfte zurück an den Rand des Waldes, wo Joseph und die beiden Eora ein kleines Feuer entfacht hatten. 

Duncan blieb stehen und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Es war Nachmittag, das Licht war ein trüber Schein, die Wolken hingen tief und schienen in der drückenden Hitze ihre Last kaum tragen zu können. Fast wünschte er, es würde anfangen zu regnen, damit sich diese unheilschwangere Spannung löste. Im Nordosten, dort, wo das Meer sein sollte, war der Himmel dunkelgrau. 

Rauch und der Geruch nach Gebratenem drangen ihm in die Nase. Vielleicht hätte er wie Samuel etwas essen sollen, aber dafür war er viel zu unruhig. Sein Blick ging zurück zum Wald. Wo blieb Moira nur? Hatte Ningali sie überhaupt gefunden? War ihnen etwas passiert? Oder waren sie aufgehalten worden? Joseph hatte behauptet, Ningali sei schon einmal an dieser Bucht gewesen. Aber die beiden waren allein in der Wildnis unterwegs. Sicher, Ningali kannte den Busch, aber sie war noch ein Kind, wenn auch ein ungewöhnliches. Ihnen konnte Gott weiß was zugestoßen sein – gefährliche Tiere, Soldaten … Plötzliche Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er murmelte ein kurzes Gebet, dann atmete er tief ein und verbot sich jeden weiteren düsteren Gedanken. Sie würden kommen. 

* 

Der Dingo trabte hechelnd neben ihnen her. Unmengen kleiner Stechmücken schienen es darauf abgesehen zu haben, sie lebendig aufzufressen. Mo-Ra versuchte ständig, die winzigen Biester mit der freien Hand zu vertreiben. Dennoch schien sie glücklich und voller Erwartung. Auch Ningali freute sich darauf, Dan-Kin wiederzusehen. Ihren Bruder. So frisch war dieses Wissen, dass sie es noch nicht einordnen konnte. 

Dann hallte weit entfernt ein grauenhafter Schrei durch den Busch. Sie vernahm mehrere dumpfe Donnerschläge, dann weitere Schreie. 

»Duncan!«, stieß Mo-Ra hervor und wollte das Pferd wenden, hin zu dem Gebrüll, das nun fast nichts Menschliches mehr an sich hatte. 

Ningali drehte sich um, zog an ihrem Ärmel und schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie lauschte. Dann griff sie in den aus Gras geflochtenen Beutel, der an ihrem Hüftband hing, und holte das golden glänzende Ding daraus hervor, das Major gehörte. 

Wieder gellten die Schreie durch den Wald – die Schreie eines Menschen in höchster Todesnot. Der Sumpf war tückisch. Erhielt Major nun seine gerechte Strafe? Nein, das war nicht Major. 

»Was hast du da?«, fragte Mo-Ra. Schwarze Haarsträhnen klebten ihr feucht an Stirn und Schläfe, ihre Züge waren noch immer angespannt. 

Ningali lächelte, ohne zu antworten. Wie hätte sie Mo-Ra auch erklären können, was es mit dem Totsingen auf sich hatte? Das Totsingen war ein machtvoller Zauber. Einer, der stets zum Ziel führte, auch wenn er manchmal länger brauchte. 

Die Schreie erstarben allmählich. Sie steckte das goldene Behältnis wieder ein. Es war noch nicht vorbei. Aber sie hatte Zeit. Viel Zeit. 

* 

Die schauderhaften Schreie waren endlich verstummt. Verstohlen berührte Alistair den Knauf der Pistole, die nun in ihrem Halfter an seinem Sattel befestigt war. Sergeant Gillet hatte darauf bestanden, dass Alistair die Waffe des unglücklichen Higgins an sich nahm, schließlich konnte niemand sagen, welche Schrecken in dieser grünen Hölle noch auf sie lauerten. 

Sie waren jetzt nur noch zu viert. Die Zähne des Krokodils hatten den Unterschenkel des Majors verletzt. Alistair hatte einen Blick auf die Wunden geworfen und es danach als seine ärztliche Pflicht angesehen, Major Penrith zurück nach Parramatta zu schicken. Erstaunlicherweise hatte der Major dem nicht widersprochen; er schien doch stärker mitgenommen zu sein, als er zugeben wollte. Dass Alistair ihn begleitete, hatte er allerdings strikt abgelehnt und stattdessen einen der Soldaten mitgenommen. Zudem hatte er Sergeant Gillet das Kommando über ihren kleinen Suchtrupp übertragen mit dem Befehl, ja nicht ohne die beiden Flüchtigen zurückzukommen. 

Inzwischen lag der Sumpf hinter ihnen, sie konnten wieder reiten. Dabei wollte Alistair nur noch nach Hause. Er wollte diese grässlichen Bilder, die ihn von Higgins’ Tod verfolgten, aus seinem Kopf streichen und sich wieder in seine Arbeit stürzen. Und vor allem wollte er fort aus diesem schrecklichen Busch. Aber statt endlich umzukehren, mussten sie noch immer O’Sullivan und dem anderen Flüchtling nachspüren. 

Sie ritten durch lichteres Gelände, als sich eine Schlange direkt vor ihm über den Boden wand. Alistairs Pferd scheute, bäumte sich kurz auf – und stürmte mit ihm davon. Zu Tode erschrocken krallte er sich an den Zügeln fest, zog den Kopf ein und klammerte sich mit den Beinen eng an den Pferdekörper, nur darauf bedacht, nicht herunterzufallen. 

»Ho!«, rief er verzweifelt und zerrte an den Zügeln. »Ho!« 

Es nützte nichts. Rechts und links von ihm schossen Bäume und Gestrüpp vorüber, Äste peitschten schmerzhaft gegen seine Beine und in sein Gesicht. Weiter und weiter ging der mörderische Ritt, er hüpfte auf dem harten Sattel auf und ab und stöhnte immer wieder vor Schmerz auf. Angstvoll schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich nicht plötzlich vor ihm eine Klippe auftat und er und das Pferd in den Tod stürzten. Oder in einem Tümpel mit einem Krokodil landeten. 

Der entsetzliche Ritt schien ihm Stunden zu dauern, dabei waren es sicher nur einige Minuten. Irgendwann hatte sich das Pferd wieder so weit beruhigt, dass es in eine langsamere Gangart fiel. Zitternd und in Schweiß gebadet, zog Alistair am Zügel und brachte es ganz zum Stehen. Dann stieg er vorsichtig aus dem Sattel, jederzeit befürchtend, dass der verdammte Gaul wieder mit ihm durchging, während er noch den Fuß im Steigbügel hatte. 

Wo war er? Wie weit hatte er sich von den anderen entfernt? Der Busch schien hier noch lichter geworden zu sein, fast glaubte er, er könne weiter vorne eine freie Fläche durch die Bäume schimmern sehen. 

Das Pferd atmete genauso heftig wie er selbst, Schweiß bedeckte das hellgraue Fell. Alistair musste sich zurückhalten, dem Tier nicht aus lauter Wut einen Schlag zu versetzen. Er holte Higgins’ Pistole aus ihrem Halfter, griff nach dem Zügel und marschierte, noch etwas wackelig auf den Beinen, los. 

Er hatte recht gehabt: Der Wald hatte ein Ende. Als er zwischen den Bäumen heraustrat, schüttelte er den Kopf und seufzte laut auf. Er hatte gehofft, wieder in bewohntem Gebiet zu sein, aber hier sah er sich nur einer Wasserfläche gegenüber. Der schmale Uferstreifen war aus sandfarbenem Geröll und ging in das trübe Wasser eines großen Sees oder Flusses über. Kleine Wellen schwappten an das steinige Ufer. Links vor ihm erhob sich eine bewaldete Insel aus dem Gewässer. Keine Menschenseele war zu sehen. 

Ob er zurück in den Busch gehen und dort nach den Soldaten suchen sollte? Er verwarf den Gedanken. Gott allein mochte wissen, wie weit er sich von ihnen entfernt hatte, und in diesem undurchdringlichen Dschungel würde er sich doch nur verirren. Und so band er das Pferd am Waldrand an einen Baum, während er ärgerlich die Stechmücken fortwedelte. 

Seine Zunge war trocken vor Durst. Er trat vor bis ans Ufer, kniete nieder und schöpfte Wasser, aber schon nach dem ersten Schluck spuckte er angewidert wieder aus. Das war Salzwasser, wenn auch stark verdünnt. Nicht zum Trinken geeignet. Wahrscheinlich mischte sich hier ein Binnengewässer mit dem Ozean. Er löste sein Halstuch, benetzte es und fuhr sich damit über Gesicht und Nacken. 

Sein Durst war noch schlimmer geworden. Er blickte sich um. Den Strand entlang zu seiner Linken ragte eine Landnase ins Wasser, dahinter sah er eine schmale Rauchfahne aufsteigen. Dorthin würde er gehen; sicher gab es da jemanden, der ihm weiterhelfen konnte. Aber vorher würde er Sergeant Gillet und den anderen Soldaten ein Zeichen hinterlassen. Er legte aus größeren Steinen einen Pfeil und band zur Sicherheit noch sein Halstuch um einen Ast und steckte ihn dazu. 

* 

»Duncan!« Moiras Knie wurden weich vor Freude und Erleichterung, als sie ihn erblickte. Fast wäre sie gefallen, als sie über den steinigen Uferbereich auf ihn zulief. Und als sie ihn endlich erreicht hatte, umarmte er sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. 

Atemlos und wie berauscht vor Glück stolperten die Fragen aus ihrem Mund. »Wie geht es dir? Wo bist du gewesen? Was hast du getan?« 

»Das sind zu viele Fragen auf einmal!«, lachte er. 

Auch Moira lachte. »Bist du allein? Mit wem bist du hier?« 

Duncans Augen leuchteten. »Sie sind alle dahinten.« Er deutete auf eine kleine Rauchsäule, die aus dem Busch aufstieg. Am Ufer lag ein kleines Paddelboot. July war nicht mehr zu sehen; wahrscheinlich hatte sie sich zu ihren Leuten gesellt. 

Er nahm ihre Hände in seine und blickte sie an. Die Schatten unter seinen Augen kündeten von zu wenig Schlaf, aber er lächelte. Ein leichter Wind wehte ihm die dunkelbraunen Haare ins Gesicht. »Moira, möchtest du mit mir fortgehen?« 

»Ja! Ja, das will ich! Ich gehe überall hin mit dir.« 

Er schloss sie erneut in die Arme. Dann erzählte er in kurzen, atemlosen Sätzen von seinen Plänen und davon, dass Fitzgerald sie anfangs begleiten würde, und Moira nickte und lachte und sagte immer nur: »Ja! Ja!« 

»Joseph ist schon an der Mündung des Hawkesbury gewesen. Er sagt, dort könnten wir uns niederlassen. Dort seien wir sicher«, sprudelte es aus Duncan heraus. Moira hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Geräuschvoll schwappte das Wasser ans Ufer, eine kräftige Windböe zerrte an ihren Haaren. 

»Was?«, lachte sie. »Wer ist Joseph?« 

»Mein Vater! Stell dir vor, er –« Duncan erstarrte mitten im Satz. Keine zwei Schritte von ihnen entfernt stand McIntyre. Er sah etwas derangiert aus, sein Haar war zerzaust und über seine Wange verlief eine rötliche Strieme. Und er hatte eine Pistole in der Hand, die er jetzt auf Duncan richtete. Moiras Herz setzte für einen Moment aus. 

»Wo ist dein Komplize?« 

Duncan schob sich langsam ein Stück vor Moira. Die Pistole folgte seiner Bewegung. »Er ist nicht hier.« 

McIntyres Blick huschte kurz und suchend an ihm vorbei, dann heftete er sich wieder auf Duncan. Ob er ihm glaubte? Moira biss sich auf die Lippen, ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihre Rippen. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem plötzlichen Alptraum gefangen. McIntyre war sicherlich nicht allein. Wer war mit ihm gekommen? Womöglich der Major? Ein Trupp Rotröcke? 

McIntyre richtete die Waffe ein wenig höher; jetzt zeigte sie genau zwischen Duncans Augen. Der Hahn war nicht gespannt, aber McIntyres Daumen lag so, dass er es jederzeit tun konnte. 

Er leckte sich nervös über die Lippen. »Du wirst jetzt mit mir kommen.« 

»Nein«, murmelte Moira fast ohne Stimme. Ihr war übel vor Angst. Sie trat einen kleinen Schritt zur Seite, heraus aus Duncans Deckung. Vielleicht gelang es ihr ja, McIntyre von ihm abzulenken? 

Duncan stand ganz ruhig, dann schüttelte er langsam den Kopf, ohne den Blick von McIntyre zu nehmen. »Ich werde mit Moira fortgehen.« 

»Du wirst mir nicht noch einmal meine Frau wegnehmen!« 

Duncan blickte ihn unverwandt an. »Doch, das werde ich. Ihr müsst mich schon erschießen, wenn Ihr das verhindern wollt.« 

McIntyre schluckte, er schwitzte. Schweiß rann ihm von der Stirn über das Gesicht bis in den Hemdkragen. Die Waffe, die er auf Duncan gerichtet hatte, zitterte ein wenig. 

»Wieso?«, flüsterte er so leise, dass Moira ihn kaum verstehen konnte. Sie nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und wandte den Kopf; eine kleine Gruppe von Eingeborenen näherte sich ihnen. Drei Männer – und July. Einer der Männer trug einen Speer. Auch Duncan hatte sie gesehen. Langsam hob er eine Hand und signalisierte den Eingeborenen zu warten. 

»Ihr solltet besser die Waffe senken, wenn Ihr nicht gleich von einem Speer durchbohrt werden wollt.« 

McIntyre blickte sich fahrig um, stieß einen erschrockenen Laut aus – und ließ tatsächlich die Pistole sinken. 

»Gebt sie mir«, forderte Duncan und streckte die Hand aus. 

»Und dann? Willst du mich erschießen?« 

»Haltet Ihr mich für einen Mörder?« 

McIntyre zögerte, dann schüttelte er den Kopf und übergab Duncan die Pistole.  

Moira atmete erleichtert auf, für einen Moment wurde ihr richtiggehend schwindelig. Am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle hingesetzt. 

»Die Waffe weg!«, ertönte es plötzlich hinter ihnen. 

Moira hatte das Gefühl, als würden sich all ihre Knochen mit Eis überziehen: Drei Soldaten des New South Wales Corps näherten sich ihnen mit angelegten Musketen. Und sie würden nicht zögern zu schießen, das wusste auch Duncan. Er ließ die Pistole fallen. 

»Alles in Ordnung, Dr. McIntyre?«, rief der vorderste der Rotröcke, ein storchenbeiniger junger Mann. Moira erinnerte sich dunkel, ihn schon einmal in Begleitung des Majors gesehen zu haben. »Wir sind Eurem Zeichen gefolgt. Ist das O’Sullivan?« 

McIntyre nickte, aber bevor er etwas sagen konnte, erscholl ein lauter Ruf von einem der Soldaten: »Da ist der Zweite, Sir! Er will abhauen!« 

Moira fuhr herum. Unbeachtet von den anderen hatte Fitzgerald das Boot ins Wasser geschoben, war hineingesprungen und entfernte sich nun mit schnellen Paddelschlägen vom Ufer. In dem Boot, das für sie drei gedacht war! 

»Nein!«, schrie sie auf. »Nein! Bleibt hier, Ihr … Ihr Mistkerl!« 

Schüsse peitschten durch die Luft und zischten durch das Wasser. Die Soldaten schossen auf den Flüchtigen. Ein Schrei ertönte, es sah aus, als sei Fitzgerald getroffen. Er lehnte schwer zur Seite und brachte das Boot fast zum Kentern. Aber im nächsten Moment richtete er sich wieder auf und ergriff das Paddel. 

Das Boot war verloren, schoss es Moira durch den Kopf. Und hier gab es McIntyre und drei Rotröcke, die hinter Duncan her waren. Aber noch waren sie damit beschäftigt, ihre Musketen zu laden … 

»Lauf!«, sagte sie hastig zu Duncan. »Schnell! Versteck dich im Busch.« 

Er sah sie nur an und rührte sich nicht. 

»Duncan, bitte! Bring dich in Sicherheit! Sie werden dich hängen, wenn du nicht ver–« Sie verstummte, als McIntyre die Pistole auf sie richtete. Er musste sie aufgehoben haben, nachdem Duncan sie fallen gelassen hatte. Angst kroch in ihr hoch, ihre Muskeln spannten sich. 

»Keine Bewegung, O’Sullivan, oder ich erschieße sie.« McIntyres Stimme klang nun, anders als vorhin, sehr entschlossen. 

»Sir, Dr. McIntyre, bitte …« Duncan machte einen Schritt auf ihn zu, aber sofort zuckte die Waffe weiter nach oben, direkt auf Moiras Stirn. 

»Ich sagte, keine Bewegung, oder sie ist tot!« 

Moira warf Duncan einen gehetzten Blick zu. »Lauf! Er wird mir schon nichts tun!« 

»Da wäre ich mir nicht so sicher!« McIntyres Mundwinkel verzogen sich höhnisch. »Ich hätte jedes Recht der Welt dazu. Niemand wird mich dafür belangen, wenn ich meine untreue Frau erschieße. Sag mir einen Grund«, wandte er sich an Duncan, »weshalb ich es nicht tun sollte.« 

Duncan stieß einen verzweifelten Laut aus. »Weil sie … Weil Ihr … kein schlechter Mensch seid. Dr. McIntyre, bitte! Ihr seid Arzt. Ein Arzt rettet Leben, aber er nimmt es nicht!« 

Moira atmete gepresst. Die Angst, die sie jetzt ausfüllte, war anders als die, die sie vorhin um Duncan gehabt hatte, aber nicht weniger lähmend. Wenn McIntyre jetzt abdrückte, würde die Kugel ihren Schädel zerschmettern. 

Sie bemerkte kaum die Stimmen um sich herum. Dann eine Bewegung am Rande ihres Gesichtsfeldes. Ein Schuss hallte durch die Luft, so laut, dass Moira für einen Moment glaubte, McIntyre habe tatsächlich abgedrückt. Seltsamerweise verspürte sie keinen Schmerz. Dann erst sah sie, dass einer der Eingeborenen taumelte und niedersank. 

Ein Soldat hatte geschossen. Duncan blickte zu den Eingeborenen, und seine Züge wurden starr. »Vater!« 

McIntyre drehte verblüfft den Kopf und ließ die Waffe sinken. Im nächsten Moment hatte Duncan sie in der Hand und wollte sie ins Wasser schleudern. 

»Nicht!«, hielt Moira ihn zurück und nahm die Waffe an sich. Duncan lief los, allerdings nicht in den Wald, sondern zu der kleinen Gruppe von Eingeborenen, die sich wehklagend um den Verletzten scharten. 

Schwer lag der metallverzierte Holzgriff der Pistole in Moiras Hand. Schwer und tödlich. Sie richtete den Lauf auf McIntyre. 

Dieser erbleichte. »Was … was soll das?« Er riss die Augen auf. »Moira, bitte, mach jetzt keine Dummheiten …« 

Sie konnte ihn hier und jetzt erschießen. Für einen kurzen, wundervollen Moment stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn McIntyre einfach nicht mehr da wäre. Wenn sie frei wäre. Endlich frei … 

»Moira!« Erst Duncans entsetzter Ausruf brachte sie wieder zu sich. Sie warf die Pistole in hohem Bogen ins Wasser und wischte sich zitternd die Handflächen an ihrem Rock ab, als hätte sie in faules Obst gefasst. 

»Dr. McIntyre!« Duncans Stimme war drängend. »Bei allem, was Euch heilig ist, Sir – schnell, ich brauche Eure Hilfe! Er stirbt!« 

McIntyre stand wie versteinert, aber bei diesen Worten ging ein Ruck durch ihn, und gefolgt von Moira eilte er zu der kleinen Eingeborenengruppe. 

Duncan kniete neben dem Verletzten und hatte dessen Kopf in seinen Schoß gelegt. Das war kein Eingeborener, bemerkte Moira erstaunt, auch wenn er auf den ersten Blick so ausgesehen hatte. Es war ein älterer Weißer mit einem grauen Bart. An seiner anderen Seite hockte July mit tränenüberströmtem Gesicht. 

Die Kugel war seitlich in den Brustkorb, dessen nackte Haut von eigenartigen Narben bedeckt war, eingedrungen. Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte aus der Wunde, und obwohl er schwer und keuchend atmete, sah er aus, als würden die Lungen nicht genug Luft schöpfen können. Die Halsvenen hoben sich unnatürlich prall ab, und die Haut hatte einen bläulich grauen Ton angenommen. Moira vermeinte etwas wie ein leises, feuchtes Schlürfen zu hören. 

McIntyre ließ sich neben dem Verletzten nieder, fühlte seinen Puls und lauschte seinem Atem. Dann begann er, mit den Fingern seiner rechten Hand den Brustkorb abzuklopfen. 

Moira kam sich vor, als würde sie alles wie aus weiter Ferne betrachten. In ihren Ohren rauschte es. Hatte sie richtig gehört? Sollte das etwa Duncans Vater sein? Aber wie war das möglich? 

»Sergeant Gillet, habt Ihr ein Messer?«, fragte McIntyre. 

Moira blickte auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass nun auch die Rotröcke bei ihnen standen. 

Der Sergeant grinste. »Wollt Ihr den Hurensohn erstechen, Doktor?« 

»Natürlich nicht. Habt Ihr nun ein Messer?« 

»Nicht für so einen! Diese verdammten Wilden haben einen Speer auf uns geworfen!« 

Moira blickte July an. »Ein Messer!«, stieß sie hervor. »Schnell, hast du ein Messer? Er will ihm helfen!« Was immer McIntyre damit vorhatte, Moira war überzeugt, dass es zum Besten des Verletzten war. 

Das Mädchen sah sie fragend aus verweinten Augen an. 

»Messer.« Moira machte eine Bewegung, als würde sie etwas durchschneiden. Der größere der Eingeborenen streckte ihr eine schmale steinerne Klinge hin, die sie schnell an McIntyre weitergab. Der Bärtige war inzwischen am Rande einer Ohnmacht, seine Hautfarbe wurde zunehmend grauer. 

»Was habt Ihr vor?«, fragte Duncan. Er klang verzweifelt, nicht misstrauisch. 

»Die Lunge ist kollabiert, und in den Raum zwischen Lunge und Rippen ist Luft eingedrungen. Ich muss eine Drainage anlegen. Nur so kann ich den Druck ausgleichen.« 

Moira verstand nicht viel von diesen Erläuterungen, und auch Duncan sah nicht so aus, als hätte er alles begriffen, aber er nickte. 

»Halt ihn fest«, wies McIntyre ihn an. Mit der Linken tastete er auf der verletzten Brustkorbseite nach einer Stelle eine Handbreit unterhalb des Schlüsselbeins und stach dann die Klinge vorsichtig hinein. Der Verletzte zuckte; es gab ein Geräusch wie ein leises Zischen, dann holte er tief und röchelnd Atem. Binnen weniger Augenblicke kehrte seine Farbe wieder zurück. Duncan stieß einen erleichterten Seufzer aus. 

Auch McIntyre atmete hörbar auf. »Die Wunde muss offen gehalten werden.« Er beugte sich erneut über den Verletzten. »Und er muss so schnell wie möglich ins Lazarett.« 

»O’Sullivan!«, ertönte in diesem Moment die Stimme des Sergeants. Die Läufe aller drei Musketen waren auf Duncan gerichtet. »Ich verhafte dich wegen Fluchtversuchs und der Ermordung eines Soldaten Seiner Königlichen Majestät.« 

Ein Knoten aus Angst und Entsetzen ballte sich in Moiras Magen zusammen. »Nein!«, protestierte sie. »Nein! Das … das dürft Ihr nicht!« 

Es war, als hätte man sie überhaupt nicht gehört. Duncan sagte kein Wort, als man ihm unsanft die Arme auf den Rücken drehte und ein Paar eiserne Handschellen anlegte. Er sah Moira an, und der Ausdruck in seinen Augen ließ sie fast aufschreien. So kurz vor dem Ziel und doch alles verloren. 

Mit brennenden Augen warf sie einen Blick hinaus auf die Bucht. Fitzgerald und das Boot waren nur noch ein kleiner Punkt auf dem Wasser, der sich langsam entfernte.