7. 

 

blumeVieles hatte sich geändert. 

Die Geister der Ahnen schwiegen. Es lag nicht lange zurück, dass Ningali mit ihnen hatte sprechen, ihre geheimen Gedanken wahrnehmen, ihren verborgenen Wegen nachspüren können. Aber jetzt waren sie verstummt. Als hätten sie beschlossen, Ningali nicht mehr teilhaben zu lassen am großen Ganzen. 

Die Männer, die Ningali fast jeden Tag beobachtete, rissen die Bäume aus, die für alle Zeiten die Pfade der Ahnen begleitet hatten, schufen neue Wege und neue Flächen. Aus der Erde wuchsen dann fremde Pflanzen. Ningali verstand die Weißen nicht. Dieses Land ernährte sie doch auch so. Wer Hunger hatte, der jagte oder grub nach Wurzeln und sammelte Beeren. Niemand musste dafür das Land verändern. 

Der Vater war jetzt oft weg, öfter noch als sonst. Die Großmutter sagte, er sei einer derjenigen, die sich dem großen Krieger Pemulwuy angeschlossen hatten, um die Fremden zu vertreiben. Ningali wusste nicht, ob es richtig war, was der große Krieger tat. Aber in der letzten Zeit hatte sie vieles gesehen. Vieles, was sie erschreckte. Die Weißen waren ein barbarisches Volk. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie wieder gingen. 

Aber nicht alle Fremden waren so. Mo-Ra war freundlich. Mo-Ra, deren reine, weiße Haut so anders war als ihre eigene. Sie hatte Ningali etwas zu essen geschenkt und sogar einen neuen Namen. Die Weißen mussten immer allem einen Namen geben. 

Niemand wusste von Ningalis Ausflügen hierher. Nicht einmal die Großmutter, die doch eine weise Frau war. Und wenn sie es doch wussten, dann kümmerten sie sich nicht darum. So hielten sie es seit Urzeiten. Wen der Drang zu gehen überkam, der musste ihm nachgeben. Aber Ningali wollte nicht gehen. Sie wollte zu ihm, dem Mann mit den Augen wie der Wald bei Dämmerung. 

Sie hatte ihn beobachtet, seit er hier angekommen war, hatte ihm aus dem Schutz der Bäume heraus zugesehen, wie er mit den anderen den Boden bearbeitete. Manchmal hatte sie sich ihm gezeigt, nur um zu sehen, was geschehen würde. Hatte gewartet, dass er sich ihr offenbarte. Aber er tat es nicht. Sollte sie sich getäuscht haben? War er doch keiner der Ahnengeister? Aber was war es dann, was ihn mit diesem Land verband? Oder zumindest mit ihr, Ningali? 

Doch die Geister der Ahnen schwiegen. 

* 

»Der Schuft kann von Glück reden, dass er einen so milden Richter gefunden hat«, knurrte McIntyre und lehnte sich in dem offenen Zweisitzer zurück. »Im Gericht von Sydney hätte man ihn möglicherweise zum Hängen verurteilt!« 

In Sydney machte man wenig Federlesens mit Verbrechern. Noch immer sprach man von jenem Tag vor zwei Wochen, als Gouverneur Hunter zwei wegen Raubes Verurteilte zum Galgen hatte führen lassen. Erst mit der Schlinge um den Hals hatten sie von ihrer Begnadigung erfahren – ein heilsames Exempel für alle zukünftigen Straftäter. 

Die Kutsche rollte über die sandige Straße, die von Parramatta nach Toongabbie führte. Der Himmel war ein wolkenloses tiefes Blau, die Luft flimmerte vor Hitze. Auch wenn der Anlass eine so unerfreuliche Sache wie die Verhandlung gegen Oberaufseher Holligan gewesen war, so genoss Moira doch die kurze Fahrt. 

McIntyre fuhr sich mit einem Taschentuch über das rote, verschwitzte Gesicht und steckte es wieder in seinen Rockärmel. »Ich will nur hoffen, dass der neue Gouverneur ähnlich streng vorgeht gegen dieses Gesindel.« 

In der Tat sprach jeder von der Ankunft des zukünftigen Gouverneurs. Vor wenigen Tagen war Philip Gidley King in Sydney gelandet. Der amtierende Gouverneur Hunter war abberufen worden und würde demnächst nach England zurückkehren. 

»Der neue Gouverneur soll seine Familie mitgebracht haben. Seine Frau und seine jüngste Tochter«, sagte Moira und brachte damit ihr neuestes Wissen an, das sie aufgeschnappt hatte, während sie auf die Verhandlung warten mussten. »Wie es Mrs King hier wohl gefallen wird? Immerhin ist sie die erste Frau eines Gouverneurs, die ihren Gemahl begleitet.« 

»Sie wird sich hier einleben, genau wie alle anderen Frauen auch«, brummte McIntyre. Er klappte seine silberne Schnupftabaksdose auf, nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger und beförderte sie in sein Nasenloch. 

Moira lauschte seinen nachfolgenden Tiraden nur mit halbem Ohr. Trotz – oder vielleicht auch wegen – des aufregenden Vormittags fühlte sie sich ungewohnt beschwingt. Verstohlen blickte sie an McIntyre vorbei auf den Sträfling vor ihr auf dem Kutschbock. Er trug ein neues Leinenhemd und fuhr den Einspänner mit sicherer Hand. Seit einigen Tagen war er jetzt bei ihnen. Duncan O’Sullivan. Duncan. Ein Name, der sie an die dunklen Moore und Torffeuer der alten Heimat erinnerte. Moira bekam ihn nur selten zu Gesicht. Seit er bei ihnen war, hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Dazu hatte sich einfach noch nicht die Gelegenheit ergeben. 

Er lenkte die Kutsche schweigend, den Blick nach vorne gerichtet. Moira musste lächeln, als sie an seinen Auftritt vor dem Friedensrichter dachte. Man hatte ihm nicht angesehen, wie unwohl er sich fühlen musste, als er seine Aussage machte. Ganz im Gegensatz zu Holligan, der von seinem anfänglichen Hochmut bald zu verzweifeltem Leugnen gewechselt war. Dem Oberaufseher erneut gegenüberstehen und seine Lügen anhören zu müssen hatte ihr Blut zum Kochen gebracht. Angeblich sei er Moira behilflich gewesen. Er habe ihr gerade Wasser gereicht, als ihn der Sträfling hinterrücks und in der Absicht, ihn umzubringen, angegriffen habe. Nur mit Mühe hatte Moira sich während dieser infamen Behauptungen zurückhalten können. Erst danach hatte sie erklären dürfen, was wirklich zwischen ihr und dem Mann vorgefallen war. Da O’Sullivan ihre Aussage bestätigte, wurde Oberaufseher Holligan degradiert und zu hundert Schlägen und einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die körperliche Züchtigung würde man in den nächsten Tagen in Parramatta vollziehen. 

Der in dieser Verhandlung zuständige Laienrichter, von Beruf eigentlich Schuhmacher, war ein gerechter Mann. Auch O’Sullivan wurde zur Verantwortung gezogen. Da er sich unerlaubt von der Arbeit entfernt hatte, verurteilte man ihn zu einer geringen Geldstrafe, die McIntyre als sein Dienstherr für ihn zahlen musste. Damit war der Fall erledigt. 

* 

Das Haus wirkte verlassen. McIntyre war wieder in seinem Studierzimmer, und Ann war zu dem kleinen Laden gegangen, der die Dinge des täglichen Bedarfs ausgab. Moira stand vor der Küchentür. Sie zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie hatte etwas zu erledigen. Etwas, was sie längst hatte tun wollen. 

Die Küche war der einzige Raum im Haus, den O’Sullivan betreten durfte. Hier nahm er seine Mahlzeiten ein. Sonst hatte er sich draußen oder im Kutschenhaus aufzuhalten. 

O’Sullivan war tatsächlich da. Ihn ohne Fesseln und in einem sauberen Hemd zu sehen war noch immer ungewohnt für sie, aber das war es nicht, was sie erstaunte. Er saß an dem einfachen Küchentisch, einen leeren Teller vor sich, und hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, in das er völlig versunken war. Sie erkannte das Buch sofort: Es war ihre Bibel. 

Er bemerkte sie erst, als sie die Tür hinter sich schloss, und sah auf; nicht wirklich erschrocken, eher, als hätte sie ihn aus einem Traum gerissen. Er legte das Buch der Bücher auf den Tisch und erhob sich schnell. »Ma’am.« 

»Das ist meine Bibel.« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, denn plötzlich war sie von einer seltsamen Scheu ergriffen. Ihre Kopfhaut prickelte, als wäre sie ohne Hut zu lange in der Sonne gewesen. 

»Das wusste ich nicht«, gab er zurück. »Sie lag hier auf der Bank.« 

Richtig, jetzt erinnerte sie sich wieder. Nach einigen vergeblichen Versuchen, sich am heutigen Morgen mit der Lektüre der Heiligen Schrift abzulenken, war sie ziellos durch das Haus gewandert. Sie hatte das Buch wohl in der Küche liegenlassen. 

»Ihr könnt lesen?« Die meisten Sträflinge konnten nicht einmal ihren Namen schreiben, geschweige denn ein Buch lesen. 

Er öffnete den Mund zu einer Erwiderung, dann schloss er ihn wieder, als hätte er seine Antwort im letzten Moment heruntergeschluckt, und nickte. »Was kann ich für Euch tun, Ma’am?« 

»Was Ihr … Oh, nichts.« Sie nahm die Bibel in die Hand, um ihre Befangenheit zu überspielen. Der weiche Einband fühlte sich warm unter ihren Fingern an. 

»Ich wollte mich bei Euch bedanken. Für … Ihr wisst schon. Die Sache mit Holligan. Ihr habt Euch meinetwegen in Gefahr begeben. Ihr habt viel riskiert. Dafür … dafür wollte ich Euch von Herzen danken, Mr O’Sullivan.« 

»Mister O’Sullivan?« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein winziges Lächeln. »So hat mich schon lange niemand mehr genannt.« Er neigte den Kopf. »Es war mir eine Ehre, Mrs McIntyre.« 

Mrs McIntyre. Nicht Ma’am. 

»Nur eines verstehe ich nicht«, fuhr Moira hastig fort. »Wieso? Wieso habt Ihr mir geholfen? Und woher wusstet Ihr, was Holligan vorhatte?« 

Er hob die Schultern, das Lächeln war verschwunden. »Ich wusste es nicht. Nicht wirklich. Es war eher ein … Gespür. Etwas, das mir sagte, ich müsse Euch beschützen.« 

Moira sah ihn verblüfft an. Wenn jemand anderes das zu ihr gesagt hätte, hätte sie wahrscheinlich laut aufgelacht. Aber aus seinem Mund klang das ganz natürlich. So, als wäre er tatsächlich dafür bestimmt gewesen, ihr beizustehen. 

»Und das habt Ihr getan.« Sie streckte die Hand aus. »Vielen Dank. Ich stehe in Eurer Schuld.« 

Er sah sie an und ergriff ihre Finger. Seine Hand war warm und rau, der Druck fest. Dann ließ er sie wieder los. Ihre Finger kribbelten. 

Mit einem kleinen Lächeln wies sie in den Raum. »Na ja, immerhin sollte diese Umgebung jetzt mehr nach Eurem Geschmack sein.« Ihre Beine fühlten sich etwas wackelig an. Rasch setzte sie sich auf die einfache Holzbank. »Es ist ziemlich warm heute.« 

In seinen Augen glaubte sie ein amüsiertes Funkeln zu sehen. Dann war es wieder fort. 

»Bitte«, sie wies auf die Bank ihr gegenüber. »Setzt Euch. Und erzählt mir etwas von Euch.« 

Er nahm Platz, so langsam, als wäre das Holz plötzlich lebendig geworden. »Was wollt Ihr wissen?« 

»Woher kommt Ihr? Wo seid Ihr zur Schule gegangen?« 

Er schüttelte den Kopf. »Keine Schule.« 

»Wer hat Euch dann lesen gelehrt?« 

»Vater Mahoney aus Dunmore. Er hat mich aufgezogen, seit ich zwölf Jahre alt war.« 

»Was ist aus ihm geworden?« 

»Er ist tot.« 

»Und er hat Euch aufgezogen? Dann habt Ihr keine Verwandten? Was ist mit Euren Eltern?« 

»Meine Mutter starb früh. Mein Vater wurde … getötet, als ich ein Kind war. Und Grainne O’Sullivan, die einzige Cousine, von der ich weiß, ist bei der Schlacht von Vinegar Hill gefallen.« 

Vinegar Hill. Die Schlacht am Essighügel, bei der Tausende von Rebellen unter der Übermacht der englischen Soldaten ihr Leben ließen. 

»Dann habt Ihr also niemanden, der auf Euch wartet?« 

Er zögerte kurz. »Nein«, sagte er dann. »Niemanden.« 

»Wie traurig. Wart Ihr auch auf Vinegar Hill?« 

Er schüttelte den Kopf. 

»Aber Ihr seid als Rebell verurteilt. Was habt Ihr angestellt?« 

»Nicht mehr und nicht weniger als viele andere. Ich habe Pikenspitzen hergestellt. Aus eingeschmolzenem Ackergerät. Man hat sie im Strohdach meiner Hütte entdeckt.« 

»Deshalb hat man Euch deportiert? Wegen ein paar Pikenspitzen?!« Moira konnte es nicht fassen. 

»Was hattet Ihr denn gedacht, weshalb ich hier bin?« 

»Nun, vielleicht …« Sie kam ins Stocken und ärgerte sich darüber. »Ich dachte, Ihr hättet zumindest einen Rotrock verprügelt.« Ihr Blick fiel auf die Bibel, die noch immer auf dem Tisch lag. Sie deutete darauf. »Was habt Ihr gelesen?« 

»Etwas aus dem Neuen Testament. Aus den Briefen des Paulus.« 

»Wieso gerade diese Stelle?« 

»Weil ich sie beim Bibelstechen getroffen habe.« 

»Ihr stecht nach der Bibel? Mit einem Messer?« Ein kleines Lachen bildete sich in ihrer Kehle. Sie schluckte es hinunter – nicht, dass er dachte, sie würde ihn verspotten. Auch in seinen Augen sah sie ein Lächeln. Sie waren tatsächlich dunkelgrün. Wie Moos nach dem Regen. 

»Mit dem Finger. Vater Mahoney hat es mir gezeigt. Man nimmt die Bibel, schlägt sie an einer beliebigen Seite auf und deutet blindlings auf eine Zeile.« Das winzige Lächeln wurde breiter. »Es klappt sogar mit einer protestantischen Bibel.« 

Moira sah ihn herausfordernd an. »Zeigt es mir!« 

Er streckte die Hand aus, und sie reichte ihm die Bibel. Ohne den Blick von Moira zu nehmen, schlug er das Buch mit beiden Händen auf, hielt es mit der Linken geöffnet und fuhr mit dem rechten Zeigefinger auf der Seite entlang. Dann erst blickte er nach unten. 

»›Alle, die vorübergehen, klatschen in die Hände, pfeifen und schütteln den Kopf über die Tochter Jerusalem: Ist das die Stadt, von der man sagte, sie sei die allerschönste, an der sich alles Land freut?‹« Er las langsam, so wie jemand, der es erst spät gelernt hat. 

»Das ist schön«, sagte Moira. »Gebt sie mir. Ich will es auch versuchen.« 

Sie sah ihn an, dann schloss sie die Augen. Schlug die Bibel blind auf, tippte auf eine Stelle und öffnete die Augen wieder. »›Meinem –‹«, begann sie, dann brach sie ab. Ihre Wangen glühten. Hastig schlug sie das Buch zu. 

»Das gilt nicht!« O’Sullivans Augen glitzerten. »Ihr müsst schon alles vorlesen!« 

»Ich glaube nicht, dass Ihr in der Position seid, mir Vorschriften machen zu können«, gab Moira zurück. Sie spürte, wie die Röte bis zu ihrem Haaransatz kroch. »Nein, das ist meine Bibel, und ich darf es noch einmal versuchen.« Sie schlug eine andere Stelle auf und tippte erneut. »Hier. Das ist besser: ›Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.‹« 

Sie hob den Blick. Hatte er sie etwa die ganze Zeit beobachtet? 

»Was wolltet Ihr nicht vorlesen?« 

»Das geht Euch nicht das Geringste an«, verkündete sie bestimmt und zwang das übermütige Glucksen zurück, das in ihrem Hals aufsteigen wollte. Sie schob die Bibel über den Tisch. »Ihr seid dran.« 

Moira musste später noch lange an diesen Mittag denken. Wie O’Sullivan sie angesehen hatte mit diesen moosgrünen Augen. An die unbeschwerte Leichtigkeit, die sie in seiner Gegenwart empfunden hatte. Aber auch, dass er eine ihrer Fragen nicht beantwortet hatte: Wieso hatte er so viel riskiert, um ihr zu helfen? Und als sie in dieser Nacht die Augen schloss, um McIntyres Beischlaf über sich ergehen zu lassen, kehrten ihre Gedanken zu den Zeilen aus dem Hohelied Salomons zurück. Jenen Zeilen, die sie nicht vorgelesen hatte und die ihr Herz selbst jetzt noch flattern ließ wie ein aufgeregtes Vögelchen: »Meinem Freund gehöre ich, und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen.« 

* 

Das Geräusch schlich sich wie ein Dieb in seinen Schlaf, ein Laut wie ein feines Kratzen. Duncan hielt an seinem Traum fest, wollte ihn nicht gehen lassen, wollte wieder zurückfallen in den wohligen Schlummer. 

Dann war er mit einem Mal hellwach. Das Geräusch kam von unten, wo die Pferde standen. Die Tiere schnaubten unruhig. Er richtete sich im knisternden Stroh auf und lauschte. Jemand hatte die Tür des Kutschenhauses geöffnet. Einer der Eingeborenen? Das war einer der Gründe, weshalb man die Pferde nachts einschloss und ihn hier schlafen ließ. Als Aufpasser, damit die Schwarzen sich nicht daran vergriffen. Oder war es jemand anderes? Für einen winzigen Moment malte er sich aus, es wäre sie, Mrs McIntyre mit den kristallblauen Augen … 

»Duncan?«, flüsterte es in die Stille. 

Fitzgerald! 

Schnell kletterte Duncan die schmale Leiter hinunter, die vom Heuboden nach unten führte. Durch die offene Tür konnte er den zunehmenden Mond am Himmel sehen. Nein, er nahm ab – die Mondphasen waren hier auf der Südhalbkugel umgedreht. Hütten und Häuser lagen in bläulichem Schimmer, vor ihm ragte ein riesenhafter dunkler Schemen auf, die Haare im Mondlicht ein fahles Rot. Die kurze Kette aus Eisengliedern, die seine Handfesseln verband, war durchtrennt worden. 

»Was tust du hier?« Duncan zog den Hünen hinein und schloss die Tür. 

Samuel bleckte triumphierend die Zähne; sie schimmerten im schwachen Licht, das durch die Fensteröffnungen drang. »Wonach sieht es denn aus? Es hat verdammt lange gedauert, aber jetzt ist die Kette endlich durch. Ich haue ab. Kommst du mit?« 

»Wenn sie dich erwischen, werden sie kurzen Prozess mit dir machen.« 

Samuel schnaubte verächtlich. »Sollen sie es doch versuchen. Alles ist besser als so ein Leben. Ich habe nicht so ein Glück wie du. Für mich heißt es weiter schuften und sich schikanieren lassen. Bis ich tot umfalle. Und wieso sollte ich mir das antun, wo ich doch in ein paar Tagen in China sein kann?« 

»Du willst nach China?« 

Samuel nickte. Fast jeder Gefangene sprach von dem wundersamen Land, das nur wenige Tagesmärsche entfernt im Westen liegen sollte, gleich hinter den Blue Mountains. Es hieß, eine Straße führe direkt dorthin, man müsse sie nur finden. Manche nannten es China, andere das gelobte Land. Dort lebe man wie im Paradies, ohne arbeiten zu müssen. Und wer konnte ausschließen, dass sie recht hatten? 

»Glaubst du wirklich daran?« 

»Du nicht? Andere haben es auch geschafft!« 

»Wer sagt dir, dass sie nicht einfach im Busch umgekommen sind? Oder von den Eingeborenen getötet wurden?« 

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.« Samuel verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Grinsen darstellen sollte. »Hör mal, Duncan, ich habe nicht vergessen, was du für mich getan hast. Nur deshalb bin ich hier. Also, was ist? Kommst du mit?« 

Duncan sah die unbedingte Entschlossenheit in den Augen des anderen. Samuel würde sich nicht umstimmen lassen. Und wenn einer es schaffen konnte, dann dieser Bär von einem Mann. Vielleicht gelang es ihm tatsächlich, China zu erreichen oder eine andere Siedlung weißer Männer und Frauen, wo man ihn mit offenen Armen aufnehmen würde. Es war ein Wagnis, aber was hatte Samuel schon zu verlieren? Er selbst dagegen … 

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bleibe. In wenigen Jahren bin ich frei.« 

Falls der Hüne enttäuscht war, dann sah man es ihm nicht an. »In Ordnung. Dann sind wir quitt.« Er wandte sich zur Tür. 

»Viel Glück«, sagte Duncan. »Möge Gott dir auf deinem Weg beistehen.« 

»Amen«, gab Samuel zurück. Dann verschwand er in der Nacht. 

Duncan sah ihm nach, bis er ihn nicht mehr erkennen konnte. Für einen Augenblick erdrückte ihn die Sehnsucht nach Freiheit fast. Dann fiel sein Blick auf das Haus des Doktors, weiß in der Dunkelheit, und die Sehnsucht brannte etwas weniger heftig. Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür des Kutschenhauses. 

Ein Pferd schnaubte. Duncan strich ihm beruhigend über die Flanke, klopfte leicht auf sein Fell. Der scharfe Geruch des warmen Pferdeleibes rief Erinnerungen an seine Kindheit zurück. Der Duft von Gras und Erde. Die Gemeinschaft der Gruppe beim Feiern. Sein Vater, der zu den Klängen der Geige tanzte. Pferde, die über Wiesen stoben. Auch damals war es seine Aufgabe gewesen, sich um die Pferde zu kümmern, die Tiere, die ihnen allen so wichtig waren. Tinker nannte man sie, Kesselflicker, fahrendes Volk. Den meisten Menschen waren sie ein Dorn im Auge, nirgends waren sie gern gesehen, nur geduldet, da sie sich darauf verstanden, den Leuten ihre beschädigten Töpfe und Pfannen zu reparieren. 

Er war es gewohnt, ein Ausgestoßener zu sein. Und jetzt hatte es ihn hierher verschlagen, auf einen Kontinent am Rande der Welt, erneut ausgeschlossen von der Gesellschaft. Ein Sträfling. Doch in den vergangenen Tagen hatte sein Leben eine erstaunliche Wendung zum Besseren genommen. Bislang war die Arbeit nicht schwer, und es gab genug zu essen. Er kümmerte sich um die Pferde und um sonstige anfallende Arbeiten außer Haus. Der Doktor war erfreut gewesen, als er gehört hatte, dass er, Duncan, mit Metall umgehen konnte. 

»Sehr gut«, hatte er gesagt und sich dabei über seinen breiten Backenbart gestrichen. »Sehr gut.« 

Der Doktor war kein schlechter Mensch. Vielleicht ein wenig wunderlich, aber Duncan würde ihm nie vergessen, dass er ihn aus dem Straflager geholt hatte. Und dann war da noch die reizende Mrs McIntyre. Moira. Ihr Name klang süß wie Honig, mit einer scharfen Note dahinter. Wann immer er an sie dachte, wurde ihm warm ums Herz, und gleichzeitig legte sich Traurigkeit darüber. Sie tat ihm leid. Es gab keine Liebe zwischen den Eheleuten, das hatte er sofort gespürt. Die Vorstellung, wie sich der Mann, den er bis vor kurzem für ihren Vater gehalten hatte, zu ihr legte, hinterließ ein seltsames Gefühl bei ihm. Wie er sie bestieg. Tat er es jetzt? 

Er zwang sich, diesen Gedanken fortzuschieben wie ein lästiges Insekt. Solche Überlegungen waren gefährlich. Er durfte sich nicht erlauben, so an Mrs McIntyre zu denken. Niemals. 

Er wandte sich um und kletterte zurück auf den Heuboden.