4. 

 

blumeDie Sonne stieg über dem Wasser auf und tauchte die Bucht in rötliches Licht, feine Nebelschleier hoben sich wie Gespinst. Mit einem satten Geräusch schlugen die Wellen an die Schiffsplanken. Es war noch früh, doch es schlief niemand mehr an Bord der Minerva. Nicht an diesem Morgen, an dem die Reise enden sollte. 

Botany Bay, die Bucht der Botaniker, wie sie einst von Captain Cook genannt worden war, gehörte zum Schönsten, das Moira je gesehen hatte. So weit sie schauen konnte, erblickte sie hohe Bäume, die Äste wie Arme mit grünen Blätterbüscheln in den wolkenlosen Himmel gereckt. Das Herz wurde ihr weit. Vogelgesang erfüllte die Luft, und sie konnte einen fremdartigen Geruch riechen – würzig, aromatisch, ein wenig wie Minze. Eukalyptus, hatte ihr Captain Salkeld vorhin erklärt. 

Alle anderen Passagiere standen ebenfalls an Deck; trotz der frühen Stunde war es schon so warm, dass sie keine Überkleidung brauchten, und das im Januar. Die Jahreszeiten waren hier auf den Kopf gestellt; wenn zu Hause Winter war, herrschte hier Hochsommer. 

»Uuuund Feuer!« 

Moira zuckte trotz der Warnung zusammen, als der ohrenbetäubende Lärm einer abgefeuerten Schiffskanone ertönte, mit der man einen Lotsen herbeirufen wollte. Die Rauchwolke über dem Wasser hatte sich schon lange aufgelöst, als zwei Männer in einem Boot heranruderten und einer von ihnen an Bord kam. 

Die Bucht, in die sie bald darauf segelten, war Port Jackson, der riesige, wunderschöne Naturhafen von Sydney, der tief in das Land eingeschnitten war. Einige kleinere Inseln ragten aus dem Wasser. Als sie eine davon passierten, deren felsiger Uferrand von Muscheln überkrustet war, ertönten erschrockene Ausrufe: An einem hölzernen Galgen hing ein käfigartiges Gestell, in dem ein halb verwester Leichnam zu sehen war. Einige Fetzen Kleidung flatterten im Wind. 

»Ein schöner Willkommensgruß«, murmelte Dr. Price an Moiras Seite. 

»Bringt ein paar Sträflinge hinauf!«, hörte man von Zahlmeister Cox. »Sie sollen sehen, was den erwartet, der sich gegen die Krone stellt!« 

Eilig leistete man dem Befehl Folge, und schon bald drängten einige Männer an Deck. Moira blickte zu ihnen hinüber; ihr fiel ein Mann auf, der alle anderen überragte, ein rothaariger Hüne von kräftiger Gestalt. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem grobschlächtigen Gesicht, als er das zerlumpte Skelett erblickte. Dann begriff sie: Er lächelte. 

Trotz des schauerlichen Anblicks dort auf der Insel fühlte Moira sich besser als in den Wochen zuvor. Die lange Reise hatte endlich ein Ende. Dabei war es, wie Dr. Price nicht müde wurde zu betonen, eine ausgesprochen kurze und gute Überfahrt gewesen. Seit ihrer Abreise im August, kurz nach Moiras neunzehntem Geburtstag, waren gerade einmal viereinhalb Monate vergangen. Sie waren schnell vorangekommen, und nur drei Sträflinge waren gestorben, von denen zwei schon alte Männer waren – ein Rekord, wenn man von sonstigen Gefangenentransporten ausging. 

Alle an Bord, selbst die Sträflinge, waren in aufgeräumter Stimmung, viele lachten und scherzten miteinander. Als die Minerva in den Hafen einfuhr, reckten alle die Hälse. Moira klammerte beide Hände um die Reling und konnte sich nicht sattsehen. Dies sollte also ihre neue Heimat werden. Am Hafenende erhoben sich ein Leuchtturm und ein Flaggenmast, an dem die englische Fahne flatterte. Hinter dem Hafenkai konnte sie Straßen und einige einfache Unterkünfte erkennen, darüber eine bewaldete Anhöhe. Endlich wieder Land, Häuser, Straßen! Moira sehnte sich danach, festen Boden unter den Füßen zu spüren, über grüne Wiesen zu laufen. 

Der Captain ließ neben einer Brigg ankern, hinter der noch andere Schiffe lagen, und befahl, die restlichen Sträflinge nach oben zu holen. Ein weiteres Boot brachte einige Herren, die an Bord kamen und sogleich mit dem Captain und den Offizieren unter Deck verschwanden. Danach dauerte es nur wenige Minuten, bis die ersten kleinen Schaluppen die Minerva umkreisten. Rufe erschollen, Namen wurden gerufen, Satzfetzen flogen hin und her. Jeder der Gefangenen wollte der Erste sein, der einen Bruder, einen Onkel oder einen Bekannten, der mit einem früheren Sträflingstransport hierhergekommen war, in einem der Boote entdeckte. Moira kam es vor wie eine einzige große Familienzusammenführung. Sie konnte auch ein paar langgestreckte Kanus erkennen, in denen jeweils zwei oder drei dunkelhäutige Menschen saßen. Ein Kanu hatte neben der Minerva angelegt, und zwei Eingeborene kletterten ungeniert an Bord. 

Moira bemerkte, dass einige der weiblichen Passagiere schockiert den Blick abwandten, und sah nun erst recht genauer hin. Die beiden Männer waren von dunkler, fast schwarzer Hautfarbe und vollkommen nackt. Der Körper des Jüngeren war sehnig, der des Älteren kräftig. Beide hatten lockiges schwarzes Haar, das bei dem Älteren bereits ins Graue überging, und trugen punktförmige Tätowierungen am Oberkörper. Als der Jüngere lächelte, konnte Moira sehen, dass ihm die oberen Vorderzähne fehlten. 

Es war ein seltsames Land, in das es sie verschlagen hatte. Alles war so neu, so fremd, so unvertraut. Zaghaft lächelte sie zurück und hob eine Hand zum Gruß. 

* 

Flirrende Hitze lag über dem Hafen, in dem jetzt insgesamt sieben Schiffe ankerten. Der Himmel war von einem grenzenlosen Blau, so intensiv, wie Moira es noch nirgends gesehen hatte. Sie wischte sich ein paar Schweißtröpfchen von der Stirn und lüftete verstohlen den Stoff über ihrem Ausschnitt, der feucht an ihrer Haut klebte. Sie trug ihr leichtestes Musselinkleid, das unter der Brust mit einem hellen Seidenband gerafft wurde, und glaubte dennoch zu zerfließen. Sehnsüchtig blickte sie hinüber zum Land, das so nah und doch so fern schien. Sobald die lästige Verteilung der Sträflinge vorüber war, würden sie endlich von Bord gehen können. Moira hatte einen der wenigen schattigen Plätze unter einem aufgespannten Segeltuch ergattert und fächelte sich Luft zu. Die meisten der anderen Passagiere zogen es vor, in ihren Kabinen zu bleiben, aber Moira konnte das Eingesperrtsein einfach nicht mehr ertragen. 

Das Deck war noch nie so voll gewesen wie an diesem glühend heißen Mittag. Ein steter, leiser Geräuschpegel von murmelnden Stimmen, dem Knarren der Taue, dem Scharren von Füßen war zu hören. Seit einer Stunde befanden sich etliche Offiziere des New South Wales Corps von Sydney sowie einige zivile Persönlichkeiten an Bord, die zur Musterung der Sträflinge gekommen waren. Die roten Uniformröcke der Offiziere wiesen dunkle Schweißflecken unter den Armen und am Rücken auf. 

Die weiblichen Gefangenen standen zusammen, die Körper verschwitzt, die Gesichter rot vor Hitze. Das Mädchen, dem Moira die Orange zugesteckt hatte, lehnte in Moiras Nähe an einer Taurolle und betrachtete das Geschehen mit einer Mischung aus Erleichterung und Angst auf seinem farblosen Gesicht. Sie hieß Ann, Ann Hutchinson, wie Moira von Zahlmeister Cox erfahren hatte, und war zu sieben Jahren verurteilt worden, weil sie ihren Dienstherren bestohlen hatte; ein Tischtuch, wenn Moira sich richtig erinnerte. Zahlmeister Cox, der für die Gefangenen zuständig war, hatte Moira vor wenigen Tagen zugesichert, dass sie Ann als Hausangestellte zugeteilt bekommen würde. Auch Ann selbst war bereits davon unterrichtet worden. 

Dichtgedrängt, mit gefesselten Händen, standen die männlichen Sträflinge in drei Reihen an Deck. Die Herren aus Sydney schritten prüfend an ihnen entlang, schauten dem einen oder anderen in den Mund oder in die Augen und stellten Fragen. Trotz der vielen Menschen an Bord war es verhältnismäßig ruhig, die Spannung war fast greifbar. Hier und heute würde sich für viele ihr weiteres Geschick entscheiden. 

Ein panischer Aufschrei riss Moira aus ihren Gedanken: Ein hochgewachsener Offizier hatte Ann nach vorne gezogen und sie ebenfalls in die Reihe gestellt. 

»Wie alt bist du?« 

Ann warf Moira einen angstvollen Blick zu. 

»He, Mädchen, ich hab dich was gefragt!« 

»Fünfzehn«, stammelte Ann tonlos und versuchte zurückzuweichen. 

Der Offizier nickte zufrieden. »Die nehme ich. Schön ist sie zwar nicht, aber wenigstens jung.« 

In Anns Augen stand nackte Angst, als sie sich an Moira wandte. »O bitte, Ma’am, lasst nicht zu, dass er mich fortbringt!« 

Moira hatte davon gehört, dass viele Offiziere sich die jungen, hübschen Frauen unter den Gefangenen gern als Mätressen hielten. Und Frauen waren Mangelware in Neusüdwales. Sie sprang auf. 

»Sir«, ging sie entschieden dazwischen, auch wenn ihr Herz laut pochte. »Sie ist bereits mir zugesprochen.« 

Der Offizier musterte sie von oben herab, seine silberne, halbmondförmige Halsberge glitzerte in der Sonne. »Das mag ja sein, Madam, aber das Militär hat Vorrang. Ich bin Major James Penrith. Und ich will dieses Mädchen.« 

»Sir, bitte!« Wo nur war Cox? »Fragt Zahlmeister Cox!« 

»Das Mädchen gehört mir.« Major Penrith ergriff Anns Arm. 

Ann schrie auf, als hätte er sie mit einem Messer gestochen, dann riss sie sich los und fiel vor Moira auf die Knie. »Bitte, Ma’am«, schluchzte sie. »Lasst mich nicht mit ihm gehen. Ich werde auch alles für Euch tun!« 

Moira schluckte. Da hatte sie etwas angefangen … »Bitte, Major, wenn Ihr Euch einen Augenblick gedulden könntet? Ich muss Zahlmeister Cox suchen!« 

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und eilte, so schnell es der Anstand und die Enge erlaubten, über Deck und durch die Reihen der Gefangenen, von denen sie nicht wenige mit anzüglichem Grinsen bedachten, wenn auch niemand Anstalten machte, sie zu berühren. 

Da, endlich! Cox stand, ein paar Papiere in der Hand, mit einigen Offizieren und Zivilisten vor dem hünenhaften Gefangenen, der ihr schon vor zwei Tagen aufgefallen war. Sie kämpfte sich vor und blieb einige Schritte entfernt stehen, um ihren Atem zu beruhigen und ihr Kleid zu richten. 

Cox und die anderen waren bereits zum nächsten Sträfling gegangen. 

»Name?«, hörte Moira. 

»O’Sullivan.« 

Cox suchte die Liste ab. Einer der Offiziellen drehte die Handflächen des Häftlings nach oben. 

»Beruf?« 

»Feinschmied.« 

»Metallverarbeitung also, hm. Kannst du auch mit Holz umgehen? Gut. Sehr gut. In Sydney können wir jeden brauchen, der –« 

»Verzeiht, Sir«, unterbrach ihn Cox, der offenbar den richtigen Eintrag gefunden hatte. »Aber O’Sullivan kommt nicht für Euch in Frage. Er kommt nach Toongabbie, wie alle Rebellen.« 

Moira sah neugierig auf, als sie das Wort Rebell hörte. Der Sträfling war jung, groß und von schlanker Gestalt. Dunkelbraune Haare umgaben ein schmales, gebräuntes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Trotz der Fesseln strahlte er eine gewisse Würde aus, ganz so, als gehöre er gar nicht hierher. Auf verwirrende Weise fühlte sie sich von ihm angezogen. 

»Oh, nun gut. Und ich dachte schon, die junge Dame«, der Mann aus Sydney deutete mit dem Kopf auf Moira, »hätte vielleicht Anspruch auf ihn angemeldet.« Er lachte anzüglich. 

Moira spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Der Gefangene verzog keine Miene, doch für einen Moment traf sie ein Blick aus dunkelgrünen Augen. Dann senkte er rasch wieder die Lider. Ihr Herz schlug plötzlich schneller. 

Cox drehte sich um. »Ach, Mrs McIntyre, ich habe Euch gar nicht gesehen. Was kann ich für Euch tun?« 

Moira straffte sich und warf dem Mann aus Sydney einen eisigen Blick zu. »Es geht in der Tat um einen Anspruch. Aber hinten, bei den Frauen.« 

Schnell hatte sie das Problem erläutert, und obwohl Cox über diese Störung nicht eben erfreut schien, übergab er die Liste seinem Gehilfen und ging zu den weiblichen Gefangenen. Moira folgte ihm, nicht ohne sich vorher noch einmal verstohlen nach dem jungen Sträfling umgedreht zu haben. Auch er hatte sie angesehen. Und selbst jetzt noch glaubte sie seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren, brennend wie eine lodernde Flamme. 

* 

Die letzten Töne der Violine verklangen in dem von Kerzenlicht beleuchteten Raum. Gouverneur Hunter, ein nicht mehr junger Mann mit hoher Stirn und scharfer Nase, senkte sein Instrument und verneigte sich. Begeistertes Klatschen ertönte. Auch Moira applaudierte höflich mit. Hunters Spiel war laienhaft, wenn auch nicht unmelodisch gewesen, aber die Gesellschaft feierte hier jede noch so kleine Darbietung. 

Heute, am achtzehnten Januar, fanden überall Feierlichkeiten zum Geburtstag von König George III. von England statt. Paraden, Salutschüsse, gehisste Flaggen allerorten. Man hätte meinen können, sich in Irland oder England zu befinden. Im Anschluss an diese offiziellen Veranstaltungen gab der Gouverneur einen großen Empfang, zu dem jeder geladen war, der in der jungen Kolonie Rang und Namen hatte. 

Das Gespräch wandte sich jetzt der erstaunlichen Tierwelt von Neusüdwales zu. 

»Manchmal glaube ich«, sagte der Gouverneur, der von einigen interessierten Gästen umringt war, »Gott habe auf diesem Kontinent die merkwürdigsten Wesen versammelt. Vor kurzem erst habe ich einen abgezogenen Haarbalg der seltsamsten aller Kreaturen an die Philosophische Gesellschaft in England geschickt.« Er gab einem livrierten Diener ein Handzeichen, der sich entfernte und gleich darauf mit einem Blatt Papier zurückkehrte. 

»Ich halte dieses Tier«, der Gouverneur legte die Zeichnung auf den Tisch, »für das Ergebnis eines promiskuitiven Verkehrs der unterschiedlichen Tiergeschlechter.« 

Ein allgemeines Raunen war die Folge, als man das Bild eines maulwurfähnlichen Wesens mit Entenschnabel und Biberschwanz betrachtete. 

»In der Tat«, bemerkte ein kurz gewachsener Mann mit fliehendem Kinn. »Diese Kreatur besitzt die Merkmale eines Fisches, eines Vogels und eines Vierbeiners. Wie überaus ungewöhnlich.« 

»In den verschiedenen Regionen der Erde sind die jeweils lebhaftesten und nützlichsten Vierbeiner um den Menschen geschart«, meldete sich nun auch Dr. Price zu Wort. »Nur in den entfernten Einöden der Welt finden sich die  hilflosen, deformierten und monströsen Werke der Natur.« 

In dieser Weise ging es noch eine Weile weiter, ab und zu kurz unterbrochen von erstaunten Ausrufen. Moira unterdrückte ein Gähnen und blickte sich um. McIntyre hatte sich abgesetzt; er unterhielt sich mit Dr. Jamison, seinem Bekannten aus Studientagen. Jamison, ein melancholisch wirkender Mann mit fülliger weißer Haartolle, war im gleichen Alter wie McIntyre. Seit er vor zwölf Jahren mit der Ersten Flotte nach Neusüdwales gekommen war, hatte er den Posten des stellvertretenden Arztes der Kolonie inne. Er war es gewesen, der McIntyre an diesen vergessenen Flecken Erde gerufen hatte. 

Moira sehnte sich nach frischer Luft und trat hinaus auf die offene Veranda, wo ein paar Fackeln brannten. Trotz der späten Stunde herrschte noch immer feuchte Schwüle. Sie fächelte sich Luft zu, die erfüllt war von einem ganz besonderen Geruch, einer Mischung aus Eukalyptus und Meeresluft. Schemenhaft konnte sie die Umrisse der Bäume erkennen, die in Gouverneur Hunters Garten standen; Obstbäume von exotischer Pracht, die ihnen heute Abend ein Dessert aus wunderbar süßen Pfirsichen beschert hatten. 

Die Residenz des Gouverneurs stand am Ostufer der Bucht auf einer Anhöhe und überblickte Sydney fast wie eine Burg, die über ihren Vasallen thronte. Während Moiras Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie immer mehr Details. Dort unten lag der Hafen und in ihm die Minerva. Daneben weitere Schiffe. Einige wenige Laternen wiesen Bug und Heck aus. Von der Schönheit der Natur konnte Moira an diesem Abend nichts mehr sehen, aber das Funkeln der Lichter, die sich im Wasser spiegelten, hatte seinen ganz eigenen Reiz. 

Es musste bald Mitternacht sein. Sie legte den Kopf in den Nacken und erblickte die vier strahlend hellen Sterne, die das Kreuz des Südens bildeten; drei bläuliche und einen weißen, auf einem Bett aus schwarzem Samt. 

»Wunderschön, nicht wahr?« Ein junger Mann in Offiziersuniform war neben sie getreten. Er hatte ein breites, freundliches Gesicht. »Wusstet Ihr, dass die ersten Seefahrer diese Sternenformation das ›Kreuz des Glaubens‹ nannten, als sie es am südlichen Himmel sahen?« 

Moira verneinte höflich. 

»Penrith«, stellte sich der Offizier vor, unter dessen roter Uniformjacke sich ein leichter Bauchansatz spannte. »Sergeant William Penrith. Ich bin der Verwalter des Gefangenenlagers von Toongabbie.« 

»McIntyre. Mrs Moira McIntyre«, gab Moira freundlich und ein wenig neugierig zurück. Lagerverwalter? Der Mann konnte höchstens Anfang zwanzig sein. »Eine beeindruckende Karriere, Sergeant Penrith. Dann seid Ihr schon lange in Neusüdwales?« 

»Oh, bitte nennt mich William. Nein, ich bin noch nicht lange hier. Und ganz im Vertrauen: Hätte mir mein Bruder kein Offizierspatent gekauft, wäre ich wohl noch immer ein kleines Licht in der Armee.« Seine Augen glänzten; so gesprächig, wie er war, schien er dem Alkohol schon reichlich zugesprochen zu haben. »Ich glaube, Ihr hattet bereits das Vergnügen.« Er deutete ins Hausinnere, wo Moira den unangenehmen Major erblickte, der Ann auf der Minerva für sich gefordert hatte. 

Sie nickte, enthielt sich aber eines Kommentars. Deswegen war ihr sein Name so bekannt vorgekommen. »Dann werden wir uns in Zukunft wohl öfter über den Weg laufen, Ser… William.« 

»Ich hoffe doch sehr.« Er zwinkerte ihr unbeholfen zu. Moira fühlte sich an einen tapsigen Bären erinnert. Nett, aber auch ein wenig fade. »Wenn Ihr Hilfe braucht, stehe ich Euch jederzeit zur Verfügung.« Er verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung. 

Moira blieb nicht lange allein. 

»Ich bin ja so froh, dass die Minerva unsere Salzvorräte aufstocken konnte.« Die füllige Mrs Zuckerman gesellte sich zu ihr. In ihrem Kleid in hellem Orange wirkte sie wie eine verkleidete Steckrübe. »Zwischenzeitlich hatte man schon begonnen, die Vorräte zu rationieren. Stellt Euch das einmal vor! Sie sind auf zwei Drittel der üblichen Wochenration hinuntergegangen.« 

Moira bemühte sich, ihre aufkommende Gereiztheit nicht zu zeigen. Am Nachmittag war sie noch froh gewesen, so schnell Anschluss gefunden zu haben. Mittlerweile ging ihr die dicke Frau allerdings gehörig auf die Nerven. Mrs Zuckerman hatte ihr bereits ihre gesamte Lebensgeschichte anvertraut und sie zudem mit dem Klatsch der Kolonie versorgt. 

»Oh, und Ihr müsst mir unbedingt Eure Modejournale überlassen!« Mrs Zuckerman sah sie erwartungsvoll an. »Wir sind hier doch vollkommen ahnungslos, was die neuesten Schnitte betrifft.« 

Moira versprach es und hoffte, nun eine Weile unbehelligt zu bleiben. Natürlich war es eine vergebliche Hoffnung. 

»Und?«, wollte Mrs Zuckerman als Nächstes wissen. »Wie gefällt Euch Sydney?« 

»Sehr gut«, erwiderte Moira wahrheitsgemäß. »Es ist viel – zivilisierter, als ich erwartet habe.« 

Sie hatte mit einem Trampelpfad und ein paar Holzhütten am Rande der Wildnis gerechnet, aber Sydney war längst zu einer kleinen Stadt herangewachsen, mit einer breiten Hauptstraße und einfachen, einstöckigen Gebäuden, die meisten davon aus Holz. Es gab hier nur wenige Häuser aus Ziegelsteinen, was vor allem an der Schwierigkeit lag, geeigneten Mörtel herzustellen. Da der Kalkstein für den Mörtel fehlte, behalf man sich mit zermahlenen und gebrannten Muschelschalen. In Sydney lebten, so hatte sie erfahren, über zweitausend Menschen, ein Großteil davon Sträflinge. Noch einmal so viele verteilten sich auf Parramatta, Toongabbie und die umliegenden Farmen. 

Als Moira heute durch die Stadt geschlendert war, war sie an einem Lazarettgebäude und einem Getreidespeicher vorbeigekommen. Sie hatte Windmühlen gesehen, deren tuchbespannte Flügel sich im Wind drehten, eine Werft und sogar ein Theater. Auf der Kuppe oberhalb der Bucht stand ein Militärgebäude, geschützt von zwei Kanonen. Überall wurde gebaut, gesägt und gehämmert. Scharen von Sträflingen waren damit beschäftigt, weitere Lagerhäuser zu errichten und das Fundament einer neuen Kirche zu legen, nachdem die erste, wie man ihr erzählt hatte, von ein paar Bösewichtern niedergebrannt worden war. Und wie grün es hier war! Ein anderes Grün als in Irland, doch nicht weniger wohltuend für das Auge. Überall wuchs und spross es, Eukalyptusbäume und Büsche mit sägezahnartigen Blättern säumten die Straßen. 

»Ach, ich freue mich, dass Ihr da seid«, seufzte Mrs Zuckerman. »Es gibt noch viel zu wenige Frauen in der Kolonie. Wenn es stimmt, was man sagt, dann kommen hier vier Männer auf eine Frau! Aber wenigstens sind wir freien Siedler endlich in der Überzahl.« Sie verzog das Gesicht zu einem feisten Grinsen, in dem ihre Äuglein fast verschwanden. »Allmählich wird Neusüdwales zu einem zivilisierten Fleckchen Erde.« 

Moira unterließ es, Mrs Zuckerman abermals darauf hinzuweisen, dass McIntyre und sie mitnichten als freie Siedler gekommen waren, sondern der Militärregierung unterstanden. Sie wollte nicht länger als nötig mit dieser Plaudertasche zu tun haben. 

»Es hat sich einiges getan«, plapperte Mrs Zuckerman munter weiter. »Zum Glück sind mein Mann und ich ja erst hier angekommen, als das alles schon recht ansehnlich war. Wenn ich bedenke, wie das früher ausgesehen haben muss, mit dem ganzen Busch! Und überall diese schrecklichen Wilden!« 

»Sprecht Ihr von mir, Mrs Zuckerman?« D’Arcy Wentworth war an ihrer Seite aufgetaucht, in jeder Hand ein gefülltes Glas Punsch. »Meine Damen.« 

Mrs Zuckerman kicherte albern wie ein junges Mädchen und nahm ihr Glas in Empfang. »Von Euch? Ach, Dr. Wentworth, was seid Ihr doch für ein Schelm!« 

D’Arcy Wentworth war eine der schillerndsten Persönlichkeiten der jungen Kolonie, wie Mrs Zuckerman Moira gleich zu Beginn des Dinners erzählt hatte. Er war Ire aus verarmtem Adel und der Zwangsdeportation nur dadurch entkommen, dass er sich freiwillig zum Dienst in Neusüdwales gemeldet hatte. In der Kolonie hatte er es bis zum Stabsarzt von Parramatta gebracht. Der große, gutaussehende Arzt war Moira von Anfang an sympathisch gewesen. Mit seinen blauen Augen und den wehenden blonden Haaren war er der Mittelpunkt einer jeden Gesellschaft, in der er sich wohl zu fühlen schien wie ein Fisch im Wasser. Die Frauen rissen sich darum, mit ihm zu tanzen. Niemand hätte vermutet, dass er in Irland als Straßenräuber verurteilt worden war, wie ihr Wentworth vorhin freimütig eröffnet hatte. Jetzt unterhielt er die Frauen mit einer Schilderung über Sydneys Anfänge, als Hungersnöte und Existenzängste das Leben bestimmten und die Siedlung aus nichts weiter bestand als zwei einfachen Straßen mit vier Reihen armseliger Hütten aus Palmblättern. 

Er leerte sein Glas. »Ach, Mrs McIntyre, fast hätte ich es vergessen: Im Winter müsst Ihr und Euer Mann natürlich zu meiner Jahrestagsfeier kommen.« 

»Gern.« Moira sah ihn fragend an. »Welcher Jahrestag?« 

»Der meiner Ankunft in diesem wundervollen Land. Ich feiere ihn jedes Jahr. Am achtundzwanzigsten Juni. Auf meiner Farm in Parramatta.« 

»Juni? Aber sagtet Ihr nicht Winter?« 

»So ist es. Dann haben wir hier Winter.« Wentworth lachte angesichts Moiras kurzzeitiger Verwirrung. »Ihr werdet Euch schon daran gewöhnen. So manches ist hier anders als in der alten Heimat.« 

Von drinnen erklang Gelächter und Stimmengewirr, dann die ersten Takte eines Pianos. Eine Frauenstimme rief Wentworths Namen. 

Wentworth warf einen Blick durch das Fenster auf die Gäste, die sich zum Menuett aufstellten, und seufzte theatralisch. 

»Mrs Zuckerman, Mrs McIntyre, ich hätte mich gerne noch weiter mit Euch unterhalten, aber ich fürchte, die Pflicht ruft: Ich habe Mrs Watkins den nächsten Tanz versprochen.« Er wandte sich mit einer angedeuteten Verbeugung zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu Moira um. »Sobald Ihr Euch eingewöhnt habt, müsst Ihr mich unbedingt besuchen, Mrs McIntyre. Von Toongabbie nach Parramatta ist es keine Stunde Fahrt mit der Kutsche. Wir Iren müssen doch zusammenhalten!« 

Er blinzelte ihr vertraulich zu, dann verschwand er in der Menge der Tänzer. 

Mrs Zuckerman sah ihm mit einem säuerlichen Lächeln nach. »Er hat drei Kinder!«, erklärte sie wichtigtuerisch, als wäre es ihr eben erst eingefallen. »Mit einer ehemaligen Sträflingsfrau. Sie leben zusammen. Aber sie sind nicht verheiratet!« Sie zog ein Gesicht, das wohl entrüstet sein sollte, das ihr aber aufgrund ihrer runden Wangen eher Ähnlichkeit mit einem Mops verlieh. 

Moira stieß einen lautlosen Seufzer aus und suchte nach einer Entschuldigung, um sich von dieser unangenehmen Person befreien zu können. 

Mrs Zuckerman rückte schon wieder näher. »Und wann reist Ihr weiter nach Toongabbie?« 

»Übermorgen«, erwiderte Moira einsilbig. Sie hatte es ihr schon drei Mal gesagt. 

»Ihr Ärmste, wenn ich mir das so vorstelle …« In Mrs Zuckermans Augen glitzerte Sensationslust. »Habt Ihr denn keine Angst bei der Vorstellung, Euer Leben als einzige Frau neben diesen verkommenen Subjekten fristen zu müssen?« 

»Nun, Mrs Zuckerman, zum einen bin ich dort keineswegs die einzige Frau, denn im Ort und auf den umliegenden Farmen leben sicher ein paar Damen. Außerdem haben wir weibliche Bedienstete«, sagte Moira etwas zu scharf. »Und zweitens solltet Ihr nicht vorschnell über diese bedauernswerten Menschen urteilen, die man zu einem Leben an diesem Ort verdammt hat!« 

Es war heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte. Aber Moira musste immer wieder an das Los der Sträflinge denken. Vor wenigen Tagen hatte sie erstmals die harte Hand der britischen Militärregierung miterlebt. Auf der Minerva waren zwei Sträflinge mit je einhundert Peitschenhieben bestraft worden, weil sie mit einem Boot zu fliehen versucht hatten. Moira hatte der Züchtigung zwar nicht beigewohnt, aber sie hatte das Klatschen der neunschwänzigen Peitsche und die Schreie der Verurteilten bis hinunter in ihre Kabine hören können. 

Ihre Gedanken gingen zu Ann. Zahlmeister Cox hatte sich um das Problem mit Major Penrith gekümmert und dem Offizier eine andere Gefangene überlassen. Jetzt befand sich das Mädchen mit dem Großteil der anderen Sträflinge auf dem Weg nach Toongabbie. 

Falls sie geglaubt hatte, dass Mrs Zuckerman nach ihrer heftigen Antwort eingeschnappt war, hatte sie sich getäuscht. 

»Na, na, liebe Mrs McIntyre, aus Euch spricht wohl das sprichwörtliche irische Temperament!«, sagte diese, keineswegs beleidigt, und wiegte ihren Kopf. »Aber wartet nur ab, nach ein paar Wochen in der Einöde werdet Ihr noch an meine Worte denken.« Sie beugte sich vertraulich vor. »Ihr seid neu in diesem Land. Nehmt einen guten Rat an: Ihr dürft den Sträflingen nicht trauen! Keinem von ihnen!« 

Ein heller Glockenton aus dem Speisezimmer unterbrach sie; man klingelte zum Mitternachtsdinner. 

»Ah, wie herrlich!« Mrs Zuckerman beeilte sich, der Aufforderung Folge zu leisten, und wackelte hinein. »Ich hoffe nur, dass nicht so etwas Scheußliches wie Känguru serviert wird.« 

* 

Die Schritte der Männer waren so laut, dass es ihr in den Ohren weh tat. Die Weißen konnten einfach nicht leise gehen. Niemand der Eora hätte so viele Geräusche gemacht, auch nicht mit diesen metallenen Gliedern, die die meisten der Weißen um die Knöchel trugen und die ihnen nur kurze, ruckartige Schritte erlaubten. Bei einigen zeigten sich wundgeriebene Stellen. Andere saßen auf diesen großen Tieren mit den vier dünnen Beinen, die sie Pferde nannten, und riefen Worte in ihrer misstönenden Sprache. 

Ningali blähte die Nasenflügel und nahm die Witterung der Menschen auf, die den schmalen Waldpfad entlangkamen. Es waren viele, einer hinter dem anderen. Alle waren sie mehr oder weniger bekleidet; die Gefesselten in eintönigen Farben, die auf den Pferden in Weiß und der heiligsten aller Farben – Rot. 

Inzwischen hatte sie sich an den Anblick dieser seltsamen Menschen gewöhnt, aber noch immer konnte sie nicht verstehen, wieso die eine Gruppe die andere anbrüllte und schlug. Die Ältesten hatten dieses eigentümliche Verhalten damit zu erklären versucht, dass es sich dabei um eine primitive Form der Heilung oder eines Aufnahmeritus handeln musste. 

Ningali folgte ihnen, seit sie mit dem Boot angelegt hatten, beobachtete sie versteckt im Schatten der Bäume und des dichten Buschwerks. Neben ihr stieß der Dingo ein leises Knurren aus. Sie legte ihm die Hand auf den pelzigen Nacken, und sofort verstummte das Tier. Mehr brauchte es nicht; er gehorchte ihr auch ohne Worte. Sie hatte ihn aufgezogen, nachdem sie ihn als Welpen gefangen hatte. Seitdem wärmte er nachts ihr Lager und war ihr am Tag ein Gefährte. 

Ningali kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Manchmal konnte sie so die Schattenkörper sehen, auch wenn die Großmutter sagte, sie sei noch zu jung dafür. Erst wenn sie zum ersten Mal geblutet hätte, würde sie das Handwerk der Schamanen lernen. 

Für einen kurzen Moment sah sie es tatsächlich. Nahm schimmernde, farbige Umrisse um die verschwitzten Körper wahr, beim einen rötlich trüb wie Wolken bei Tagesanbruch, beim anderen dunkel wie verbrannte Erde. Sie musste blinzeln. Als sie wieder hinsah, war alles wieder so wie vorher. 

Die Gruppe ging jetzt an ihr vorbei, so nah, dass sie den Schweiß der Männer riechen konnte. Ningali verharrte regungslos unter den großen, dunklen Blättern eines Terpentinenbaums. Sie wusste, dass man sie nicht sehen würde. Die Weißen sahen nie etwas. 

Die Mütter und Tanten hatten ihr Geschichten erzählt von den Tagen vor Ningalis Geburt, als die Weißen zum ersten Mal im Land der Traumzeit eintrafen. Die Eora hatten sie für Geister der Toten gehalten, die in ihr altes Land zurückkehrten, sie willkommen geheißen und Zeremonien abgehalten, um ihnen den Weg dorthin zurück zu weisen, wo die Verstorbenen leben. Doch sie hatten sich geirrt. Die Zeremonien brachten die weißgesichtigen Menschen nicht ins Reich des Todes. Sie blieben und begannen, das Land zu verändern. 

Die Gruppe war fast an ihr vorüber, als einer der Männer den Kopf wandte. Für einen Augenblick glaubte Ningali, er habe sie bemerkt. Mehr noch: Er schien ihr direkt ins Gesicht zu sehen, mit Augen von ähnlichem Grün wie der Wald bei Dämmerung. 

Sie senkte verwirrt den Blick. Sie kannte diesen Mann nicht, und doch hatte sie das starke, das fast unbezwingbare Gefühl von Vertrautheit. War er ein Wesen aus der Traumzeit, einer der Ahnengeister, der sich in menschlicher Gestalt zeigte? 

Unschlüssig sah sie der Gruppe hinterher, die sich von ihr entfernte, und zog sich dann zurück, tiefer in den Wald. Sie würde das Träumen und die Ahnen befragen.