2. 

 

blumeDer Blick aus dunklen Augen strahlte Vertrauen aus und fast so etwas wie Mitgefühl. Weiche, haarige Lippen kitzelten Moiras Handfläche, als die schwarze Stute den Apfel entgegennahm. Dorchas blies warme Luft aus ihren Nüstern und begann zu mahlen. Mit geschlossenen Augen drückte Moira ihren Kopf an den Pferdeleib, bis ihre Haut prickelte, spürte den warmen Körper, das pochende Herz, und sog den vertrauten starken Duft ein. 

Etwas Feuchtes berührte ihre Hand. Als sie die Augen öffnete, sah sie das Fohlen, tintenschwarz wie seine Mutter, und kniete lächelnd nieder, das warme Gefühl bedingungsloser Zuneigung im Bauch. 

»Guten Morgen, Ossian«, flüsterte sie. Sie hatte den kleinen Hengst nach dem kriegerischen Barden aus den Sagen getauft. Für dieses Tier war sie bei ihren Eltern in Ungnade gefallen. Und doch war die Geburt des Fohlens die wundervollste Erfahrung, die Moira je gemacht hatte. 

Sie nahm Striegel und Kardätsche aus ihrer Wandhalterung und begann, Dorchas mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen zu bürsten. Die stickige Wärme im Stall und die Bewegung ließen Moira schon bald in Schweiß ausbrechen, aber sie arbeitete angestrengt weiter, bis Dorchas’ schwarzes Fell wieder glänzte. Ungeduldig wedelte sie eine Fliege fort und hängte ihr Arbeitsgerät zurück an die Stalltür. Die Haare klebten ihr feucht an Stirn und Schläfen. Sie trat aus der Stalltür und hielt das Gesicht in die warme Brise. Ein schwacher Salzgeschmack legte sich auf ihre Zunge – der Hafen war nah. Wie gerne wäre sie jetzt ausgeritten, vielleicht die Straße entlang nach Donnybrook, oder auch nach Ballsbridge. Aber es ging nicht. Nicht heute, am Tag ihrer Hochzeit. Und vielleicht nie mehr. 

Ein Knoten ballte sich in ihrer Kehle. Sie biss die Zähne zusammen, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, und blickte hinüber zum umzäunten Gelände des Merrion Parks, den die hochherrschaftlichen Häuser der Reichen säumten. Von hier aus war es nicht weit bis ins Herz Dublins, obwohl Moiras Eltern auch für die kurze Strecke meist die Kutsche nahmen. Die unbefestigten Straßen verwandelten sich nach den häufigen Regengüssen in eine schlammige Masse, und der Vater schimpfte jedes Mal, wenn er sich nach einem Besuch bei seinen Kunden die Schuhe auskratzen lassen musste. Bis der Wagenschuppen errichtet worden war, hatte ihre Kutsche in den Stallungen hinter dem langgestreckten Garten an der Rückseite ihres Hauses gestanden, dort, wo Moira sich jetzt befand. Dahinter lag offenes Gelände. Hier war sie schon so manches Mal entlanggeritten, über Felder und saftiggrüne Wiesen bis zum Hafen von Irish Town, von wo aus sie den einlaufenden und abfahrenden Schiffen zuschauen konnte. Früher war sie oft mit ihrem Vater dort gewesen, doch seit England sich mit Frankreich im Krieg befand, war es fast unmöglich geworden, auf gesetzlichen Wegen an französischen Wein zu kommen. Philip Delaney musste immer mehr auf spanische und italienische Händler ausweichen, zu denen er längst nicht so gute Verbindungen hatte wie nach Frankreich. Was sich an französischem Burgunder noch in seinem Weinkeller befand, verkaufte er zu Höchstpreisen, doch der Vorrat schwand rapide. 

Sie trat zurück in den Stall und drückte ihr Gesicht erneut in Dorchas’ dichtes Fell. Die Stute drehte den großen Kopf und legte ihn an Moiras Schulter. Jetzt kamen ihr doch die Tränen. Aber sie wollte nicht weinen. Jemand wie Moira weinte nicht. 

»Das ist alles so ungerecht«, flüsterte sie. »Ich will hier nicht weg!« 

Dorchas schnaubte, als würde sie verstehen. 

»Ach, hier bist du.« Die Stimme ihrer Schwester riss Moira aus ihrem Kummer. Hastig richtete sie sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Mutter sucht dich.« 

»Das kann ich mir denken«, murmelte Moira. »Sie kann mich wohl nicht schnell genug loswerden.« Sie vergrub ihre Hand in Dorchas’ dichter Mähne. »Ach, Ivy. Ich will das nicht! Ich will nicht seine Frau werden!« 

Ivy blickte betreten zu Boden. »So schlimm finde ich Dr. McIntyre gar nicht.« 

»Ach nein? Dann kannst du ihn ja heiraten! Kannst ihm seinen alten faltigen Hintern streicheln und ihn füttern, wenn er den Löffel nicht mehr halten kann!« 

Ivy versuchte sichtbar, ein Grinsen zurückzuhalten. »Vater sagt –« 

»Vater!« Moira spuckte das Wort aus, als enthalte es Galle. »Vater hat mich an ihn verkauft! Von Mutter hätte ich nichts anderes erwartet, aber Vater! Er gibt mich dem Erstbesten zur Frau, der um meine Hand anhält!« 

Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen, aber sie blinzelte sie hastig fort. Vaters Verrat war am schlimmsten zu ertragen. 

»Er meint es doch nur gut«, versuchte Ivy zu beschwichtigen. »Er sagt, Dr. McIntyre ist ein guter Arzt, und ein –« 

»Dr. McIntyre ist ein widerlicher Tattergreis!« 

»Er ist zwei Jahre jünger als Vater. Und es gibt viele junge Frauen, die ältere Männer heiraten. Kennst du Rosie Farelly? Sie hat ihren Vormund geheiratet, und sie scheint sehr glücklich zu sein!« 

»Sie muss ihn ja auch nicht bis ans Ende der Welt begleiten! Neuholland! Was gibt es dort schon? Sträflinge und wilde Tiere!« Moira redete sich immer mehr in Rage. »Es dauert fast sechs Monate, bis wir dort sind. Sechs Monate! Wie soll ich das nur ertragen? Zusammen mit diesem … diesem Dr. Sauertopf!« 

Ivy kicherte, und dann musste auch Moira lachen, bis beide Schwestern Tränen in den Augen hatten. 

»Dr. Sauertopf«, keuchte Ivy. »O Moira, wie werde ich dich und deine Sprüche vermissen!« 

Mit einem Schlag wurde Moira wieder ernst. Bei der Vorstellung, demnächst all das hier hinter sich lassen zu müssen, krampfte sich ihr Magen zusammen, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. 

»Ich könnte wegrennen«, murmelte sie. »Dann wäre ich wenigstens frei. Ich könnte Pferde züchten und ein eigenes Gestüt haben und das tun, was ich will.« 

Noch während sie es aussprach, wurde ihr klar, wie absurd ihre Aussage war. Sie musste sich anhören wie ein kleines Mädchen, dem ein Wunsch abgeschlagen worden war. Natürlich ging es nicht. Wer sollte sie aufnehmen? Wo sollte sie wohnen, was sollte sie essen? Als Frau hatte sie kein Geld und keine Rechte. 

»Ich kann doch Dorchas und das Fohlen nicht zurücklassen!« 

»Jetzt mach es dir doch nicht so schwer.« Ivy blickte sie hilflos an. »In Neuholland gibt es sicher auch Pferde.« 

»Willst du mich etwa auch loswerden?« Moira hob kämpferisch den Kopf, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Sie würde sich keine Schwäche mehr erlauben. 

»Moira!« Wie eine Statue stand Mutter in der Stalltür und kräuselte die Nase; ganz leicht nur. Nur so wenig, dass ihre Nasenflügel sich hoben. Moira hasste diesen Gesichtsausdruck. So sah Mutter sie immer an, wenn sie wieder etwas vermeintlich Ungeheuerliches getan hatte. »Komm sofort zurück ins Haus! Meine Güte, Kind, was denkst du dir nur? Und wie du riechst! Wie der letzte Pferdeknecht.« Eleanor Delaney drehte sich um. »Bridget! Setz einen Kessel Wasser auf. Meine Tochter wünscht zu baden. Und danach werden wir aus ihr eine wunderschöne Braut machen.« 

* 

Die schweren, mit großen Blumen bedruckten Vorhänge waren zugezogen, dennoch war es nicht richtig dunkel in dem Zimmer, das bis vor kurzem die Gouvernante bewohnt hatte. Moira lag im Bett, mit klopfendem Herzen, die Decke hochgezogen bis zu ihrer Nase. Die Abenddämmerung tauchte den Raum in ein düsteres Zwielicht und ließ den mit graphischen Mustern bemalten Boden noch unheimlicher erscheinen. Ein schmaler, hoher Schrank erhob sich an der gegenüberliegenden Wand, daneben standen eine große und eine kleinere Truhe. Sie gehörten Dr. McIntyre. Am Morgen waren sie von Mr Currans Haus in dieses Zimmer gebracht worden, wo das frisch verheiratete Ehepaar bis zur Abreise wohnen würde. 

Seit wenigen Stunden war sie nun Mrs Alistair McIntyre, ein Name, der so fremd auf ihrer Zunge schmeckte wie eine ungewohnte Speise. Alistair. Ob sie sich je daran gewöhnen würde, ihren Ehemann bei diesem Namen zu nennen? Sie bezweifelte es. 

Die Tür öffnete sich, und sie hörte mehr, als dass sie es sah, wie er den Raum betrat. In ihrem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit, ihr war etwas übel. Sie hörte, wie er sich seiner Kleidung entledigte, lag stocksteif da und beobachtete ihn. Ihr Herz schlug schmerzhaft laut. Was sie wohl gleich erwartete? Vielleicht würde er sich ja einfach nur neben sie legen und schlafen? 

Er bewegte sich dunkel vor dem nur wenig helleren Hintergrund, eine krummbeinige Gestalt, die jetzt ein bodenlanges Nachthemd überstreifte. Kurz verharrte seine Hand unter dem Hemd, es sah aus, als bewegte er sie dort. Dann schlug er die Decke zurück und legte sich neben sie. Moira zwang sich stillzuhalten, obwohl der Ekel sie zu übermannen drohte. Sie presste Augen und Mund fest zusammen und wünschte, sie könnte auch ihren Geruchssinn abschalten, als ihr das säuerliche Aroma von altem Schweiß in die Nase stieg. Wenigstens küsste er sie nicht. Sonst hätte sie sich vermutlich übergeben müssen. 

»Es ist die Aufgabe der Frau, sich unterzuordnen«, hatte Eleanor Delaney ihrer Tochter kurz vor der Eheschließung eingeschärft. »Denk immer daran, auch wenn dir manches zuwider sein wird. Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen. Er ist dein Mann. Widersprich ihm nicht.« 

Diese Worte noch im Ohr, überschwemmte die Panik Moira jetzt wie eine Woge, als McIntyre ihr Nachthemd hochstreifte. Erschrocken rutschte sie ein Stück höher, bis sie gegen das Kopfteil des Bettes stieß. 

McIntyre zog sie unsanft zurück. »Jetzt stell dich nicht so an«, knurrte er. Es waren die ersten Worte, die er in diesen vier Wänden mit ihr sprach. Er griff nach ihrem rechten Handgelenk, dann nach dem linken und legte ihr die Arme über den Kopf auf das Kissen. Mit einer Hand hielt er ihre Handgelenke fest, mit der anderen hob er sein Nachthemd und schob sich zwischen ihre Beine. Angsterfüllt versuchte sie, sich von ihm zu befreien, doch er hatte mehr Kraft, als Moira erwartet hatte, und da er mit einem Großteil seines Gewichts auf ihr lag, war ihre Gegenwehr zwecklos. Sie spürte den tastenden Vorstoß von etwas Warmem, Festem an ihrem Schenkel, dann hatte er die richtige Stelle gefunden. 

Der Schmerz kam so unerwartet, dass sie laut aufschrie, ein Schmerz, der sie durchbohrte und zerriss. Erneut versuchte sie, sich ihm zu entziehen, kämpfte keuchend gegen das an, was da mit ihr geschah. Das Zimmer lag direkt über dem Schlafzimmer ihrer Eltern, und ein paar verzweifelte Momente lang hoffte sie, der Vater würde kommen und sie aus ihrer Not retten. Hatte er denn nicht ihren Schrei gehört? Ihr Unterleib schien in Flammen zu stehen. Schließlich gab sie ihren Widerstand auf und ließ es mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen. Sie lauschte auf schwere Tritte auf der Treppe, aber alles, was sie vernahm, war das Knarren des Bettes und McIntyres Schnaufen. Eine raue Wange kratzte über ihre Haut, der Backenbart kitzelte sie in der Nase, während ihr Gemahl immer wieder mit grimmiger Hartnäckigkeit in sie stieß, bis er endlich mit einem ächzenden Röhren über ihr zusammensank. 

Für einen kurzen, herrlichen Augenblick glaubte Moira, ihn habe der Schlag getroffen. Doch es dauerte nur Sekunden, bis er sich auch schon von ihr wälzte und sie anwies, nach unten zu rücken und die Füße auf das Bettgeländer zu legen. In dieser Position sollte sie eine Weile ruhig liegen bleiben. 

»So können wir sichergehen, dass du so schnell wie möglich empfängst.« McIntyre tätschelte unbeholfen ihre Hand. 

Moira entzog ihm ihre Finger und starrte schweigend in die Dunkelheit.