16. 

 

blumeDer Tag neigte sich dem Abend zu, es wurde wieder kühler. Duncan schlang die Arme um sich. Die wässrige Suppe, die sie ihm heute vorgesetzt hatten, roch nach verdorbenem Fleisch. Er hatte sie nicht angerührt. Jede Bewegung tat ihm weh; auch in Parramatta sparten die Wärter nicht mit Prügel. Wenigstens hatte man ihm das Hemd und die Hose gelassen. Durch das vergitterte Fenster drang tagsüber ein wenig Licht und nachts die Kälte, die die fadenscheinige Decke kaum abhalten konnte. Seine Füße waren zwei eiskalte Klumpen, die Haut an seinen Fußgelenken aufgescheuert von den eisernen Fesseln, die man ihm wegen angeblicher Fluchtgefahr angelegt hatte. Er konnte kaum damit laufen, so schwer waren sie. Aber wohin hätte er auch laufen sollen, hier, in dieser kleinen Zelle? 

Er hatte die zweifelhafte Ehre, einer der ersten Insassen des neu errichteten Gefängnisses von Parramatta zu sein, nachdem das letzte wie das von Sydney im vergangenen Jahr von Gefangenen niedergebrannt worden war. Ein steinernes Gebäude mit kleinen, vergitterten Zellen, die rechts und links von einem langen Korridor abgingen. Demnächst wollte man es um ein weiteres Geschoss aufstocken, um dort ein Arbeitshaus für die weiblichen Sträflinge der Kolonie einzurichten. Das hatte ihm der Gefängniswärter erzählt, der einmal am Tag, meist irgendwann am Nachmittag, etwas Suppe und einen harten Kanten Brot brachte. Sonst sah er niemanden. Nur hören konnte er sie. Manchmal, wenn er das Ohr an die Tür legte, vernahm er neben dem schlurfenden Gang des Wärters auch das Husten oder Rufen von anderen Häftlingen, die hier einsaßen oder wie er auf ihre Verhandlung warteten. Aber meist hockte er auf der einfachen Pritsche und starrte durch das Fenster hinaus in den Himmel, um nicht den Verstand zu verlieren. 

Das Eingesperrtsein war das Schlimmste von allem. Das und die Frage, wie es Moira ging. Sobald er die Augen schloss, tauchte ihr Gesicht vor ihm auf. War sie am Leben? Hatte McIntyre ihr helfen können? Es machte ihn fast wahnsinnig, dass er nichts für sie tun konnte. Nichts, außer für sie zu beten. 

Er versuchte, sich jeden ihrer geliebten Züge in Erinnerung zu rufen. Entsann sich, wie sich ihre Haut anfühlte. Wie sie ihn in die Schulter biss. Wie sich die kleinen, mühsam unterdrückten Laute anhörten, wenn sie sich gehenließ. Durchlebte erneut die Tage mit ihr in den Bergen, rief sich jedes Wort und jede ihrer Gesten ins Gedächtnis. 

Sie hatte sein Kind in sich getragen. Für eine Weile stellte er sich vor, was hätte sein können, wenn ihr Leben anders verlaufen wäre. Wenn ihre Flucht geglückt wäre. Wenn das Kind hätte leben dürfen. Wie hätte es ausgesehen? Hätte es ihre Augen gehabt? Und wäre er ein guter Vater gewesen? 

Kälte strich über seinen Rücken. In ein paar Tagen wäre seine Verhandlung, hatte man ihm gesagt. Dann würde ein Richter darüber entscheiden, welche Strafe ihn erwartete. 

Ob sie ihn diesmal hängen würden? Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen zusammen. Er war schon einmal zum Tode verurteilt worden. Auch damals, in Irland, hatte er versucht, sich nicht auszumalen, wie es sein würde, wenn sich der Strick um seinen Hals zuziehen und er verzweifelt nach Atem ringen würde, bis ihn der Tod von seinem Leiden erlöste. Und doch hatte ihn schon damals diese grausige Vorstellung immer wieder heimgesucht. 

Er zuckte zusammen, als unvermittelt ein rostiges Quietschen ertönte und die schwere Tür aufgeschlossen wurde. War es schon so weit? Holten sie ihn jetzt ab? 

Er rutschte, unbeholfen durch seine Fußfesseln, von der Pritsche. Der Gefängniswärter schob seinen massigen Körper zur Hälfte durch die Tür. In der Hand hielt er einen Stock, bereit zum Zuschlagen. 

»Weg von der Tür!«, blaffte der Mann ihn an, obwohl Duncan nicht einen Schritt in seine Richtung getan hatte. Dann trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Er hatte eine Eisenkette mit Handschellen bei sich. »Du hast Besuch.« 

Moira? Duncans Herz begann schneller zu schlagen. Würde, konnte sie wirklich …? 

»An die Wand! Auf die Knie mit dir! Hände nach vorne!« 

Widerspruchslos folgte er dem Befehl. Der Kerkermeister fesselte Duncans Hände mit der Kette an den eisernen Ring in der hinteren Wand, dann trat er zurück und öffnete die Tür. 

»Ihr könnt jetzt zu ihm. Klopft an die Tür, wenn Ihr wieder rauswollt.« 

Duncan starrte die Gestalt an, die seine Zelle betrat. Es war nicht Moira. Es war der Doktor. 

McIntyre presste sich angewidert ein Taschentuch vor die Nase, ein Hauch von Parfüm wehte zu Duncan herüber. Natürlich. In einer Gefängniszelle roch es nun einmal nicht gut. 

»Sir.« Duncan versuchte sich aufzurichten, kam aber wegen der Handfesseln nicht weit. Eine widersprüchliche Mischung von Empfindungen jagte durch seine Adern: Erleichterung, dass der Doktor offenbar keinen größeren Schaden genommen hatte; Beschämung angesichts dessen, was er ihm angetan hatte. Und über allem die Angst um Moira. McIntyres Besuch hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten. 

Der Doktor sah ihn lange und schweigend an. So lange, bis Duncan die Ungewissheit nicht länger aushielt. »Ist sie …« Er brachte es nicht über die Lippen. »Wie geht es … Mrs McIntyre?« 

»Wage nicht, ihren Namen auszusprechen, du gewissenloser Schuft!« Der Doktor nahm das Taschentuch herunter. »Was hast du mit ihr angestellt?« 

Vor Duncan schien sich ein Abgrund aufzutun. »Wie geht es ihr? Bitte, Sir!« 

McIntyre sah ihn mit unbewegter Miene an. »Sie ist über den Berg. Noch ein, zwei Tage, dann kann sie wieder aufstehen.« 

Duncan war so erleichtert, dass er für einen Moment sogar seine eigene missliche Lage vergaß. »Danke!«, murmelte er. »Danke.« 

McIntyre musterte ihn nachdenklich. »Liebst du sie?« 

»Sir?« 

»Antworte mir einfach. Liebst du sie?« 

Duncan senkte den Blick. Was sollte diese Frage? Und was würde seine Antwort für Moira bedeuten? Aber stand nicht schon in der Bibel: »Eure Rede sei ja, ja, nein, nein.«? Er hob den Kopf und blickte McIntyre an. »Ja, Sir.« 

»Schön.« Zu Duncans Überraschung nickte McIntyre so zufrieden, als sei Duncan ein gelehriger Schüler. »Dann wird dir sicher daran gelegen sein, dass es ihr auch weiterhin gut geht.« 

Duncan sah ihn stumm an, wartete darauf, dass er weitersprach. 

»Ich bin hier, um dir einen Handel vorzuschlagen.« McIntyre ging wenige Schritte in der Zelle auf und ab, dann stellte er sich wieder vor ihn. »Solltest du nicht tun, was ich von dir verlange, werde ich Moira verstoßen. Stell dir vor, wie es ihr dann ergehen würde. Sie hätte kein Geld, keine Bleibe, keine Zukunft. Niemand würde ihr helfen. Alle würden sich von ihr abwenden, wenn sie erfahren, was sie getan hat. Sie wäre ganz allein. Sie wäre eine ehrlose Person, nicht besser als ein Sträfling, und müsste stehlen, um zu überleben. Oder sich sogar der Prostitution –« 

»Hört auf!« Duncan hätte sich am liebsten die Hände auf die Ohren gepresst. McIntyre wusste genau, wie er es anstellen musste, um ihn gefügig zu machen. »Was wollt Ihr von mir?« 

»Nichts weiter, als dass du meiner Aussage zustimmst.« 

Duncan hörte wortlos zu, als der Doktor ihm erklärte, was er von ihm erwartete. 

»Ich soll also für Euch lügen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. 

»Wenn du es so nennen willst.« 

»In der Bibel steht, du sollst kein falsches Zeugnis ablegen«, sagte Duncan leise. 

»Steht in der Bibel nicht auch, du sollst nicht ehebrechen?«, gab McIntyre scharf zurück. »Ich denke, das gilt auch für Papisten.« 

Duncan schwieg. Dann schaute er auf. »Ich hatte Euch einmal für einen guten Menschen gehalten.« 

»Urteile nicht vorschnell über mich. Dieses kleine Arrangement hätte nämlich auch für dich seine Vorteile. Es würde, ganz wörtlich, deinen Hals aus der Schlinge ziehen. Es gäbe keine Anklage wegen Diebstahls, denn ich werde nicht erwähnen, dass du den Karren und das Pferd gestohlen hast. Ich denke, wir haben uns verstanden.« McIntyre trat zur Tür und klopfte zweimal. »Wärter? Ich bin fertig.« 

Duncan sah ihm noch immer nach, als sich die schwere Tür längst wieder geschlossen hatte. 

* 

Das Gericht von Parramatta tagte in einem einfachen, aus Holz und Stein errichteten Gebäude. Vor fünf Monaten, als Oberaufseher Holligans Angriff auf sie verhandelt worden war, war Moira schon einmal hier gewesen. Damals hatte sie für Duncan ausgesagt. Und diesmal ging es erneut um ihn. Moira kam sich vor, als hätte man ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt.  

McIntyre hatte ihr vor der Abreise etwas Laudanum gegeben, und jetzt nahm sie alles wie durch einen leichten Schleier wahr. Sie fühlte sich noch immer schwach und leicht fiebrig, aber McIntyre hatte gemeint, für ihre Aussage würde es reichen. 

Die vielen Menschen auf der Straße, all die Gerüche und Geräusche – marschierende Rotröcke, rumpelnde Bierkarren, flanierende Passanten – erdrückten sie schier. Am liebsten hätte sie sich wieder in ihr Bett zurückgezogen. Wie sollte sie die nächsten Stunden nur überstehen? Doch über den Mann, der ihnen vor dem Gerichtsgebäude entgegenkam, freute sie sich. 

»Dr. Wentworth!« 

»Mrs McIntyre, Dr. McIntyre.« Der große Mann neigte den Kopf. Er war blass und von Trauer um Catherine gezeichnet. Um den linken Ärmel seines grauen Rocks trug er eine schwarze, handbreite Seidenbinde. Gestern hatte McIntyre Moira über Catherines Tod in Kenntnis gesetzt, nicht ahnend, dass sie bereits davon wusste. Er war sogar bei der Beerdigung gewesen. 

Moira murmelte eine Beileidsbekundung, schließlich musste McIntyre nicht erfahren, dass sie Wentworth am Tag von Catherines Tod gesehen hatte. 

Wentworth dankte leise. »Ja, es war ein schwerer Schlag. Catherine … sie hat Euch immer als Freundin betrachtet.« Er sah Moira an. Forschend, besorgt. »Geht es Euch gut, Mrs McIntyre? Nach all diesen … schrecklichen Sachen?« 

Moira begriff, dass er Bescheid wusste. Und dass auch er schweigen würde, um sie zu schützen. 

»Aber ja doch«, sagte McIntyre, bevor sie antworten konnte. »Wollen wir hineingehen?« 

Wentworth nickte und hielt Moira zurück, als sie ihrem Mann folgen wollte.  

»Wenn ich irgendetwas für Euch tun kann, Mrs McIntyre«, sagte er mit gesenkter Stimme, »dann lasst es mich wissen.« 

»Danke.« Moira lächelte und kam sich nicht mehr ganz so einsam vor. Wenigstens ein Freund war ihr geblieben. 

Der Gerichtsraum war bereits zur Hälfte gefüllt. Moira und McIntyre nahmen auf Stühlen in der ersten Reihe Platz, während Wentworth sich auf eine der Bänke im Hintergrund setzte. Ein einfacher, langer Tisch diente als Richterpult. Moira seufzte innerlich auf, als sie sich umdrehte und zwischen den Zuschauern die aufgeputzte, rundliche Gestalt von Mrs Zuckerman erblickte, die ihr jetzt hoheitsvoll zuwinkte. Natürlich war das nicht anders zu erwarten gewesen, da es ihr Gemahl, Mr Zuckerman, war, der bei dieser Verhandlung als Laienrichter fungieren würde. 

Moiras Kopf wurde allmählich klarer, dafür packte sie erneuter Schwindel; das Laudanum schien allmählich seine Wirkung zu verlieren. Ein Raunen ging durch den Raum, als sich eine seitliche Tür öffnete. Moira blickte auf und stieß ein fast lautloses Keuchen aus, ihr Herz begann in heftigen Stößen zu schlagen. Zwei Wärter kamen herein, zwischen sich führten sie Duncan. Er trug noch immer die verdreckte und zerrissene Kleidung, in der er aus Toongabbie geflohen war, und man hatte ihm schwere Ketten an Händen und Füßen verpasst, die bei jedem Schritt rasselten. Er hatte sich waschen und rasieren dürfen, aber sie hatten ihm übel zugesetzt. Sein linkes Auge war zugeschwollen, und auch seine Unterarme zeigten Spuren von Schlägen. 

Tränen schossen ihr in die Augen, ein dicker Kloß saß in ihrer Kehle. Was hatten sie ihm nur angetan? Sie wollte aufspringen, zu ihm laufen, ihn anfassen, ihn umarmen … Aber bevor sie auch nur eine Bewegung machen konnte, schloss sich McIntyres Hand fest um ihren Oberarm. 

»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe!«, flüsterte er. 

Sie nickte wortlos. Mit hämmerndem Puls, aber unbewegtem Gesicht sah sie zu, wie man Duncan nach vorne führte. 

»Hängt ihn auf!« 

»Verbrecher!« 

»Irischer Bastard!«, tönte es aus den Zuschauerreihen. Moira erkannte Mrs Zuckermans Stimme. Und obwohl alles in ihr danach schrie, sich umzudrehen und der dicken Frau die Meinung zu sagen, blieb sie stumm sitzen und rührte sich nicht, sah nur Duncan an. 

Als man ihn zur Anklagebank führte, sah er sich suchend um. Ihre Blicke trafen sich, und nur ein winziges Zucken seiner Augen zeigte, dass er sie gesehen hatte. Nicht mehr. 

Der Friedensrichter trat ein, gefolgt von zwei Beisitzern. War es nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass Mr Zuckerman heute den Vorsitz innehatte? Wenn Moira sich den verkniffenen Mund ansah, wohl eher ein schlechtes. Um die Würde seines Amtes zu unterstreichen, trug Mr Zuckerman eine schlecht sitzende graue Perücke mit seitlich eingedrehten Locken. In einer weniger ernsten Situation hätte Moira sich sicherlich über sein Bemühen amüsiert, die Würde seines Amtes solcherart zu unterstreichen. So aber war ihr ganz und gar nicht zum Lachen zumute. 

Sie starrte ihn an, während er die Liste der Anwesenden verlas. Anschließend wandte er sich direkt an sie und bat sie, den Raum bis zu ihrer Aussage wieder zu verlassen. 

Moira erhob sich langsam und bemühte sich, auf dem kurzen Weg bis zum Ausgang keine Schwäche zu zeigen. Sie wollte Duncan in dieser Situation nicht alleinlassen, aber als Zeugin durfte sie nicht bleiben. Anders als Moira war es McIntyre als Nebenkläger erlaubt, während der gesamten Verhandlung anwesend zu sein. Wenn er nur sein Wort hielt und Duncan nicht auch noch des Diebstahls bezichtigte! 

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, sank sie auf einen Stuhl im Vorraum und schloss die Augen. Schon die kurze Fahrt von Toongabbie nach Parramatta hatte sie erschöpft, und jetzt fühlte sie sich so matt, als hätte sie stundenlang schwer gearbeitet. Ihr Finger fuhr zum Mund, aber der Nagel war bereits so abgebissen, dass nichts mehr da war, auf dem sie hätte herumkauen können. 

In den vergangenen Tagen hatte sie versucht, ihren Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Sie hatte sich sogar zu einer Entschuldigung durchgerungen, auch wenn sich alles in ihr dagegen gesträubt hatte. Sie bereute nichts. Weder den Ehebruch noch die Flucht. Nichts von alldem, was sie mit Duncan verband. Aber für ihn war sie jetzt zu allem bereit. 

McIntyre hatte sie nur kalt angesehen. »Er wird seine gerechte Strafe erhalten«, war alles, was er dazu gesagt hatte. 

»Mrs McIntyre?« Sie schreckte auf, als sie jemand an der Schulter berührte. Der Gerichtsdiener. »Man hat Euch rufen lassen.« 

Alle Blicke richteten sich auf sie, als sie an den Zuschauern vorbei nach vorne ging und sich auf den Stuhl neben dem Richtertisch setzte. Von hier aus konnte sie jeden der Anwesenden sehen. Und jeder konnte sie sehen. Sie senkte die Lider. 

Richter Zuckerman legte ein Blatt Papier vor sich. »Erklärt Ihr, dass Ihr Mrs Moira McIntyre seid, geborene Delany, verheiratet mit Dr. Alistair McIntyre, wohnhaft in Toongabbie?« 

Sie bejahte. 

Zuckerman nickte zufrieden. »Da Euer Gemahl sich für Euch verbürgt, ist eine Vereidigung nicht nötig.« 

Sie sah kurz zu McIntyre. Er war sichtlich angespannt und konnte seine Nervosität nur schwer im Zaum halten. Immerhin würde sie so keinen Meineid schwören müssen. 

»Kennt Ihr den Angeklagten?« 

Ein erneuter Blick, diesmal zur Anklagebank, wo Duncan stand. Er schaute stur vor sich hin und sah sie nicht an. Sie zwang sich, sich wieder dem Friedensrichter zuzuwenden. »Ja – Euer Ehren.« 

Sie fand es lächerlich, diesen Mann mit dem Titel eines Richters anzusprechen. Aber es war nun mal die richtige Anrede. Auch für einen Laienrichter. Hier und jetzt verkörperte er das Gesetz. 

»Nennt seinen Namen.« 

»D… O’Sullivan, Euer Ehren. Einer der Sträflinge. Er … er arbeitet für uns.« 

»Seit wann?« 

»Seit April.« 

Zuckerman nickte, dann holte er ein Papier hervor. »Der Angeklagte wird beschuldigt, von seiner Arbeitsstelle in Toongabbie geflohen zu sein und dabei Euch, Mrs McIntyre, widerrechtlich und in der Absicht, ein Lösegeld zu erpressen, entführt zu haben. Könnt Ihr diese Anschuldigung bestätigen?« 

Moira zögerte. Genauso hatte McIntyre es ihr eingebläut. Natürlich hatte sie nach einer anderen Lösung gesucht und wilde Pläne geschmiedet. Sie konnte behaupten, sie selbst habe Duncan gezwungen, mit ihr fortzugehen. Sie konnte eine Pistole in den Gerichtsraum schmuggeln und Duncan befreien, um erneut mit ihm zu flüchten. Sie konnte … 

Am Ende hatte sie dann doch alles wieder verworfen. All diese Pläne waren Unfug. Sie war noch sehr geschwächt, und auch für Duncan war das Risiko einfach zu groß. Aber sie konnte auch nicht hier sitzen und ihn einer Sache bezichtigen, die er nicht getan hatte. Und genauso wenig durfte sie die Wahrheit sagen. Ihr blieb nur noch eine einzige Möglichkeit. 

»Mrs McIntyre?« 

Wieder ging ein Gemurmel durch den Raum. Moira holte tief Luft und wandte sich an Zuckerman. »Was … was hat der Angeklagte dazu gesagt?« 

Zuckerman runzelte die Stirn. »Es ist nicht üblich, dass Zeugen den Richter befragen. Aber in Eurem Fall will ich eine Ausnahme machen. Der Angeklagte hat sich geweigert, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Dies wird als Schuldanerkenntnis gewertet.« 

Duncan verweigerte die Aussage? Sie warf ihm einen weiteren, raschen Blick zu. Damit würde er zumindest nicht lügen. 

Zuckerman sah sie über den Rand seiner Brille so vorwurfsvoll an, als sei sie schuld an dieser Ungehörigkeit. »Früher hätte man eine solche Missachtung des Gerichts nicht geduldet.« 

Moira wusste, was er meinte. Noch vor wenigen Jahrzehnten, so hatte Mr Curran, der mit ihrem Vater befreundete Anwalt, ihr einmal erzählt, zwang man schweigende Angeklagte mit drakonischen Mitteln zur Aussage. Man ließ sie nackt niederliegen und beschwerte ihren Körper mit Gewichten, so lange, bis sie sich schuldig oder nicht schuldig bekannten – oder starben. 

»Nun, Mrs McIntyre?« 

Moira blickte erneut zu Duncan, dann zu McIntyre. Alles erschien ihr plötzlich unwirklich. Der Raum, die Menschen, Mr Zuckerman neben ihr mit seiner viel zu großen Perücke, die ihm ständig nach vorne rutschte. Schwindel überkam sie, dennoch bemühte sie sich um eine feste Stimme. »Ich erinnere mich nicht mehr.« 

Zuckerman hob eine Augenbraue. »Ihr erinnert Euch nicht? Ihr erinnert Euch nicht, dass dieser Mann Euch entführt hat?« 

Moira schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie so bestimmt, wie es ihr möglich war. 

»Ich darf Euch darauf hinweisen, Mrs McIntyre, dass Ihr Euch auch ohne Meineid strafbar macht, wenn man Euch der Lüge überführt.« 

»Ich lüge nicht!« Wahrscheinlich sah man ihr den Schwindel an der Nasenspitze an. »Ich sagte, ich kann mich nicht erinnern!« 

Jetzt wirkte Zuckerman doch etwas ratlos. Er wechselte ein paar Worte mit seinen Beisitzern, dann wandte er sich wieder an Moira. »Nun, ich habe erhebliche Zweifel an dieser Aussage. So bleibt mir nichts anderes, als mich ausschließlich auf die Aussage Eures Gemahls zu berufen. Ihr seid entlassen.« 

Das war alles? Moira stand auf, blieb aber vor dem Stuhl stehen. »Darf ich noch etwas sagen, Mr – Euer Ehren?« 

Ihr Herz klopfte so heftig, dass es in ihren Ohren dröhnte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Duncan den Kopf hob. »Euer Ehren, ich … möchte ein gutes Wort für den Angeklagten einlegen. In der Zeit, die er bei uns war, hat er … hat er sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Mein Mann kann das bestätigen.« 

Es konnte helfen, wenn jemand den rechtschaffenen Charakter eines Angeklagten herausstellte. Auch das hatte ihr Mr Curran erzählt. Wenn man schon nicht seine Unschuld beweisen konnte, so vermochte ein guter Ruf oft das Strafmaß zu senken. Und Duncan hatte sonst niemanden, der für ihn sprach. Nicht einmal einen Verteidiger, aber das war eher die Regel als die Ausnahme. 

Zuckerman sah sie mit stechendem Blick an. »Setzt Euch noch einmal, Mrs McIntyre.« Im Raum war es plötzlich totenstill. »Habe ich das richtig verstanden? Ihr bittet um Gnade für jemanden, der Euch bedroht und entführt hat? Für einen Sträfling? Wie erklärt Ihr mir das?« 

»Ich …« Sie suchte verzweifelt nach einer Begründung. Auf einmal erinnerte sie sich, wie sie zusammen mit Duncan in der Küche über der Bibel gesessen hatte, und an seine Worte, dass er niemanden hassen würde. »Mit Vergebung«, sagte sie, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Eine der höchsten christlichen Tugenden. Soll man seinen Feinden nicht vergeben?« 

»Wir sind nicht hier, um zu vergeben, sondern um Recht zu sprechen.« Zuckerman schob sich die Perücke zurecht, die bedenklich zur Seite gerutscht war. »Wenn er Vergebung will, soll er sich an den Reverend halten. Aber nein, der ist ja nicht für ihn zuständig. Die Papisten haben ja ihre eigenen Pfaffen.« 

Vereinzeltes Lachen ertönte aus den Zuschauerreihen. Selbst über Zuckermans verkniffenes Gesicht huschte ein kurzes Grinsen. Es ließ ihn aussehen wie einen böswilligen Kobold. 

Moira griff nach dem letzten Strohhalm. »Aber … er hat mir das Leben gerettet!« 

»Inwiefern?« 

»Euer Ehren, bitte«, ließ sich jetzt McIntyre vernehmen. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl in der ersten Reihe herum, dann stand er auf. »Meine Frau ist erschöpft. Sie weiß nicht, was sie sagt. Sie war sehr krank.« 

»Dr. McIntyre, Ihr habt Eure Aussage bereits gemacht«, wies ihn Zuckerman zurecht. Moira konnte ihm geradezu ansehen, wie er seine Macht genoss. 

»Aber er hat recht«, griff sie das Argument schnell auf. »Der … der Angeklagte hat mich vor dem sicheren Tod gerettet und mich den ganzen Weg zurück nach Hause gebracht.« 

»Interessant.« Zuckerman beugte sich vor. »Woher wisst Ihr das, wenn Ihr Euch doch nicht erinnern könnt?« Er mochte nur Laienrichter sein, aber ihm entging nichts. 

»Man … mein Mann hat es mir erzählt.« 

»Oder ist es Euch plötzlich wieder eingefallen? Möchtet Ihr dem Gericht noch etwas mitteilen?« 

»Nein, Euer Ehren.« 

Zuckermans Augen funkelten wie zwei Irrlichter. »Und was meint Ihr damit, er habe Euch ›den ganzen Weg zurückgebracht‹? Von wo?« Er warf einen Blick in seine Papiere. »Laut Aussage Eures Gemahls hattet Ihr Euch gar nicht weit von Toongabbie entfernt. Ist das nicht richtig? Habt Ihr Euch vielleicht doch weiter entfernt? Zu Fuß? Oder womit wart Ihr unterwegs?« 

Moira überlief es kalt, während sie ihre Unaufmerksamkeit verfluchte. Sie bewegte sich hier auf gefährlichem Terrain. Unbedingt musste sie verhindern, dass die Sprache auf den Karren und das Pferd kamen, die sie entwendet hatten. Am Ende würde sie Duncan noch an den Galgen bringen. 

»Nein. Nein, ich … ich weiß es nicht mehr. Und … mein Mann hat sicher recht mit seiner Aussage«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Ich erinnere mich nur noch, dass ich in meinem Bett aufwachte.« 

Zuckerman nickte zufrieden. »Mrs McIntyre, Ihr dürft zurück auf Euren Platz.« 

Der Richter und seine beiden Beisitzer steckten die Köpfe zusammen und berieten sich. Hinter sich hörte Moira die Zuschauer tuscheln. Einzelne Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr. 

»… Die arme Mrs McIntyre. Durch was für ein Martyrium sie gegangen sein muss … Entführt von einem Sträfling. Wie furchtbar … Und jetzt kann sie sich nicht einmal mehr daran erinnern. Das ist sicher der Schock … Hoffentlich hängen sie ihn auf! Solche Verbrecher sind eine Schande für die Menschheit … Was soll man von einem irischen Papisten schon erwarten?« 

Kurze Zeit später hieb Zuckerman den Hammer auf den Tisch. »Das Urteil ist gefällt.« 

Moiras Herz krampfte sich zusammen, als sie sich gemeinsam mit allen anderen erhob. Die Luft im Raum war zum Schneiden dick, für einen Moment glaubte sie, nicht mehr atmen zu können. Kein Laut war zu hören. 

»Der Angeklagte wird für schuldig befunden, aus Toongabbie geflohen zu sein. Im Namen seiner Majestät König George III. verurteile ich ihn für dieses Vergehen zu einhundert Peitschenhieben.« 

Moira atmete auf. Das war zwar hart, aber noch vertretbar. Und wenn sie ihn züchtigten, würden sie ihn nicht hinrichten. 

»Außerdem«, Zuckerman klopfte erneut mit dem Hammer und hob seine Stimme, um den jetzt einsetzenden Tumult zu übertönen, »wird er für schuldig befunden, die hier anwesende Mrs McIntyre entführt und verschleppt zu haben. Dafür erhält er weitere zweihundert Hiebe. Sobald er anschließend dazu in der Lage ist, wird er zurückkehren ins Straflager, wo er für sechs Monate schwere Ketten tragen wird. Die körperliche Züchtigung wird morgen früh um zehn Uhr öffentlich in Toongabbie vollzogen. Gott schütze den König.« Er wandte sich an McIntyre. »Dr. McIntyre, angesichts der Angst, die Ihr um Eure Frau auszustehen hattet, wird es Euch sicher eine besondere Genugtuung sein, der verantwortliche Arzt bei dieser Bestrafung zu sein.« Er ließ den Hammer auf den Tisch sausen. »Die Sitzung ist hiermit aufgehoben. Führt den Gefangenen ab.« 

Dreihundert Schläge mit der Neunschwänzigen? Moira konnte kaum atmen vor Entsetzen. 

»Nein! Das geht nicht, das … das ist viel zu viel!« Sie wollte nach vorne zum Richtertisch stürzen, aber eine harte Hand hielt sie zurück. 

»Wirst du jetzt ruhig sein!«, zischte McIntyre. »Er kann von Glück sagen, ein so mildes Urteil bekommen zu haben! Mancher Sträfling hat mehr überstanden!« 

Ihre Augen suchten Duncan, den die zwei Wärter jetzt wieder in ihre Mitte nahmen. Bevor sie ihn abführten, fand sein Blick den ihren. Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln und schüttelte kaum sichtbar den Kopf. Er wirkte fast erleichtert. 

Moira sank zurück auf ihren Stuhl. Wie konnte man erleichtert sein, wenn einen dreihundert Schläge erwarteten?