22. 

 

blumeMoira schlug die Augen auf und gähnte. Ein Sonnenstrahl fing sich in dem roten Baldachin über ihrem Kopf, rote Bettwäsche umgab sie. Dann kam ihr der gestrige Tag wieder ins Gedächtnis, und hastig setzte sie sich auf. Sie war in einem Zimmer in der Residenz des Gouverneurs, trug nur ihr Unterkleid, und der Helligkeit nach zu schließen, musste es bereits später Vormittag sein. 

Ein bohrender Schmerz saß in ihrer Schläfe. Sie hatte nicht erwartet, überhaupt schlafen zu können. Stundenlang hatte sie sich hin- und hergewälzt und über die dramatischen Ereignisse des vergangenen Tages nachgedacht. Erst am frühen Morgen war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen. 

Ihr erster Gedanke galt Duncan. War ihm und Fitzgerald tatsächlich die Flucht geglückt? Oder war er längst gefasst und man hielt ihn irgendwo gefangen? Und – hatte er wirklich jemanden getötet, wie es der Major behauptete? Sie drängte die Tränen zurück. Wenn sie jetzt anfing zu weinen, würden Angst und Sorge überhandnehmen. Das durfte sie nicht zulassen. 

Entschlossen schlug sie die schwere Decke zurück und stieg über eine kleine, dreistufige Fußbank aus dem hohen Bett, das breit genug war für zwei Personen. Sie benutzte den Nachttopf, dann goss sie Wasser in die Waschschüssel, wusch sich, fuhr sich kurz durch die Haare und kleidete sich an. Ihr gelbes Kleid hatte durch den gestrigen Regen gelitten und war nun reichlich zerknittert. Anschließend rückte sie die Kommode beiseite, die sie am Abend vor die Tür geschoben hatte, um unliebsame Besucher auszusperren, entriegelte die Tür und ging hinunter. 

Kaum etwas wies darauf hin, dass sich im Haus am Vortag eine Horde rebellischer Sträflinge ausgetobt hatte. Scherben und zerstörte Möbel waren weggeräumt, Tische und Stühle standen wieder an ihrem Platz, und im Treppenhaus waren zwei Diener dabei, das Geländer abzustauben. 

Zu ihrer Erleichterung war im Frühstückszimmer außer einem Hausmädchen nur noch Mrs King anwesend, die sie herzlich begrüßte. »Ihr seht blass aus, Mrs McIntyre. Konntet Ihr ein wenig schlafen?« 

Moira murmelte eine höfliche Erwiderung, entschuldigte sich, dass sie so spät kam, und setzte sich, während das Hausmädchen ein neues Gedeck auflegte und ihre Teetasse füllte. 

»Der Gouverneur wird jeden Moment hier eintreffen.« Mrs King schien ihr Frühstück bereits beendet zu haben und ließ sich nun noch eine weitere Tasse Tee eingießen. In ihrem cremefarbenen Kleid und den hochgesteckten dunklen Haaren wirkte sie wie das blühende Leben. Niemand sah ihr an, welchen Schrecken sie gestern überstanden hatte. 

Moira ließ sich ein paar Eier und Toast auftischen und aß ohne großen Appetit. Das Angebot an Speisen war mit Räucherfisch, Spiegeleiern, Brot, Marmelade, Porridge und gebratenem Speck üppiger, als sie es nach dem gestrigen Tag erwartet hätte. Sollte sie Mrs King darauf ansprechen, was Duncan inzwischen alles vorgeworfen wurde? Während sie noch an dieser Frage brütete, waren von draußen Stimmen und Pferdewiehern zu hören. Eilige Schritte durchquerten den Flur. Mrs King betupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette. 

»Bitte, Mrs McIntyre, entschuldigt mich. Ich glaube, mein Gatte ist da.« Sie erhob sich, raffte ihren Rock und eilte aus dem Zimmer. 

Moira hatte keinen Hunger mehr. Sie schob ihren halbvollen Teller zurück, stand ebenfalls auf und trat ans Fenster. Das Regenwetter hatte einem strahlend blauen Himmel Platz gemacht, Pfützen trockneten in der Sonne. Eine kleine Versammlung hatte sich auf dem Platz neben dem Haus eingefunden, um den Gouverneur zu begrüßen. Moira erkannte Major Penrith, weitere Soldaten und McIntyre sowie etliche Hausangestellte. Gerade eilte der Pferdeknecht herbei, der ihr am Vortag den Braunen abgenommen und sie mit einem Handtuch versorgt hatte. Als sie sah, wie liebevoll sich die Eheleute King umarmten, durchzuckte es sie wie ein scharfer Stich. Gleichzeitig wuchs ihre Unruhe. Sie hatte keine Lust, dem nun sicher folgenden Aufruhr, den erneuten Erzählungen und Befragungen beizuwohnen. Sie wollte fort, und wenn es nach Toongabbie war. Bei all den Aufregungen des vergangenen Tages hatte sie noch keine Zeit gefunden, an ihre eigene Unterkunft zu denken. Ob die Überschwemmung dort großen Schaden angerichtet hatte? Duncan hatte zwar gesagt, sie solle hier auf ihn warten, aber mit diesem Gedanken konnte sie sich nicht anfreunden. Er war in Schwierigkeiten. Womöglich brauchte er ihre Hilfe. Und vielleicht wartete er ja in Toongabbie auf sie. 

Das Begrüßungskomitee verweilte noch immer auf dem kleinen Platz neben der Residenz. Ob sie auch dazutreten sollte? Gerade erstattete Major Penrith dem Gouverneur Bericht. Nein, entschied sie, sie würde einfach so gehen. Der Major hatte gestern Abend schließlich gesagt, sie könne sich frei bewegen. Er hatte nicht zu verstehen gegeben, dass sich diese Aussage nur auf die Residenz bezog. Kurzentschlossen trat sie aus der Haustür, sah, dass der Pferdeknecht alle Hände voll mit den Pferden des Gouverneurs und seiner Gefolgschaft zu tun hatte, und wandte sich in Richtung Stall. Ein Soldat kam ihr entgegen. Der Mann hatte es sichtlich eilig, hielt aber an, als sie ihn ansprach. 

»Sir«, bat sie. »Wäret Ihr so freundlich und würdet meinem Mann, Dr. McIntyre, und Major Penrith ausrichten, dass ich nach Toongabbie zurückkehre?« 

»Natürlich, Madam.« 

»Ach, und richtet Mrs King meinen Dank aus. Ich werde ihr beizeiten eine Nachricht zukommen lassen.« Dass sie sich nicht von ihr verabschieden konnte, belastete sie, aber die Frau des Gouverneurs würde es unter diesen Umständen sicher verstehen. 

»Sehr wohl, Madam.« Der Soldat deutete eine knappe Verbeugung an und eilte weiter. 

Im Stall war kein Mensch zu sehen; der Braune stand in einem Verschlag und schnaubte freudig, als sie sich ihm näherte. Der Sattel und die Satteldecke waren ordentlich aufgehängt. Schnell hatte sie das Pferd gesattelt und aus dem Stall geführt. Als sie aufsitzen wollte, glaubte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen und hielt inne. Ja, sie hatte recht gehabt: Dort am Waldrand, wo ein Weg in den Busch führte, stand eine kleine, schmale Gestalt und winkte. July! Wie lange hatte sie das Mädchen nicht mehr gesehen! Moira blickte sich um. Niemand achtete auf sie. Rasch führte sie das Pferd ein paar Schritte in den Wald, bis sie July und ihren ständigen Begleiter, den Dingo, erreicht hatte. 

»July! Was tust du hier? Das ist gefährlich! Der Major ist hier!« 

Es hatte ja doch keinen Sinn. Das Mädchen verstand sie sicher nicht, und selbst wenn, dann – 

»Dan-Kin«, sagte July in diesem Moment und lächelte breit. 

Moira blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Du kannst reden?«, war alles, was sie herausbrachte. Dann erst ging ihr die Bedeutung von Julys Worten auf, und jäh durchzuckte sie Hoffnung. »Hast du gerade ›Duncan‹ gesagt?« 

Konnte July wissen, wo er war? Oder – es überlief sie kalt – war ihm etwas zugestoßen? Aber nein, das konnte nicht sein. July lächelte. Sie würde nicht lächeln, wenn er in Gefahr wäre. 

»July, was willst du mir sagen? Weißt du, wo Duncan ist? Geht es ihm gut?« 

»Dan-Kin.« Das Mädchen nickte und deutete hinter sich, in den dichten Busch. »Dan-Kin. Komm.« 

Moiras Herz begann in wilder Vorfreude schneller zu schlagen. July würde sie zu Duncan führen … Erneut blickte sie sich um. Das Haus des Gouverneurs war durch die dichten Blätter kaum mehr zu sehen. Moira zögerte nicht länger und schwang sich auf den breiten Pferderücken, dann legte sie die Zügel kurz ab und reichte July die Hand. Moira hätte erwartet, dass July vor dem großen Tier zurückschrecken würde, aber das Mädchen stieg ohne Zögern auf und setzte sich vor sie. Moira griff rechts und links an ihr vorbei nach dem Zügel und stieß dem Braunen die Fersen in die Seiten. Schnell hatte die warme Fülle des Buschs sie verschluckt. 

Der Wald dünstete feuchte Hitze aus. Unter ihrem leichten Kleid brach Moira der Schweiß aus. Flirrendes Grün überall, die Laute der Wildnis umfingen sie wie in einer neuen Welt. Ein Garten Eden voller Wunder. 

Sie waren noch nicht weit gekommen, als July die Hand hob und Moira bedeutete, das Pferd anzuhalten. Für ein paar Sekunden standen sie fast vollkommen bewegungslos. July beugte sich leicht zur Seite und schien zu lauschen. Auch Moira horchte. Folgte ihnen jemand? Sie drehte sich um, aber in dem grüngelben Dickicht konnte sie nichts erkennen. Ein eigenartiges Lächeln ging über Julys nussbraunes Gesicht; es lag fast etwas Boshaftes darin. Dann nickte sie. Moira trieb das Pferd wieder an. 

* 

Es war der erste heiße Tag nach dem langen Regen. Seit Stunden liefen sie schon unter dem geschlossenen Blätterdach. Die feuchte Schwüle stand, es regte sich kein Lüftchen. Jetzt kam Samuel mit großen Schritten zu ihnen vor. 

»Wart Ihr auch in China, Mr O’Sullivan?« 

Joseph hatte sie einen Großteil des Weges mit Anekdoten aus seinem Leben bei den Eora unterhalten und damit geprahlt, wie weit er schon herumgekommen war und wie gut er das Land kannte. 

»In China?« Joseph hob amüsiert eine buschige Augenbraue. »Seid Ihr auch diesem Ammenmärchen aufgesessen? Glaubt mir, ich war im Norden, im Süden und sogar weit bis Westen, aber von China habe ich nichts gesehen.« 

Samuel nickte enttäuscht und ließ sich wieder zurückfallen. 

Als Joseph an diesem Morgen das Kängurufell abgelegt hatte, hatte es Duncan vor Überraschung die Sprache verschlagen. Auf Josephs Rücken konnte man die verblassten Spuren der Neunschwänzigen sehen, aber obendrein wies seine Haut an Schultern und Brust dieselben narbigen Wülste auf, die auch die Körper der beiden Eora-Männer bedeckten, die sie begleiteten. Die Narben sahen aus, als wären mit einer scharfen Klinge Schnitte gemacht worden, die man danach mit irgendetwas eingerieben hatte. 

»Dieser Arzt, mit dem dein Mädchen verheiratet ist«, fragte Joseph jetzt, »was ist das für ein Mensch?« 

Duncan öffnete den Mund, um ihm zu antworten, dann schloss er ihn wieder. Was hätte er schon sagen können? Dass McIntyre ein guter Arzt war? Dass er ein missgünstiger Mensch war? Aber damit täte er ihm unrecht, immerhin hatte Duncan ihm seine Frau abspenstig gemacht. Es war nicht verwunderlich, wenn McIntyre ihn als seinen persönlichen Feind betrachtete. Und dennoch hatte Duncan das unbestimmte Gefühl, als wäre da noch mehr. Hatte sich nicht auch der Doktor um ihn gekümmert, als er fiebernd im Lazarett gelegen hatte? 

»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Es ist lange her, dass ich ihn gesehen habe.« 

»Und was ist mit deinem Mädchen, dieser Moira? Bist du sicher, dass sie Ningali folgen wird?« 

Sie hatten Ningali am frühen Morgen losgeschickt, um Moira zu holen. Duncan hoffte inständig, dass sie dem Mädchen vertrauen würde, und nickte mit mehr Überzeugung, als er wirklich empfand. Würde Moira tatsächlich ihr bisheriges Leben für ihn zurücklassen? Sie hatten nicht viele Möglichkeiten. Eine davon war, wie Joseph bei den Eora zu bleiben. Aber ein Leben unter den Eingeborenen, fernab jeglicher Zivilisation, wollte er Moira nicht zumuten. Zurück konnte er auch nicht. Sobald er sich gestellt hätte, würde ihn noch immer Auspeitschung und Verbannung nach Norfolk Island erwarten, wenn nicht gar der Galgen. 

Die Lösung, die Joseph vorgeschlagen hatte, war die einzig mögliche; sich mit dem kleinen Boot, das er in einer Bucht etliche Meilen im Norden versteckt hatte, ein ruhiges Plätzchen fernab der großen Siedlungen zu suchen und für die nächsten Jahre unterzutauchen. Joseph hatte nicht verraten, wie er an das Boot gekommen war, aber Duncan vermutete, dass er es einem Siedler gestohlen hatte. 

»Ich wollte mich selbst eines Tages dort niederlassen«, hatte Joseph gestern Nacht erklärt. »In einem Seitenarm des Hawkesbury. Das Gebiet ist fruchtbar und so weitläufig, dass niemand so schnell einen flüchtigen Sträfling aufstöbert. Aber dann bin ich doch bei meinen eingeborenen Freunden geblieben.« 

Gegen Mittag machten sie Rast neben einem umgestürzten Baumriesen, dessen Stamm mit Efeu und Flechten überwuchert war. Inzwischen spürte Duncan die Müdigkeit in allen Knochen – die zweite Nacht fast ohne Schlaf machte sich bemerkbar. Samuel gesellte sich zu ihm und gähnte. Auch er hatte nicht viel Schlaf bekommen, was sicher damit zusammenhing, dass der Hüne die vergangene Nacht nicht allein verbracht hatte. Wie Samuel ihm heute Morgen aufgeräumt erzählt hatte, hatte eine der Eora-Frauen Gefallen an ihm gefunden. 

»Duncan, was hältst du davon, wenn wir einfach bis zu diesem Timor segeln?« Er griff nach einem Stück getrocknetem Fleisch, das sie mitgenommen hatten. »Wie diese anderen Sträflinge, von denen dein alter Herr erzählt hat.« 

Joseph hatte ihnen von einer Gruppe Sträflinge berichtet, denen es vor ein paar Jahren gelungen war, mit einem gekaperten Schiff bis in die holländische Kolonie von Timor, Tausende von Seemeilen entfernt, zu segeln. Allerdings hatte man sie bald wieder eingefangen, nach England gebracht und ihnen dort den Prozess gemacht. Auch Duncan konnte sich noch daran erinnern. Vater Mahoney hatte damals eine Zeitung mit nach Hause gebracht, in der darüber berichtet wurde. 

»Seid Ihr ein Seemann, Mr Fitzgerald?«, fragte Joseph, der ihm zugehört hatte. 

»Nein«, gab Samuel zurück. »Aber was spricht dagegen, es zu versuchen?« 

»Wir haben nur ein Paddelboot, Samuel«, sagte Duncan. »Und das wird kaum für den Ozean geeignet sein, ganz zu schweigen davon, dass wir weder Proviant noch Wasser haben. Ich werde Moira keiner unnötigen Gefahr aussetzen.« 

Samuel schwieg, aber Duncan sah ihm an, dass für ihn das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen war. 

* 

Der Gouverneur war mit seiner Frau ins Haus gegangen, und die meisten Soldaten zerstreuten sich bereits. Aber was tat der Major da? Alistair sah, wie Penrith mit angespannter Aufmerksamkeit den Busch, der gleich hinter dem Haus anfing, beobachtete. Sobald er sich wieder ihm, Alistair, zuwandte, würde er ihn fragen, ob auch er gehen dürfte. Bei dem Gedanken, was wohl alles in seinem Haus zerstört worden war, sank seine ohnehin schlechte Laune noch weiter. Aber vielleicht gelang es ihm, noch ein paar Dinge zu retten. 

»Sehr gut.« Der Major drehte sich mit einem zufriedenen Nicken um. »Sergeant Gillet, sucht Euch vier Mann, und dann aufsitzen! Ihr auch, McIntyre!« 

»Was? Aber Major, Sir – ich wollte fragen, ob ich nicht zurück nach Toongabbie …« 

»Nichts da, McIntyre, darum könnt Ihr Euch später kümmern. Jetzt werden wir erst einmal Eurem Frauchen folgen«, sagte er halblaut, während ein selbstgefälliger Zug um seine Lippen spielte. »Ich habe gerade gesehen, wie diese kleine Wilde mit ihr sprach, und ich habe den starken Verdacht, dass die beiden diesen O’Sullivan aufsuchen werden. Mit etwas Glück werden wir den irischen Bastard schon bald wieder eingefangen haben. Und jetzt steht nicht herum wie eine ausgestopfte Puppe, sondern schwingt Euren Hintern auf ein Pferd!« 

Die anderen Soldaten machten kaum einen Hehl aus ihrer Belustigung über Alistairs ungeschickte Versuche, auf das Pferd zu steigen, bis sich der Pferdeknecht endlich erbarmte und ihm den Steigbügel festhielt. Alistair kam unsanft im Sattel zu sitzen und unterdrückte einen Schmerzenslaut. 

»Langsam«, mahnte der Major leise, sobald sie in den Busch eingetaucht waren. »Sie dürfen nicht merken, dass wir hinter ihnen sind!« 

Sie konnten Moira und dem Mädchen mühelos in großem Abstand folgen. Die Hufabdrücke waren selbst für einen Laien zu erkennen, da sie sich tief in den feuchten Boden eingedrückt und rasch mit Wasser gefüllt hatten. 

Neben Alistair und dem Major bestand der kleine Trupp aus dem jungen, schlaksigen Sergeant Gillet sowie vier einfachen Soldaten. Alistair rutschte auf dem unbequemen Sattel herum und suchte vergeblich eine für ihn angenehme Position. Sein Hinterteil fühlte sich so wund an, als hätte man ihn übers Knie gelegt. Der gestrige Weg von Toongabbie nach Parramatta war schlimm genug gewesen, aber da hatte er wenigstens auf einem halbwegs befestigten Pfad reiten können. Sich querfeldein durch den feuchten, feindseligen Busch quälen zu müssen war jedoch eine unzumutbare Steigerung. Von überall tropfte es auf ihn herab, der letzte ausgiebige Regenguss lag noch nicht lange zurück. Wohin er auch blickte, sah er nur grün, in allen möglichen Schattierungen. Von allen Seiten lärmte, schnatterte und kreischte es. Erschrocken fuhr er zurück, als sich in Augenhöhe eine braune Schlange von einem Baum herunterließ und vor ihnen im Gebüsch verschwand. 

Er hasste dieses Land. Er hasste diese fremdartige Natur mit all ihren widerwärtigen Kreaturen. Für einen Naturforscher mochte dieser Ausflug in die Wildnis sicher höchst erbaulich sein. Aber er war kein Naturforscher. Er war Arzt und wollte nichts mehr, als in seinem Studierzimmer zu sitzen und sich um seine Forschungen und seine Patienten zu kümmern. 

Und am Ende dieser Qualen stand womöglich Duncans Festnahme. Würde der Major später etwa auch darauf bestehen, dass Alistair der Hinrichtung des jungen Sträflings beiwohnte? Kalter Schweiß brach ihm bei dieser Vorstellung aus. Gott mochte verhindern, dass er sich das antun musste. 

Sie waren der Fährte noch keine halbe Stunde gefolgt, als der Major sein Pferd anhielt und behände aus dem Sattel sprang. Alistair hoffte schon auf eine Pause, doch der Major pflückte lediglich einen bunt schillernden Käfer samt Blatt von einem Baum. Dann übergab er ihn Higgins, einem blassen, pickligen Obergefreiten, der den Fund in ein Tuch wickelte und in seiner Satteltasche verstaute. Zu Hause würde der Major den Käfer wahrscheinlich mit einer Nadel durchbohren und ihn auf einem Papier befestigen. 

Der Boden war immer sumpfiger geworden, überall erstreckten sich Tümpel und riesige Pfützen, Froschgequake erfüllte die heiße, stickige Luft. Nach zwei Stunden hatte der Major nicht nur weitere Insekten gefangen, sondern seiner Sammlung auch noch einen grasgrünen Baumfrosch hinzugefügt, den er mit einem Schlag auf den Kopf getötet hatte. Alistair schwitzte, sein Hemdkragen war durchnässt und klebte an seinem Hals. Erneut holte er sein Taschentuch aus der Westentasche, fuhr sich über sein verschwitztes Gesicht und trank nach kurzer Überwindung ein paar lauwarme Schlucke Wasser aus der Feldflasche, die der Sergeant ihm reichte. Inzwischen waren alle abgestiegen und führten die Pferde, da Reiten bei diesem Untergrund kaum möglich war. Alistair war einerseits dankbar, da er auf diese Weise seinem geschundenen Hinterteil eine Pause gönnen konnte, andererseits war auch das Laufen unangenehm, denn die Schuhe versanken nun tief im weichen Boden. Bei jedem Schritt gab die feuchte Erde die Füße nur widerwillig mit einem schmatzenden Laut frei. 

Die Männer blieben stehen, als der Major erneut die Hand hob, den Finger auf die Lippen legte und nach vorne deutete. Im ersten Moment hoffte und fürchtete Alistair gleichermaßen, sie könnten am Ziel ihrer Suche sein, aber dann sah er vor sich, neben dem sumpfigen Gelände, einen flachen Hügel aus aufgeschichteten Blättern und Gräsern. Ein kleiner See, eher ein Tümpel, erstreckte sich daneben. 

»Leise!«, flüsterte der Major. Er drückte Alistair, der ihm am nächsten stand, die Zügel seines Pferdes in die Hand, zog seinen Degen und ging ein paar vorsichtige Schritte nach vorne. Mit einer raschen Bewegung ließ er seinen Degen senkrecht niederfahren. Dann hob er die Waffe. Auf der Klinge wand sich eine kleine gepanzerte Kreatur, so lang wie ein Unterarm, und stieß ein paar klägliche, fiepsende Laute aus. Ein paar Augenblicke später war sie still und rührte sich nicht mehr. 

»Higgins, hierher!« Er winkte dem Obergefreiten, der auch seine bisherigen Funde an sich genommen hatte. »Es sieht aus wie ein winziges Krokodil. McIntyre, was sagt Ihr dazu? Wusstet Ihr, dass es in Neuholland Krokodile gibt?« 

»Nein, Major, das wusste ich nicht.« Alistair bezweifelte, dass irgendjemand es wusste. Dieses riesige Land war zum großen Teil unerforscht. Die einzigen Krokodile, die Alistair je gesehen hatte, waren in einem Buch über Ägypten abgebildet gewesen. 

»Ein Prachtexemplar für meine Sammlung!«, fuhr der Major fort. »Ich werde es ausstopfen lassen und nach England schicken.« Er hielt Alistair den kleinen Tierkadaver auf der Klinge hin. »Sie scheinen mir hier ziemlich klein zu sein. Zwergkrokodile, nehme ich an. McIntyre, Ihr versteht doch sicher etwas davon. Was meint Ihr: Hat dieses Exemplar schon seine volle Größe erreicht?« 

Widerwillig betrachtete Alistair den schuppigen kleinen Körper. Als Arzt hatte er keine große Kenntnis von Tierkunde, aber diese Kreatur mit den bräunlichen Schuppen sah ihm nicht so aus, als sei sie ausgewachsen. Schon die Zahnreihen wirkten unfertig. 

»Es könnte auch ein Junges sein«, warf er ein. »Ich wäre lieber vorsichtig. Vielleicht –« 

Was dann geschah, lief so schnell ab, dass Alistair nicht einmal dazu kam aufzuschreien. Aus dem Wasser schoss ein dunkler, gepanzerter Alptraum hervor, stürzte sich auf den Major und riss ihn von den Füßen. Dieser stieß einen entsetzten Schrei aus. Ein riesiges Krokodil, sicher an die zwanzig Fuß lang, hatte ihn am Stiefel gepackt. Die Hälfte des Tierleibes musste sich noch im Wasser befinden, der schwere Schwanz peitschte das kaum einen Fuß tiefe Wasser. 

»Schießt!«, schrie der Major und hieb mit seinem Degen auf den Kopf des Tieres ein. »Sergeant, so schießt doch …!« 

Der Degen traf ein Auge, die riesigen Kiefer öffneten sich. Mit einem gotteslästerlichen Fluch kam der Major auf die Füße und stolperte rückwärts, knickte aber gleich wieder ein. Er wäre gefallen, wenn nicht der junge Higgins herbeigeeilt wäre und ihm die Hand gereicht hätte. Der schwere Leib des Krokodils setzte ihnen erschreckend schnell nach. 

»Du verdammtes Mistvieh!«, brüllte der Major das Tier an. »Mich kriegst du nicht!« Unvermittelt packte er Higgins und versetzte ihm einen Stoß, der den jungen Soldaten taumeln ließ. Im nächsten Moment schnappte das Krokodil zu. 

»Hilfe!«, schrie Higgins. »Hilfe! Major Pen–!« 

Seine Worte gingen unter in Gebrüll, als sich die mächtigen Kiefer des Krokodils um seinen Oberschenkel schlossen und ihn ins Wasser zogen. Die weißen Beinkleider färbten sich rot. Schüsse peitschten durch die Luft und schlugen im Wasser auf, ohne jede Wirkung. Der Major hatte sich einige Schritte weiter weg gerettet und übergab sich hinter einem Strauch. Alistair stand starr neben den Pferden, die schrill wiehernd die Köpfe hochwarfen. Er war wie gelähmt vor Furcht. 

Higgins schrie gellend, ruderte haltlos mit den Armen und wühlte das morastige Wasser auf, das sich schnell dunkelrot färbte. »Helft … Hil…!« 

Das schreckliche Maul mit den riesigen Zähnen öffnete sich und schnappte erneut zu. Ein weiterer grässlicher Schrei ertönte. In fliehender Hast luden die Soldaten die Musketen nach und legten an. 

»Aufhören!«, schrie der Major. Er wischte sich heftig atmend über den Mund, sein Gesicht war von Schweiß bedeckt. »Wir ziehen uns zurück!« 

»Aber Sir, Higgins ist …«, wandte Sergeant Gillet ein, blass wie ein Bettlaken. 

Der Major warf nur einen kurzen Blick zurück, wo das Wasser aufgewühlt war vom Todeskampf des bedauernswerten Higgins. »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Rüde nahm er Alistair die Zügel aus der Hand und humpelte los. Von seinem Stiefel tropfte Blut. »Obergefreiter Higgins ist in Erfüllung seiner Pflicht bei der Verfolgung eines Straftäters gestorben. Und nun weiter, meine Herren. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen.« 

Hinter ihnen hallten noch immer die entsetzlichen Schreie durch den Busch.