5. 

 

blume»Die kleine Wilde ist ja schon wieder da!« McIntyre blickte missbilligend über den Rand seiner Brille aus dem Fenster. 

Moira hob ebenfalls den Blick und sah hinaus. Wo die Wildnis anfing, nur einen Steinwurf vom Haus entfernt, konnte man die Gestalt eines dunkelhäutigen Mädchens erkennen. Sie war unbekleidet, und ihr Haar schien zu Moiras Erstaunen golden zu schimmern. Vor ein paar Tagen hatte sie sich mit William Penrith – dem »netten Penrith«, wie Moira den Lagerverwalter insgeheim nannte – über die Eingeborenen unterhalten. Diese, hatte er erzählt, hausten in den Wäldern, als schwarze Schatten in der Wildnis, die jederzeit kamen und gingen. Für viele Siedler waren sie ein Ärgernis, da sie ihnen den mühsam angebauten Mais oder Kartoffeln stahlen. Dabei war es wohl kein Stehlen im eigentlichen Sinn. Sie hatten lediglich keinen Begriff von Eigentum und nahmen sich, was die Natur ihnen bot. Manche kamen sogar zu den Häusern der Weißen und erbaten Lebensmittel – nie, als würden sie es brauchen, sondern stets, als wäre es ein Geschenk, das sie huldvoll annahmen. Aber tief in den Wäldern gab es angeblich auch feindliche Eingeborene, die schon Siedlungen der Weißen überfallen hatten. 

McIntyre wandte sich kopfschüttelnd wieder den Papieren zu, mit denen der halbe Frühstückstisch übersät war und die für Moira unverständliche Kritzeleien enthielten. Erneut blickte sie zu der bewegungslosen Gestalt hinüber, die fast jeden Morgen hier erschien. 

Hier, das war Toongabbie. Der Name kam aus der Sprache der Eingeborenen und bedeutete »Platz am Wasser«. Da die sandige Erde von Sydney keine Landwirtschaft zuließ, wie die ersten Siedler bald hatten feststellen müssen, hatte man gut fünfzehn Meilen westlich im Landesinneren neue Siedlungen gegründet. Über den Fluss hinweg sah man die Sträflingsunterkünfte, einfache Hütten aus Flechtwerk und Lehm, strohgedeckt und mit einem gemauerten Kamin, die sich in zwei Reihen entlang einer staubigen Straße erstreckten. An die dreihundert Häftlinge waren dort untergebracht. Auf der hiesigen Seite des Flusses erhoben sich Lagerhäuser und Vorratsschuppen, die Hütten der Aufseher und die Wohnhäuser ihrer Nachbarn, zumeist aus Holzbohlen hergestellt. Andere Häuser standen weiter außerhalb. Dort hatte man den Bewohnern, größtenteils ehemaligen Sträflingen, ein Stück Land überlassen. Die meisten dieser Besitzungen umfassten nur an die dreißig Morgen, doch manche Farmen in der Kolonie, die freien Siedlern gehörten, waren weitaus größer. 

Zu McIntyres Aufgaben zählten regelmäßige Besuche im Lazarett von Parramatta sowie die Versorgung der Bewohner und Sträflinge Toongabbies. Daher enthielt das Haus, das Moira und ihm zur Verfügung stand, neben den Wohnräumen auch ein Behandlungszimmer. Es war ein weiß gestrichener, einstöckiger Ziegelbau, dessen Zimmer nur mit dem Notwendigsten bestückt waren. Moira hatte versucht, die kahlen Räume mit den wenigen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, etwas wohnlicher zu gestalten; auf dem Frühstückstisch und auf der Kommode in der Schlafkammer standen farbenprächtige Blumen, und die Wand zierte ein Bild von König George III. 

Sie blickte zu ihrem Mann, der in seine Papiere vertieft war, und entdeckte etwas Rührei an seinem Backenbart. Er schien es nicht zu bemerken. Moira schüttelte sich innerlich, und die Vorstellung, heute Nacht wieder unter diesem alten Bock liegen zu müssen, erfüllte sie aufs Neue mit Ekel. Wenigstens hatte die Häufigkeit seines Beischlafs etwas nachgelassen. Er verlangte jetzt nur noch zweimal in der Woche nach ihr, das aber regelmäßig jeden Mittwoch und Samstag. 

Ein lautes Klirren riss sie aus ihren Gedanken; Ann hatte einen Teller fallen lassen. 

»Da … da ist etwas!« Ann deutete schreckensbleich auf die Wand, wo sich ein münzgroßer Schatten mit mehreren Beinen rasch bewegte. 

McIntyre fuhr mit einem zischenden Laut auf. 

»Das ist nur ein Käfer!« Moira erledigte das Tier durch einen gezielten Schlag mit dem Buch, das sie neben sich liegen hatte. Ein bräunlicher Fleck erschien auf der Wand. »Er hätte dich schon nicht aufgefressen.« 

»Ja, natürlich, Ma’am«, hauchte Ann. »Verzeihung, Ma’am. Es wird nicht wieder vorkommen!« 

Sie kniete nieder und begann, die Scherben des zerbrochenen Tellers einzusammeln. Ihre Finger zitterten. 

»Diese ganze fremdartige Natur ist widerlich!« McIntyre packte seine Papiere zusammen und erhob sich. »Ich bin im Studierzimmer und wünsche nicht gestört zu werden.« 

Moira atmete auf. Sie fühlte sich stets unbehaglich in seiner Gegenwart und war erleichtert, wenn sie ihn nicht sehen musste. Sofern er nicht gerade Patienten zu behandeln hatte, verbrachte McIntyre den größten Teil des Tages in seinem Studierzimmer, wo er sich meist gleich nach dem Frühstück einzuschließen pflegte. Moira wusste nicht, was er dort trieb. Auf ihre vorsichtige Frage hatte er nur etwas von Forschungen gebrummelt. Eigentlich interessierte es sie auch nicht. Solange er sie nur in Ruhe ließ. 

Ann hatte die Scherben weggeräumt; Moira konnte ihr unterdrücktes Schluchzen aus der Küche hören. 

Als McIntyre und Moira vor zwei Wochen in Toongabbie angekommen waren, hatte Ann über Schmerzen und Fieber geklagt. McIntyre hatte sie ins Lazarett von Parramatta bringen lassen, von wo sie nach zwei Tagen in leidlich besserer Verfassung zurückgekehrt war. 

Ob es klug gewesen war, sie einzustellen? Sicher, Ann bemühte sich, die vielen Pflichten eines Hausmädchens zu erledigen: Essen kochen, bedienen, Wäsche waschen, flicken und putzen. Doch es kam immer wieder vor, dass sie etwas zerbrach, vergaß oder das Essen anbrennen ließ. Sie war fahrig, nervös und hatte Angst vor allem und jedem. Vor Männern, vor Tieren und natürlich auch vor McIntyre. Er musste sie nur ein Mal scharf ansehen, und schon begann sie zu zittern. Bei der kleinsten Rüge brach sie in Tränen aus. Aber das junge Ding wegzuschicken, damit es in einer der Sträflingsunterkünfte arbeitete, brachte Moira nicht übers Herz. Wenigstens konnte sie halbwegs passabel kochen. Und McIntyre war es egal, wer sich um den Haushalt kümmerte, solange nur das Essen pünktlich auf dem Tisch stand. 

Moira blickte in ihre Tasse Tee, wo die Milch Wolken bildete. Auf sie wartete wieder ein langer, ereignisloser Tag; es war kaum besser als auf der Minerva. Wie gern wäre sie durch die fremden Wälder gestreift, um die Umgebung zu erkunden, wie sie es in Irland oft gemacht hatte. Sie hätte auch die Kutsche, die ihnen zur Verfügung stand, nehmen und den umliegenden Farmen einen Besuch abstatten können. Zum Beispiel Dr. Wentworth; er hatte doch gesagt, sie müsse ihn unbedingt besuchen. Aber wahrscheinlich war Wentworth gar nicht zu Hause, sondern arbeitete im Lazarett oder war mit anderen Pflichten beschäftigt. McIntyre wollte sowieso nicht, dass sie sich ohne Begleitung so weit vom Haus entfernte. Es sei zu gefährlich allein für eine Frau. Und mitkommen wollte er natürlich auch nicht. 

Sie schob den Stuhl zurück und trat ans Fenster. Das dunkelhäutige Mädchen war noch da. 

Moira überlegte nicht lange. Sie vergewisserte sich, dass ihr Mann tatsächlich in seinem Studierzimmer verschwunden war, dann öffnete sie die Tür und trat hinaus auf die Veranda. 

Die hochsommerliche Hitze überfiel sie schlagartig und trieb ihr den Schweiß aus allen Poren, und dabei war es noch früher Morgen. Über den freien Platz, an den ihre Veranda grenzte, konnte sie auf das langgestreckte Gebäude des Kutschenhauses sehen. Nachts waren dort auch die Pferde untergebracht, um zu verhindern, dass die Eingeborenen sie mitnahmen. Schallendes Gelächter ertönte von irgendwo aus dem Busch und ließ sie schmunzeln. Es war der Kookaburra, ein Vogel, der auf diese Weise den Morgen begrüßte. Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel spannte sich über Toongabbie und schien der Bedeutung dieses Ortes als Straflager Hohn zu sprechen. Hinter den Sträflingshütten konnte sie die riesigen, mittlerweile abgeernteten Felder sehen. Auf dem fruchtbaren Boden wurde Mais, Weizen und Gerste angebaut – genug, um auch Sydney und Parramatta zu versorgen. Auf einer großen Weidefläche hielt man Vieh sowie etliche Ziegen und Schweine. Dahinter begann der Busch, wie man hier das waldige Gebiet nannte. Dort würden die Sträflinge auch heute wieder arbeiten, um weiteren Boden urbar zu machen. Moira hörte die Rufe der Aufseher und sah, wie die Sträflinge sich zu einer langen Kolonne aufstellten. 

Ihr Blick kehrte zurück zu dem fremden Mädchen, dann gab sie sich einen Ruck und ging auf das Kind zu, langsam, um es nicht zu verängstigen. Aber das schien eine unbegründete Befürchtung zu sein. Es stand ganz ruhig da, ohne einen Ton zu sagen, ohne sich zu bewegen. Auch das Gesicht mit der breiten Nase und der geschwungenen Oberlippe war reglos. Nur die Augen beobachteten Moira. 

Die Hautfarbe des Mädchens war nicht ganz so dunkel wie bei den männlichen Eingeborenen, die Moira bisher gesehen hatte, eher von einem hellen Karamellbraun. Bis  auf eine schmale Schnur um die Hüfte war sie unbekleidet. An ihren bloßen Füßen sah Moira Erdkrümel und Staub. 

Als Moira nur noch zwei Schritte entfernt war, blieb sie stehen. Noch immer fixierten sie diese ruhigen, kohlschwarzen Augen. Jetzt erst bemerkte Moira, dass das Mädchen nicht allein war; neben ihr, fast völlig in den Schatten eines Strauches getaucht, saß ein hundeähnliches, sandfarbenes Wesen. Dingos nannte man diese Tiere, hatte Moira von einem Nachbarn erfahren. 

Das Mädchen mochte um die elf, zwölf Jahre alt sein. Ihre Figur war knabenhaft schlank und wies noch nicht die runden Formen einer Frau auf; die Brüste begannen gerade erst, sich zu entwickeln. Ihr dichtes, lockiges Haar hatte tatsächlich fast dieselbe Farbe wie das Fell des Dingos: ein dunkles, ins Gold gehende Blond. 

»Guten Morgen«, sagte Moira, plötzlich schüchtern. »Wie heißt du?« 

Das fremde Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln und entblößte dabei zwei Reihen strahlend weißer Zähne. 

»Lebst du hier?«, versuchte Moira es erneut. Das Mädchen war sicher nicht alleine gekommen. Womöglich war ihr Stamm, ihre Familie, ganz in der Nähe. 

Wieder ein Lächeln, mehr nicht. Offensichtlich verstand die Kleine sie nicht. 

Moira deutete mit übertriebener Geste auf sich selbst. »Moira.« Dann wies sie fragend auf das Kind. 

Statt einer Antwort griff das Mädchen an die Schnur, die es um die schmale Taille trug, löste ein kleines Tier davon ab und reichte Moira den Kadaver einer kleinen Echse mit dickem, grün und braun gestreiftem Schwanz. Das Tier war noch warm in ihrer Hand. Das Mädchen führte die Hand zum Mund, als würde es essen. 

»Ein Geschenk? Zum Essen? Oh – danke.« Moira versuchte, das tote Tier möglichst unauffällig von sich wegzuhalten. Das Mädchen würde doch hoffentlich nicht erwarten, dass sie das Tier hier und jetzt verspeiste? 

»Also.« Moiras Stimme klang ihr seltsam laut in den Ohren. »Einen Namen brauchst du. Was hältst du davon, wenn ich dich … wenn ich dich July nenne?« 

Der Name war ihr spontan eingefallen, vermutlich wegen der extremen Hitze, die sie eher mit Monaten wie Juli oder August verband. »July, in Ordnung?« 

Das Kind sah an ihr vorbei. Moira folgte seinem Blick und sah, dass die Kolonne der Sträflinge verschwunden war. Als Moira sich wieder umwandte, hatte das Unterholz das Mädchen und den Dingo verschluckt. 

Moira ging zurück zum Haus und legte die tote Echse neben die Veranda; Ann würde sie später beseitigen. Sie schloss die Tür und stand eine Weile im Flur, unschlüssig, was sie nun tun sollte. Es war alles so still. Fast leblos, ausgestorben. 

Dann hörte sie ein leises, kratzendes Geräusch. Es kam aus der Schlafkammer. Ob es wieder so ein unerwünschtes Tier war? Auf Zehenspitzen schlich sie um die Ecke – und sah, dass ihre Truhe offen stand! Ann kniete davor und war  dabei, die kleine Schachtel, in der Moira ihr Haushaltsgeld aufbewahrte, wieder unter die Kleidung zurückzuschieben. 

Als Ann Moira bemerkte, erstarrte sie und wurde totenblass. Sie versuchte nicht einmal, die Münzen in ihrer Hand zu verbergen. 

Es war Moira, die das Schweigen brach. »Wieso?«, fragte sie tonlos. Sie wunderte sich selbst darüber, wie ruhig sie war. »Sorgen wir nicht anständig für dich? Hast du nicht genug zu essen? Geht es dir nicht besser als den meisten anderen Sträflingen?« 

Sie hätte es wissen müssen. Wie hatte Mrs Zuckerman gesagt? Sie durfte niemandem vertrauen. Schon gar nicht einem Mädchen, das in Irland wegen Diebstahls verurteilt worden war. Auch wenn Ann immer beteuert hatte, dass sie noch nie etwas gestohlen hatte. 

Endlich bewegte Ann sich, doch statt einer Antwort brach sie in Tränen aus. Die Hand mit den Münzen sank zu Boden, die Finger fest darum geschlossen. 

Wut kochte in Moira hoch. Sie drängte das Mädchen, das noch immer vor der Truhe kniete, zur Seite und langte selbst hinein. »Warum nimmst du nicht auch noch das? Und das?« Sie warf ihr bestes Kleid aufs Bett, dann eine Brosche und ein Paar Seidenstrümpfe. 

Ann weinte lauter. Sie bebte am ganzen Körper, aber sie sagte nichts. 

»Ich dachte, du wärst so glücklich, hier arbeiten zu dürfen? Willst du lieber Dienst in den Sträflingshütten tun? Oder dein Leben als Freudenmädchen fristen?« Moira redete sich immer mehr in Rage. »Weißt du, was mit Leuten passiert, die ihre Dienstherren bestehlen? Sie werden ausgepeitscht und anschließend aus dem Haus gejagt! Wolltest du das?« 

Ann schüttelte verzweifelt den Kopf, ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Nein! Bitte, Ma’am, habt Mitleid!« 

»Was wolltest du mit dem Geld?« 

Ann schüttelte erneut den Kopf und schluchzte. »Ich kann nicht.« 

»Ach, du kannst also nicht? Aber bestehlen kannst du uns?« 

»Es ist nicht für mich!«, brach es aus Ann heraus. 

»Dann stiehlst du also für andere?« 

»Nein! Ich … ich brauche es für … für …« 

»Für?« Allmählich verlor Moira die Geduld. 

»Ich muss es einer Frau geben. In Parramatta.« 

Moiras Wut fiel so plötzlich in sich zusammen, als hätte man die Luft aus einem Beutel gelassen. »Wirst du erpresst? Hat dir jemand gedroht?« 

Ann brach schon wieder in lautes Weinen aus. »Nein … Es ist … es … es ist, um das Kind wegzumachen!« 

»Oh.« Moira schwieg betroffen. Ann war schwanger? Dann war ihre Angst natürlich zu verstehen. Schwangere Dienstmädchen setzte man in Irland sofort auf die Straße. Doch dann musste sie lächeln. Ann war noch so jung und unerfahren … 

»Hör mal, Ann, du bist nicht gleich in anderen Umständen, nur weil dich jemand geküsst hat …« Sie brach ab, weil sie nicht wusste, wie sie es ausdrücken sollte. Sie hatte ja früher selbst geglaubt, durch einen Kuss ein Kind empfangen zu können und war erst in der Hochzeitsnacht eines Besseren belehrt worden. 

Ann richtete sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »O nein, Ma’am.« Ihre Stimme klang jetzt erstaunlich erwachsen. »Ich weiß, wie Kinder gemacht werden.« 

Moira setzte sich auf das Bett. Und dann erzählte Ann mit gesenktem Kopf und so leiser Stimme, dass Moira sie kaum verstand, immer wieder von Schluchzern unterbrochen, was vor mehr als zwei Monaten auf der Minerva vorgefallen war. Wie sie eines Nachts auf der Rückkehr vom Abort von einigen betrunkenen Seeleuten angesprochen worden sei, wie man sie gewaltsam hinter eine Seilrolle gezerrt habe und wie sich die Männer dort an ihr vergangen hätten. Sie hatte niemandem etwas verraten, weil man ihr gedroht hatte, sie dann umzubringen. 

»Und jetzt«, endete Ann weinend, »trage ich ein Kind in meinem Bauch.« 

Moira fehlten die Worte. »Bist du ganz sicher?«, fragte sie schließlich. Ihr Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Und sie hatte das Mädchen auch noch beschimpft! 

Ann nickte. »Ich muss mich jeden Morgen übergeben«, flüsterte sie. »Und meine Brüste tun mir weh.« Sie fiel erneut vor Moira auf die Knie. »O bitte, Ma’am, ich weiß nicht mehr weiter. Ich kann dieses Kind nicht bekommen!« 

Das war auch Moira klar. Aber sie konnte Ann nicht zu einer Kurpfuscherin schicken, die womöglich mehr Schaden anrichtete, als dass sie nutzte. 

Sie erhob sich. »Komm«, sagte sie. »Ich denke, ich weiß, wie wir dieses Problem lösen können.« 

* 

Die Lichtstrahlen fielen gleißend hell ins Zimmer. Ann lag mit angezogenen Beinen auf dem Behandlungstisch, ihr abgetragenes braunes Kleid bis knapp über die Scham hinaufgeschoben, und schluchzte. Neben ihr stand Moira und hielt Anns Knie fest, um das Mädchen an heftigen Bewegungen zu hindern, und streichelte beruhigend mit den Daumen über ihre Haut. Ein schwacher Geruch nach Blut und weiblichen Körperflüssigkeiten lag in der Luft. 

War es erst eine Stunde her, dass Moira McIntyre um Unterstützung in diesem delikaten Fall gebeten hatte? Im ersten Moment hatte sie geglaubt, er würde rundweg ablehnen, dem Mädchen zu helfen. Moira hatte ihn noch nie um etwas gebeten, und sie hatte sich so klein und hilflos gefühlt, dass sie am liebsten wieder umgekehrt wäre. Über so etwas Heikles wie die Vorgänge im Körper einer Frau hatte sie nicht einmal mit ihrer Mutter geredet. Aber sie hatte schließlich Ann beistehen müssen. 

Ann wimmerte laut und versuchte, sich aufzurichten. Moira hatte ihr einen ganzen Becher Rum eingeflößt, von dem sie allerdings einen Großteil bereits wieder ausgespuckt hatte. 

»Stillhalten!«, knurrte McIntyre. Er blickte kurz über seine Brillengläser hinweg auf und runzelte die Stirn, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. »Wir sind gleich fertig.« 

Auch wenn Moira vermied hinzusehen, bekam sie doch genug mit von dem, was er da mit einer Zange und einem löffelartigen Instrument in Anns Unterleib tat. Sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund und schluckte krampfhaft. Dennoch konnte sie nicht umhin, die ruhige Arbeit von McIntyres Händen und sein offensichtliches Wissen anzuerkennen. 

Ann schrie ein weiteres Mal schrill auf, dann zog McIntyre seine Instrumente zurück. 

»So.« Er richtete sich auf. »Das wäre alles. Mehr kann ich nicht tun.« 

Er war gerade dabei, seine Gerätschaften zum Säubern wegzulegen, als Ann schluchzend vom Tisch rutschte und vor ihm auf den Boden sank. 

»O Sir, ich … ich danke Euch! Das werde ich Euch niemals vergessen!« Sie krümmte sich wimmernd zusammen, dann umklammerte sie seine Beine und küsste ihm die Füße. 

»Hoch mit dir, Mädchen, was fällt dir ein?« Für einen Moment wirkte er geradezu unsicher. Dann drehte er sich zu Moira um. »Bring sie zu Bett. Dort wird sie für die nächsten zwei Tage bleiben. Ich sehe später nach ihr. Und zu niemandem ein Wort!« 

* 

Ann ging es bald wieder besser. Nach den ersten Tagen, die sie im Bett verbracht hatte, floss sie über vor Dankbarkeit. Nur ihre Ängste waren unverändert. Sie fürchtete sich sogar vor July. Wenn das Mädchen wie fast jeden Morgen in der Nähe des Hauses auftauchte, verschwand Ann schnell in der Küche und zeigte sich nicht mehr. 

Moira hatte sich angewöhnt, nach dem Frühstück, wenn McIntyre in seinem Studierzimmer verschwunden war, hinauszugehen zu dem fremdartigen Kind. Manchmal steckte sie der Kleinen ein Stück Brot zu, und einmal hatte sie July ein altes Tuch gegeben und ihr bedeutet, es um die Hüften zu schlingen. Am nächsten Tag hatte das Kind das Tuch getragen wie eine Auszeichnung, was Moira mit Freude und einem gewissen Stolz erfüllte. July revanchierte sich mit kleinen Geschenken wie Wurzeln oder einer Handvoll Beeren, die Ann zu Kompott oder Brei verarbeitete. Inzwischen vermutete Moira, dass das Mädchen stumm war, denn es sprach nie. Und stets war sie verschwunden, sobald die Gefangenen zur Arbeit aufbrachen. 

Nach der Aufregung um Ann war wieder Alltag eingekehrt, öder, schrecklich langweiliger Alltag, der nur dann unterbrochen wurde, wenn jemand zu Besuch kam oder McIntyre einen Patienten zu behandeln hatte. Meist waren es Sträflinge, und stets handelte es sich um die gleichen Vorkommnisse: Hitzschlag aufgrund der glühenden Sonne, in der sie arbeiten mussten; Schlangenbisse, die manchmal tödlich waren; Verletzungen während der Arbeit – und die Versorgung frischer Peitschenspuren. 

Es war Nachmittag, die heißeste Zeit des Tages in diesem Spätsommer. Der März hatte noch nicht die ersehnte Abkühlung gebracht, die Veranda lag in der glühenden Sonne – es war viel zu heiß, um sich dort aufzuhalten. Moira saß mit Ann in der Wohnstube und sehnte sich nach der leichten Meeresbrise, die in Sydney wenigstens etwas Erfrischung gebracht hatte. Die Fenster waren geöffnet, die hellen Gardinen zugezogen. 

Ann hatte einen Berg Wäsche vor sich und flickte mit Hingabe ein Loch in McIntyres Hemd. Seit der geglückten Abtreibung brachte Ann dem Doktor eine fast abgöttische Verehrung entgegen. Obwohl sie noch immer zusammenzuckte, wenn er den Raum betrat, versuchte sie, seine Wünsche zu erfüllen, noch bevor er sie ganz ausgesprochen hatte. Wenn sie das Essen auftrug, suchte sie ihm das saftigste Stück Fleisch, die größte Scheibe Brot heraus, und seiner Kleidung ließ sie eine besonders sorgfältige Pflege angedeihen. 

Auch Moira war mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie bestickte lustlos ein Kissen, um überhaupt etwas zu tun zu haben. Der Stoff fühlte sich unter ihren Händen unangenehm warm und feucht an, und die Nadel klebte ihr an den Fingern. Als sie gerade einen neuen Faden einfädeln wollte, hörte sie von draußen eine männliche Stimme; Wilkins, einer der Aufseher.  

Gleich darauf pochte es an der Tür. Es war selten genug, dass jemand zu ihnen kam, und sie musste sich zurückhalten, nicht sofort aufzuspringen, um zu öffnen. Dafür hatten sie schließlich Ann, auch wenn diese bloß furchtsam aufsah und nur durch einen Wink von Moira dazu zu bewegen war, zur Tür zu gehen. 

Ann kam schnell zurück, knickste und murmelte etwas. Noch immer war ihre Stimme so leise, dass Moira Mühe hatte, sie zu verstehen. 

»Wie bitte? Ann, sprich lauter!« 

»Ma’am, ein … ein verletzter Sträfling braucht die Hilfe von Dr. McIntyre. Er hat sich ins Bein gehackt.« 

Moira trat einen Schritt ans Fenster und schob unauffällig die Gardine zur Seite. Vor der Veranda standen drei Männer – der Aufseher und zwei Sträflinge. Um den Unterschenkel des einen war ein blutiger Fetzen gewickelt. Den anderen, der ihn stützte, erkannte Moira sofort wieder: Es handelte sich um den jungen Sträfling, der ihr schon auf der Minerva aufgefallen war. 

»Ich gebe dem Doktor Bescheid«, sagte sie zu Ann und ließ die Gardine langsam sinken. Wieso war sie plötzlich nur so kurzatmig, als wäre sie gerannt? 

McIntyre war in seinem Studierzimmer. Moira klopfte, hörte das Rascheln von Papier, dann öffnete er. Seine Augen hinter dem Drahtgestell seiner Brille blinzelten. Abgestandene, warme Luft schlug ihr entgegen. Was trieb er nur den ganzen Tag in diesem engen, ungelüfteten Raum? 

»Ihr habt einen Patienten«, erklärte sie. »Einen Sträfling.« 

McIntyre nickte, verschloss die Tür von außen und zog den Schlüssel ab. Er ging vor und öffnete die Tür zum Behandlungszimmer, dann trat er auf die Veranda. Moira blieb in der Haustür stehen. 

Drei Augenpaare wandten sich ihnen zu. Der Verletzte hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten und stützte sich schwer auf seinen Gefährten. Beide waren mit gelblichem Staub bedeckt, durch die der Schweiß Rinnen zog, und trugen mit einer kurzen eisernen Kette verbundene Handfesseln. 

»Was ist passiert?«, fragte McIntyre und kämpfte mit einem Knopf, der sich an seiner Weste geöffnet hatte. 

Aufseher Wilkins, ein kahlköpfiger, vierschrötiger Mann, deutete auf den Verletzten. »Sir, Henderson war so dämlich und hat sich die Hacke ins Bein geschlagen. Ich hoffe, Ihr bekommt ihn wieder hin.« Er wandte sich an den Verwundeten. »Falls du glaubst, so der Arbeit zu entgehen, dann hast du dich getäuscht, du nichtsnutziger Bastard!« 

»Es war ein Unfall«, wandte der andere Sträfling ein. »Er hat nur –« 

»Wer hat dir erlaubt zu reden?«, fuhr ihn der Aufseher an und hob seinen Schlagstock. Moira holte erschrocken Luft. 

»Nicht in meinem Haus!«, ging McIntyre streng dazwischen. »Bringt lieber den Verletzten hinein.« 

»Ich? Nein, Sir, ich mache mir doch nicht die Hände an diesem Abschaum schmutzig. He, O’Sullivan, schaff ihn rein! Und dann sofort wieder raus mit dir!« 

Moira trat einen Schritt zur Seite, damit O’Sullivan seinen humpelnden Kameraden ins Haus bringen konnte. Als er eintrat, schlug ihr der Geruch von Holz, Erde und frischem Schweiß entgegen, und sie hatte den Eindruck, als würde er einen winzigen Moment zögern, bevor er an ihr vorüberging. McIntyre und der Aufseher folgten ihnen. 

Moira kehrte zurück in die Wohnstube und stand einige Augenblicke gedankenverloren im Raum. Ihre Handarbeit lag achtlos auf einem Stuhl, und sie hatte so gar keine Lust weiterzusticken. Sie hörte Schritte auf der Veranda, lugte an der ein wenig zur Seite geschobenen Gardine vorbei nach draußen – und zuckte zusammen, als der Aufseher O’Sullivan einen Hieb mit dem Schlagstock verpasste, der diesen mit einem dumpfen Laut in die Knie gehen ließ. 

»Wage es nicht noch einmal, mir zu widersprechen!«, blaffte Wilkins und öffnete die eiserne Handfessel des Sträflings. Er legte O’Sullivans Hände um einen der hölzernen Pfeiler der Veranda und schloss die Fessel. Dann ging er zurück ins Haus. 

Moira trat ihm im Flur entgegen. »Wollt Ihr den Mann wirklich da angekettet lassen?« 

Der Aufseher deutete ihren besorgten Blick falsch. »Keine Angst, Madam, er kann Euch nichts tun. Ich würde mich ja gerne selbst für Euren Schutz verbürgen, aber der Doktor braucht mich.« 

Damit verschwand er im Behandlungszimmer. 

Moira sah erneut nach draußen. Die Hitze war fast greifbar und ließ die Luft flimmern. O’Sullivan saß auf der obersten Treppenstufe, die gefesselten Hände um den Pfosten gelegt. Angekettet wie ein Tier. Es gab keinen Schatten dort, nicht der kleinste Hauch bewegte seine dunkelbraunen Haare, die ihm verschwitzt ins Gesicht hingen. Dreck und Schweiß bildeten einen schmutzigen Saum um seinen Hemdkragen. 

»Ann? Ann, wo bist du?« Sie fand sie in der Küche. »Ann, füll ein Glas mit Wasser und gib es dem Mann dort draußen.« 

Ann sah sie an, ihre Augen wirkten riesengroß in ihrem blassen Gesicht. »Oh, Ma’am, bitte, das … das kann ich nicht!« 

Moira seufzte auf. Sie ließ dem Mädchen zu viel durchgehen. Aber bevor sie Ann erst mühsam davon zu überzeugen suchte, dass ihr von einem gefesselten Sträfling keine Gefahr drohte, hatte sie es selbst zehnmal schneller erledigt. Und so füllte sie einen Becher mit kühlem Wasser aus einem Krug. 

Als sie auf die Veranda trat, hob der Sträfling den Kopf und machte Anstalten aufzustehen, wurde jedoch sofort von seinen Fesseln gebremst. 

»Bleibt sitzen«, sagte Moira, unerwartet befangen. Sie beugte sich hinunter und reichte ihm den Becher. »Hier. Etwas zu trinken.« 

Die Glieder der kurzen Kette klirrten, als er mit der rechten Schulter näher an den Pfeiler rückte und den Ellbogen darum legte, um den Becher in Empfang zu nehmen. 

»Danke, Miss.« Er schien verwundert über ihre Fürsorge. 

»Mrs«, berichtigte Moira. »Mrs McIntyre. Der … der Doktor ist mein Ehemann.« 

Wieso hatte sie das Bedürfnis, diesen Sachverhalt zu erklären? Und was war es, das da in diesen dunkelgrünen Augen aufblitzte? Erstaunen? Bedauern? 

Er neigte den Kopf und senkte seinen Blick wieder. »Ihr seid sehr freundlich, Mrs McIntyre.« Seinem Tonfall nach kam er aus der Gegend von Waterford. 

»Ich tue nur meine Christenpflicht.« 

Aus dem geöffneten Fenster des Behandlungszimmers hörte sie den verletzten Sträfling schmerzerfüllt aufschreien. Moira blickte nicht einmal auf. Inzwischen hatte sie sich an diese Geräusche, die mit der Arbeit eines Arztes einhergingen, gewöhnt. Sie trat einen Schritt zurück und sah zu, wie O’Sullivan trank, beide Hände mit den gefesselten Handgelenken um den Becher gelegt – gierig wie jemand, der lange nichts mehr bekommen hatte. Als er fertig war, nahm sie den Becher wieder in Empfang. 

Wahrscheinlich lag es an der Hitze, dass ihr die ganze Situation so unwirklich erschien, aber sie hatte das Gefühl, als würde sein Blick sich direkt in ihr Inneres brennen. Wie loderndes Feuer. Dunkelgrünes Feuer. Ein eigenartiges Ziehen breitete sich in ihrem Unterleib aus, ganz und gar nicht unangenehm. Schweiß sammelte sich auf ihrer Oberlippe, sie schmeckte Salz, als sie darüberleckte. Ihr Herz schien plötzlich langsamer, aber umso kräftiger zu schlagen, sie konnte den Puls in ihren Fingerspitzen spüren. 

Der Becher war leer, es gab keinen Grund, sich noch länger hier aufzuhalten. Dennoch zögerte sie. Sie hätte gern mit dem Gefangenen geredet, ihn gefragt, ob er eine Familie hatte, die zu Hause auf ihn wartete, ob – 

»Ma’am?« Ann erschien in der Tür und warf dem Sträfling einen angstvollen Blick zu. »Ich bin fertig mit der Wäsche. Soll ich jetzt den Boden wischen?« 

»Was? Nein, Ann, das kann warten.« Moira kam sich vor, als habe Ann sie bei etwas Verbotenem ertappt. Hocherhobenen Hauptes wandte sie sich um und ging mit dem Mädchen zurück ins Haus, während sie der Versuchung widerstand, sich noch einmal umzudrehen. Sie wusste, dass er ihr nachsah. 

* 

Duncan schlug die Augen auf. Was war es, das ihn geweckt hatte? Er lauschte in die Nacht hinein, nach dem todesähnlichen Schlaf der Erschöpfung plötzlich hellwach. Seine Sinne waren angespannt wie die eines Tieres auf der Jagd. Die Dunkelheit war erfüllt von Tausenden Geräuschen; dem Zirpen einer Grillenschar, den entfernten Rufen fremder Nachttiere, dem Rauschen des Windes im Strohdach und dem Schnarchen der achtzehn anderen, die mit ihm in dieser Hütte lebten. Er horchte erneut, dann entspannte er sich wieder. Da war nichts. Er konnte weiterschlafen. 

Doch der Schlaf wollte sich nicht wieder einstellen. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, und sein Magen knurrte. Kein Wunder bei diesen mageren Rationen: pro Tag und Sträfling ein Pfund Pökelfleisch und ein Pfund Mehl aus Weizen oder Mais, aus dem sie damper herstellten, ein einfaches Brot, das man in der Asche des Herdfeuers buk. Zu trinken gab es nur Wasser und sonntags vielleicht einen kleinen Becher Rum. 

Um sich von dem bohrenden Hungergefühl in seinen Eingeweiden abzulenken, begann Duncan, lautlos einen Rosenkranz zu beten, so, wie Vater Mahoney es ihn gelehrt hatte. Der eintönige Rhythmus würde ihn hoffentlich müde machen. 

»Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern …« 

Das Bild einer anderen Frau schob sich vor sein inneres Auge. Das Bild der jungen Mrs McIntyre. 

Drei Tage lag es nun zurück, dass sie mit ihm gesprochen hatte, und noch immer ließ ihn die Erinnerung an diese Begegnung nicht los. Ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Brust breit, als er daran dachte, wie sie ihm Wasser gebracht hatte. Mrs McIntyre. Dann war sie also nicht die Tochter des Doktors, sondern seine Frau. Er verstand nicht, wieso ihn das so bedrückte. Hatte er ernsthaft geglaubt, er könne sie eines Tages für sich gewinnen? Als Sträfling? 

Der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen, und dabei brauchte er seine Kraft so dringend für den nächsten Tag. Er drehte sich auf dem harten Boden auf die andere Seite. Vielleicht sollte er es mit Zählen versuchen. Oder mit Rechnen. Wie lange war es noch bis zum Ende seiner Strafe? Seit der Urteilsverkündung waren sieben Monate vergangen – vier Wochen im Gefängnis von Cork, viereinhalb Monate Überfahrt und sechs Wochen hier in Toongabbie. Blieben noch sechs Jahre und fünf Monate. Dann wäre er dreißig. Eine ziemlich ernüchternde Vorstellung. 

Aber wenn man sich ordentlich benahm und sich nichts zuschulden kommen ließ, standen die Chancen gut, schon vorher freizukommen. Er hatte gehört, dass viele ehemalige Sträflinge vor Ablauf ihrer Zeit begnadigt worden waren und jetzt ihr eigenes Land bebauen durften. 

Ein eigenes Stück Land. Das war auch Duncans Ziel. Sofern er die nächsten Wochen und Monate überstand. Den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang, mussten sie in der glühenden Hitze Bäume fällen, Wurzelstöcke entfernen, Äste abhacken und den Boden umgraben, nur unterbrochen von einer kurzen Mittagspause. Neben der Hitze, der schweren Arbeit und der mageren Verpflegung machten ihnen auch die Aufseher zu schaffen, meist ehemalige Sträflinge, die ihre neu erworbene Macht mit aller Härte demonstrierten. Wer vor Schwäche umfiel, den trieb ein unbarmherziger Aufseher sofort wieder mit dem Stock an. Vor einigen Jahren musste es noch schlimmer gewesen sein, wie er gehört hatte. Damals waren in Toongabbie nicht selten sieben bis acht Gefangene an einem Tag vor Hunger und Erschöpfung gestorben. Ein Ort des Grauens inmitten prachtvoller Natur. 

Doch er, Duncan, würde sich daran gewöhnen. Er konnte sich an alles gewöhnen, und wenn es noch so lang dauerte. 

Was war das? Ein Laut, so fein wie ein Mäusewispern, drang an sein Ohr. Ob das die kleine Schwarze war? Stets stand sie in sicherer Entfernung von den Männern am Rand des Buschs, begleitet nur von ihrem sandfarbenen Dingo. Und immer schien sie nur ihn, Duncan, zu beobachten. Nie die anderen. Denen war sie auch schon aufgefallen. Wilson behauptete, sie hätte es auf Duncan abgesehen. Die Eingeborenen hier seien schließlich alles Wilde, da würden es sicher auch schon die Kinder treiben. 

Duncan hatte von Sträflingen gehört, die sich mit den Schwarzen einließen. Er hatte nicht vor, irgendetwas mit dem Mädchen anzufangen, und es erfüllte ihn eher mit Trauer als mit Freude, womöglich das Objekt ihrer Begierde zu sein. Sie war ein Kind, wahrscheinlich noch keine zwölf Jahre alt. Wer wusste schon, was sie wirklich in ihm sah? 

Das Geräusch wiederholte sich. Vielleicht war sie einfach nur neugierig? Aber wenn sie allein im Lager herumschlich, konnte ihr weiß Gott was zustoßen. Und sei es, dass sie von einem der wenigen Wachtposten entdeckt wurde. Die meisten Weißen betrachteten die Schwarzen nicht als vollwertige Menschen, und Vergehen an ihnen wurden fast nie gesühnt. 

Duncan erhob sich. Seine Augen waren inzwischen gut an die Dunkelheit gewöhnt, er sah die Körper der Leidensgenossen ausgestreckt auf dem Boden liegen. Im Vergleich hierzu war ihre Unterkunft auf der Minerva geradezu luxuriös gewesen. Hier hatten sie nicht einmal Decken und mussten auf dem blanken Boden schlafen, bis zu zwanzig Mann in jeder der ärmlichen Hütten. Eine ältere Frau, die nachts in einer Hütte mit den anderen weiblichen Sträflingen wohnte, kochte ihnen das Essen und sorgte für Ordnung. Manchmal teilte sie auch das Lager mit einem der Männer. 

Lautlos stieg er über die schlafenden Körper hinweg und achtete vor allem darauf, Fitzgerald nicht zu berühren, der in der Nähe des Eingangs schnarchte. Trotz des beengten Raumes hatte der Riese genug Platz um sich herum, da sich alle anderen einen Schlafplatz gesucht hatten, der weit genug von dem Hünen entfernt lag. Niemand wollte sich mit ihm anlegen. In den vergangenen Wochen war Duncan noch zweimal mit ihm aneinandergeraten; beide Male wegen Kleinigkeiten. Fitzgerald war der Einzige, der auch nachts Ketten tragen musste. Schon am zweiten Tag hatte man ihn wegen Aufsässigkeit ausgepeitscht, und er war seitdem kaum einsichtiger geworden. Das letzte Mal hatte man ihm vor vier Tagen das rote Hemd angezogen, wie sie die Bestrafung mit der Peitsche hier nannten. 

Am Rand des Lagers sah er einen einzelnen Wachtposten. Wenn er wollte, könnte er jetzt fliehen. Niemand würde ihn aufhalten. Anfangs hatte es ihn erstaunt, wie wenig Wachtposten es hier gab. Aber wohin sollten sich die Sträflinge schon wenden? »Gefängnis ohne Wände« nannte man die Straflager. Denn da draußen gab es nichts als Dickicht, Eingeborene und wilde Tiere. Duncan hatte von Flüchtigen gehört, die Tage nach ihrer Flucht halb wahnsinnig vor Hunger zurückgekommen waren. 

Die Luft war mild und warm, der heisere Schrei eines Vogels drang durch die Nacht, irgendwo quakte ein Frosch. Vor Duncan erhoben sich die Reihen der Sträflingshütten. Am äußeren Ende, dort, wo ein einzelner Vorratsschuppen stand, bewegte sich etwas. Ob es das Mädchen war? Gebückt schlich er zum Schuppen und versteckte sich dahinter. Hier waren die Vorräte und die Fässer mit Rum gelagert, von denen die Sträflinge selten genug etwas bekamen. Ein Licht glomm im Inneren auf. Das war sicher nicht das Mädchen! Er spähte vorsichtig durch eine Lücke in der Bretterwand und sah Quigley und Walsh, zwei Sträflinge, die mit ihm auf der Minerva gewesen waren. Walsh war dabei, ein Fass Rum anzustechen; Quigley leuchtete ihm mit einem brennenden Kienspan. 

»Mach schon!«, hörte Duncan Quigley flüstern. »Ich brauch was zu saufen, und wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!« 

Duncan hatte genug gesehen. Erleichtert, dass es nicht das Mädchen war, zog er sich lautlos wieder zurück. Was die anderen taten, ging ihn nichts an. So rasch und leise, wie er gekommen war, eilte er zurück zu seiner Hütte und legte sich wieder auf seinen Schlafplatz. Alles war unverändert, niemand hatte sein Wegbleiben bemerkt. Sein rasch klopfendes Herz beruhigte sich allmählich wieder, und die Müdigkeit griff mit langen Armen nach ihm. 

* 

Am Morgen wurde er unsanft geweckt. Wilkins, der Aufseher, hatte die Tür ihrer Hütte aufgerissen und brüllte die Sträflinge aus dem Schlaf. Duncan kämpfte sich hoch und streifte sich sein zerschlissenes Hemd über, das von Schweiß und Salz schon ganz steif war. Noch nicht ganz wach, mussten sich alle vor ihrer Behausung aufstellen. Auch die Insassen der anderen Hütten wurden von ihren Aufsehern ins Freie getrieben, bis sie alle in vier langen Reihen Aufstellung genommen hatten. 

Holligan, der Oberaufseher, kam heran und begann, die vierfache Reihe langsam abzuschreiten und jeden Einzelnen prüfend anzusehen. 

»Ihr Bande nichtsnutziger Tagediebe!«, begann er mit donnerndem Bass. »Ihr Haufen diebischer Schmeißfliegen. Hängen und Vierteilen müsste man euch, alle miteinander!« Dann wurde seine Stimme ganz leise. »Heute Nacht«, fuhr er fort, »ist jemand in den Vorratsschuppen eingebrochen. Allein das ist ein schweres Vergehen. Aber der Täter hat auch noch die Hälfte des Rumvorrats auslaufen lassen.« Er blieb stehen und schlug seinen kurzen Schlagstock mehrere Male in seine Handfläche. »Ich verlange sofort zu wissen, wer der Schuldige ist!« 

Totenstille. Niemand rührte sich. Niemand wagte auch nur, sich zu räuspern oder sich im goldenen Licht der Morgendämmerung den Schlaf aus den Augen zu reiben. 

Holligan schritt die Reihe erneut ab und blieb dann vor Fitzgerald stehen. Der Hüne überragte ihn um mehr als Haupteslänge. 

»Du! Vortreten!« Der Oberaufseher deutete mit dem Schlagstock auf ihn. »Du warst es!« 

Fitzgerald trat einen Schritt vor. »Nein.« 

»Nein, was?« 

»Nein, Sir. Ich war es nicht. Ich habe geschlafen.« 

»Habe ich dich nach deiner Meinung gefragt? Natürlich warst du es! Du bist es immer!« 

Der Aufseher trat ganz nah an ihn heran, bis er dem Hünen ins Schlüsselbein hätte beißen können. Dann schien ihm der Größenunterschied aufzufallen, und er trat wieder einen Schritt zurück. 

»Das war einmal zu viel, Fitzgerald. Wilkins, Farelly, dieser Unverbesserliche wird mit hundert Peitschenschlägen bestraft und anschließend nach Norfolk Island gebracht.« 

Alle Farbe wich aus Fitzgeralds Gesicht. Norfolk Island war etwas, das alle Gefangenen fürchteten. »Hölle ohne Wiederkehr« wurde die Insel im Pazifik genannt. Dorthin verbannte man nur die unverbesserlichen Verbrecher, die dort bei Widerstand mit drakonischen Strafen zu rechnen hatten. 

Duncan kämpfte mit sich. Hatte er nicht vorgehabt, ein vorbildlicher Häftling zu sein? Aber alles in ihm sträubte sich dagegen, dass jemand zu Unrecht verurteilt wurde. Auch wenn es sich dabei um Fitzgerald handelte. Hieß es nicht: »Wer in Not ist, dem soll geholfen werden«? 

»Sir!« Er trat einen Schritt vor. »Fitzgerald war es nicht.« 

Der Hüne drehte überrascht den Kopf zu ihm. 

Langsam kam der Oberaufseher zu Duncan geschlendert und stellte sich vor ihn, nur einen Fingerbreit von seinem Gesicht entfernt. »Ach, sieh mal einer an. Und wer sagt das?« 

»Ich, Sir.« 

Aufseher Wilkins trat an Holligans Seite. »Das ist O’Sullivan, Sir. Einer der Rebellen.« 

»O’Sullivan, so, so. Dann willst du dich also als Schuldigen bekennen?« 

In Duncans Eingeweiden wurde es kalt. »Nein, Sir!« 

»Und wie kommst du dann darauf?« 

»Ich habe gesehen, wer es war. Und es war nicht Fitzgerald.« 

»Tatsächlich?« Holligan ging langsam um ihn herum und musterte ihn von oben bis unten. »Hättest du dann vielleicht die Güte, mir den Namen zu verraten?« 

Duncan spürte sein Herz pochen. Ein Blick aus dem Augenwinkel zeigte ihm, dass Quigley und Walsh blass und starr nach vorne sahen, er konnte Walshs Adamsapfel hüpfen sehen, als dieser schluckte. »Nein, Sir.« 

»Nein?!« Der Aufseher war stehen geblieben. »Du wagst es, mich mit dieser Behauptung zu belästigen, und dann weigerst du dich, den Namen zu nennen?« 

Duncan schwieg. Er würde seine Kameraden nicht verraten. 

»Nun?« 

Duncan schüttelte den Kopf. 

Der Oberaufseher drehte sich wütend auf dem Absatz um. »Holt das Dreibein, und dann gebt ihm das Botany-Bay-Dutzend! Das wird ihm seinen Sturkopf schon austreiben.« 

Die anderen standen stumm dabei, als man ihm das Hemd auszog und ihn, die Arme über dem Kopf, an das hölzerne Dreigestell band. Das hatte er nun von seinem Großmut. Aber es war besser, sich frühzeitig daran zu gewöhnen, schließlich erwartete diese Tortur früher oder später fast jeden. Und Christus war auch gegeißelt worden. Er schloss die Augen und wappnete sich für das berüchtigte Dutzend. Wenn es wenigstens nur zwölf gewesen wären. In Wahrheit bedeutete es fünfundzwanzig Schläge mit der Neunschwänzigen. 

Schon der erste Hieb brannte wie Feuer, und die nächsten fühlten sich an, als würde man mit einem glühenden Eisen über seine Haut fahren. Er packte die Stricke, die ihn hielten, fester, biss die Zähne zusammen und versuchte, sich auf einen Psalm zu konzentrieren, doch die Worte wollten ihm nicht einfallen. Dann erschien das Bild der jungen Mrs McIntyre vor seinen geschlossenen Lidern, und er hielt sich fest an der Erinnerung an ihre ungewöhnlich hellen, kristallblauen Augen. Augen, so klar und rein wie Quellwasser … 

Fünfundzwanzig Schläge. Es schien ewig zu dauern. Danach band man ihn los und warf ihm sein Hemd vor die Füße. 

Bei den Hütten waren die meisten Sträflinge bereits dabei, sich ihr karges Morgenmahl einzuverleiben. In wenigen Minuten würde es wieder in den Busch gehen. Auch für Duncan. Sie würden ihn nicht schonen, nur weil er bestraft worden war. Wenn er nicht schnell genug auf die Beine kam, würde man ihn gleich noch einmal wegen Arbeitsverweigerung auspeitschen. 

Er bückte sich schwerfällig nach seinem Hemd und wäre dabei fast gefallen. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Fitzgerald auf sich zukommen. 

»Tut weh, was?« 

Duncan stieß einen unwilligen Laut aus. Konnte der Mann ihn nicht endlich in Ruhe lassen? 

»Wieso hast du das getan?« 

»Weil ich gesehen habe, wer es war.« Duncans Zunge fühlte sich an, als sei sie doppelt so dick wie sonst. Er hatte während der Schläge daraufgebissen, um keinen Laut von sich zu geben. »Und du warst es nicht.« 

»Danke. Sehr anständig von dir.« Fitzgerald reichte ihm seine riesige Pranke, in der Duncans Hand fast verschwand. »Mein Name ist übrigens Samuel.« 

»Duncan. Keine Ursache.« 

Der Hüne nickte. »Knie dich hin!« 

»Wieso? Willst du mich zum Ritter schlagen?« 

»Nicht ganz.« Samuel stieß ihn leicht an, so dass er in die Knie ging, und trat hinter ihn. Ein paar Augenblicke später spürte Duncan, wie sich ein warmer Strahl über seine geschundenen Schultern ergoss. Es brannte höllisch in den offenen Striemen. 

»Was …?«, wollte er auffahren. Wieso demütigte Samuel ihn auch noch? War sein Dank nur hohles Geschwätz gewesen? 

»Bleib unten und warte ab!«, wies der Hüne ihn an und fuhr fort, auf seinen Rücken zu urinieren. Tatsächlich ließ der wütende Schmerz auf Duncans Rücken allmählich nach. 

»Besser, was?«, sagte Samuel, als er fertig war, und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. »Das ist das Einzige, was hilft. Und jetzt komm.«