18. 

 

blume»Oh, was für eine fürchterliche Vorstellung!« Amelia Zuckerman rollte mit den Augen. »Nicht auszudenken, wenn mir das widerfahren wäre. Wenn so ein Sträfling mit mir – nein, ich mag gar nicht daran denken!« 

So, wie ihr Gesicht sich dabei rötete, bezweifelte Moira das. Die dicke Frau war geradezu begierig darauf, jedes noch so kleine Detail der angeblichen Entführung zu erfahren. 

»Was hat dieser Verbrecher Euch angetan? Hat er Euch angefasst mit seinen schmutzigen Händen? Hat er …« Sie beugte sich ein wenig vor und senkte die Stimme, »… hat er sich gar an Euch … vergangen?« 

»Mrs Zuckerman, bitte.« Moira war erschöpft. Seit die Kutsche dieser lästigen Person heute Nachmittag vorgefahren war, hatte Moira keine ruhige Minute mehr gehabt. McIntyre war nach einer kurzen Begrüßung schon wieder in seinem Studierzimmer verschwunden. Nur für Moira, wurde Mrs Zuckerman nicht müde zu betonen, hatte sie den beschwerlichen Weg nach Toongabbie auf sich genommen – und dann die mitgebrachten Leckereien zum größten Teil selbst verspeist. Jetzt hatte sie sich hier in ihrer Wohnstube festgesetzt. Hätte es nicht der Anstand geboten, Moira hätte sie längst hinauskomplimentiert. 

»Mir könnt Ihr Euch doch anvertrauen«, schmeichelte sie. »Ich bin doch auch eine Frau.« 

Moira blickte sie an, sah in das erwartungsvolle Gesicht ihr gegenüber am Tisch, die speckig glänzende Haut. »Ich erinnere mich nicht daran, Mrs Zuckerman.« 

Amelia Zuckerman zog einen Schmollmund. »Oh, das habt Ihr doch nur so behauptet vor Gericht. Ich verstehe ja, dass Ihr diese widerliche Geschichte nicht in aller Öffentlichkeit ausbreiten wolltet. Aber mir könnt Ihr es doch erzählen. Ich verspreche Euch, ich werde schweigen wie ein Grab.« 

Für einen kurzen Moment war Moira versucht, diesem Wunsch nachzukommen. Ihr zu sagen, was zwischen ihnen war, ihr von den rauschhaften Begegnungen mit Duncan auf dem Heuboden, den atemlosen Vereinigungen und der gemeinsamen Flucht zu erzählen. Dann ballte sie die Fäuste unter dem Tisch, zwang sich zur Ruhe und blickte durch das geöffnete Fenster hinaus auf den Weg, wo Dr. Wentworths drei Söhne übermütig Fangen spielten. Die Sonne glänzte auf den hellen Scheiteln der Kinder. William, John und D’Arcy junior.  

Moira hatte Wentworth angeboten, sich um die drei zu kümmern, wenn er seinen Dienst im Lazarett von Parramatta versah. Sie war dankbar für diese Aufgabe. Es lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab und brachte etwas Sinn in ihr Leben. Denn zurzeit existierte sie einfach nur. Lebte bloß von heute auf morgen, von dieser bis zur nächsten Stunde, von jetzt auf später. Denn nicht einmal July tauchte auf. Anfangs hatte Moira noch jeden Tag nach ihr Ausschau gehalten, aber inzwischen hatte sie es aufgegeben. Das Mädchen blieb verschwunden. 

Während sie zusah, wie William seinen jüngsten Bruder auf den Rücken nahm, stieg die Erinnerung an ihr eigenes totes Kind in ihr auf. Das winzige, nicht lebensfähige Würmchen, Frucht einer Liebe, die nicht sein durfte. Tränen trübten ihren Blick. Sie hob die Hand, um sie wegzustreichen, und spürte Mrs Zuckermans Finger auf ihren. 

»Oh, Ihr Ärmste! War es so schlimm? Hat dieser Verbrecher Euch weh getan? Sprecht es Euch von der Seele.« 

»Wie gesagt, Mrs Zuckerman, ich erinnere mich nicht.« 

Wie sie es hasste, lügen zu müssen! Wie sie es verabscheute, nicht jedem, der es wissen wollte, die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern und erzählen zu können, wie es wirklich gewesen war. Stattdessen musste sie hier sitzen, die sittsame Ehefrau spielen und Leute wie Mrs Zuckerman ertragen, die nur ihre Sucht nach Klatsch und Tratsch befriedigen wollten. Niemand fragte sie, wie es ihr wirklich ging. Niemandem konnte sie erzählen, dass die Sorge um Duncan sie auffraß. Dass sie nicht schlafen konnte, weil sie ständig die Bilder jener entsetzlichen Bestrafung vor sich sah. Fünf Tage lag das jetzt zurück. Nach ihrem Zusammenbruch hatte sie einen Rückfall erlitten und drei Tage lang krank im Bett gelegen. Und auch jetzt hielt McIntyre sie wie eine Gefangene. Sie durfte kaum aus dem Haus gehen, sie durfte Elizabeth Macarthur nicht besuchen, und er erlaubte ihr schon gar nicht, nach Parramatta und dort womöglich ins Lazarett zu fahren. 

Nur aus Angst, dass McIntyre Duncan noch immer des Diebstahls bezichtigen konnte, hielt sie sich daran. Dabei machte es sie fast rasend, nicht zu ihm zu können und nicht zu wissen, wie es ihm ging. Er war nur wenige Meilen entfernt und doch so weit fort, als befände er sich im fernen Europa. Dennoch war die Sehnsucht nicht einmal das Schlimmste. Das waren die Sorge und die Angst. Zu oft hatte sie gehört, dass ausgepeitschte Sträflinge an Infektionen starben. 

Natürlich hätte sie McIntyre nach Duncan fragen können. Wahrscheinlich erwartete er das sogar. Aber das tat sie nicht. Lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen. Genau genommen sprach sie überhaupt nicht mehr mit ihrem Mann, strafte ihn mit eisigem Schweigen und Nichtbeachtung – ihre einzige Waffe gegen ihn. Es schien ihn nicht zu kümmern. Er ließ sich ohnehin fast nur zu den Mahlzeiten blicken. Und wenn es unbedingt etwas mitzuteilen gab, war Ann die Mittlerin. 

Helles Kinderlachen klang durch die geöffneten Fenster. 

»Wie großzügig von Euch«, riss Mrs Zuckermans Stimme sie aus ihrem Trübsinn, »Euch um Dr. Wentworths Kinder zu kümmern. Also, ich könnte das nicht. Da käme ich mir ja vor wie eine Gouvernante.« Sie goss sich noch eine Tasse Tee ein. Offenbar hatte sie nicht vor, demnächst wieder zu gehen. »Was meint Ihr: Ob Dr. Wentworth sich bald wieder binden wird? Ich meine, so ganz ohne Frau kann er ja nicht leben.« Sie seufzte so inbrünstig, dass ihr Doppelkinn ins Wackeln geriet. »Zu schade, dass ich schon vergeben bin.« Sie gab Milch und Zucker in ihren Tee, rührte um und steckte sich mit der anderen Hand ein weiteres Stück Backwerk in den Mund. »Aber, seien wir doch mal ehrlich«, schmatzte sie. »Ein Mann wie Dr. Wentworth – und eine ehemalige Sträflingsfrau. Das war doch nichts.« 

Moira ertrug es nicht länger. »Liebt Ihr Euren Mann, Mrs Zuckerman?«, fragte sie scharf. 

Die dralle Gestalt stieß mit dem Löffel fast die Teetasse um. »Wie bitte?« 

»Ich fragte, ob Ihr Euren Mann liebt.« 

Mrs Zuckerman hatte ihre Fassung rasch wiedergefunden. Bedächtig klopfte sie den Löffel ab und legte ihn neben die Tasse. »Ach, was ist schon Liebe? Ein Luxus, den sich die wenigsten leisten können. Ich bevorzuge Sicherheit.« Sie tätschelte Moiras Hand, die diese nicht mehr rechtzeitig hatte zurückziehen können. »Aber Ihr seid natürlich noch immer aufgewühlt, das verstehe ich. Dieses schreckliche Erlebnis hat Euch doch sehr mitgenommen.« 

In dieser Art plapperte sie weiter, aber Moira hörte kaum hin. Was ist schon Liebe? Sie hätte die Antwort gewusst. Es war mehr als das bloße körperliche Verlangen nach dem anderen. Mehr als stummes Verstehen und das Gefühl der Einheit. Seit sie erfahren hatte, wie es war, jemanden zu lieben, wusste sie auch, was sie vermisste. Sie sehnte sich so sehr nach Duncan, dass es weh tat. 

»Mrs McIntyre?« 

»Entschuldigung.« Moira blickte auf. »Was habt Ihr gesagt?« 

»Ich sagte, sicher bekommt Ihr bald einen Ersatz für den Wüstling, jetzt, wo Euch doch ein Sträfling fehlt.« 

Auf diesen Gedanken war Moira noch gar nicht gekommen. Aber Mrs Zuckerman hatte recht, und das würde alles noch endgültiger machen. Duncan würde nicht zu ihnen zurückkehren. Bei dieser Vorstellung schien sich ein stumpfes Messer in ihre Brust zu bohren. 

»Am besten ersucht Ihr nach einem älteren Sträfling. Die älteren sind leichter zu handhaben. Ich sehe es ja an Fletcher.« 

Fletcher war einer der den Zuckermans zugewiesenen Sträflinge, ein Mann von über fünfzig Jahren. Er hatte Mrs Zuckerman hierher gefahren und wartete jetzt vor dem Kutschenhaus auf sie. Dort, wo Duncan früher gearbeitet und geschlafen hatte. Moira biss die Zähne zusammen und zwang sich, diesen Gedanken zu vertreiben. 

Das Knirschen von Rädern auf Sand erklang, dann sah sie vor dem Haus einen Zweispänner vorfahren. Wentworth! Endlich! Aufatmend erhob Moira sich, ihr Herz raste. Sie musste sich bremsen, um nicht hinauszurennen und ihm entgegenzustürzen. 

»Entschuldigt mich für einen Moment.« 

Ohne Wentworth wäre sie wahrscheinlich vollends verzweifelt; er hatte sich in den vergangenen Tagen immer mehr als wahrer Freund erwiesen. Rasch sah sie sich um, ob Mrs Zuckerman ihr nicht doch gefolgt war. Aber das korpulente Weib saß noch am Tisch und stopfte eifrig Gebäck in sich hinein. 

Wentworths Kinder, die sich beim Nahen des Wagens erwartungsvoll an den Wegrand gestellt hatten, rannten jetzt auf den Zweispänner zu, umringten ihn und ließen ihren Vater kaum aussteigen. Er umarmte sie lachend und erlaubte ihnen, in die Kutsche zu klettern. Dann deutete er mit dem Kopf auf das Fenster zur Wohnstube. »Ihr habt Besuch?« 

Moira verdrehte die Augen. »Mrs Zuckerman«, seufzte sie. »Und ich weiß nicht, wie ich sie wieder loswerden kann.« Sie zog ihn ein paar Schritte zur Seite. »Wie geht es ihm?«, fragte sie im Flüsterton. »Konntet Ihr mit ihm sprechen?« 

»Ihr müsst Geduld haben. Solche Verletzungen brauchen Zeit.« 

»Ja«, sagte Moira ungeduldig. »Das weiß ich. Ist er bei Bewusstsein? Hat er große Schmerzen? Dr. Wentworth, bitte!« 

»D’Arcy«, berichtigte Wentworth. Als er lächelte, kräuselten kleine Fältchen seine Augenwinkel. »Ihr sollt mich doch D’Arcy nennen. Es geht ihm gut. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen.« 

Moira nickte zweifelnd. Mehrmals hatte sie Wentworth gebeten, nichts zu beschönigen, dennoch befürchtete sie, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit erzählte. Die Antworten ähnelten sich. Es ginge Duncan den Umständen entsprechend. Er sei bei Bewusstsein. Das Fieber sei gesunken. Natürlich habe er Schmerzen, aber die seien zu ertragen. 

»Hat er nach mir gefragt?« 

Wentworth schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht wagen.« 

Moira biss sich auf die Lippen. Sagte Wentworth die Wahrheit? Oder ging es Duncan so schlecht, dass er dazu einfach nicht in der Lage war? 

D’Arcy schien ihre Gedanken zu ahnen. »Grämt Euch nicht. Er ist dort in guten Händen. Ihr wisst doch, auch Euer Mann sorgt gut für ihn.« 

Als Wentworth ihr zum ersten Mal davon erzählt hatte, hatte sie es nicht glauben können. McIntyre kümmerte sich persönlich um Duncan? Dass ihr Mann ihm offenbar nichts Schlechtes wollte, beruhigte und verwirrte sie gleichermaßen. 

»Ihr könnt – Mrs Zuckerman, welch freudige Überraschung!« Geistesgegenwärtig wechselte Wentworth das Thema, als die dicke Frau auf die Veranda trat. »Ich wollte gerade mit meinen Kindern aufbrechen, als ich Eure Kutsche hier gesehen habe. Wenn Ihr ebenfalls an die Rückreise denkt, könnten wir den Weg gemeinsam nehmen.« 

»Oh, Dr. Wentworth, wie aufmerksam von Euch!« Diesmal wackelte das Doppelkinn vor Entzücken. »Ich hätte längst den Heimweg angetreten, aber ich kann doch die arme Mrs McIntyre nicht allein lassen …« 

Moira versicherte, dass sie das sehr wohl könne. Wenige Minuten später sah sie ihnen von der Veranda aus nach, bis die beiden Kutschen in der Abenddämmerung verschwunden waren. In zwei Tagen würde Wentworth wieder ins Lazarett fahren und vorher seine Kinder bei ihr vorbeibringen. 

Sie fächelte sich den Schweiß vom Ausschnitt, dann drehte sie sich um, eilte in die Wohnstube an den einfachen Sekretär und holte einen Bogen Papier, Feder und das Tintenfass heraus. Die Feder in ihrer Hand zitterte, als sie sie in die Tinte tauchte. Sie würde Duncan schreiben. Nur eine kurze Botschaft. Gerade so viel, wie auf einen kleinen, zusammengefalteten Zettel passte. 

* 

Die untergehende Sonne färbte den Himmel blutrot. Der Ruf eines Kookaburra drang aus dem Wald; erst leise, dann brach der Vogel in lautes, fast menschliches Lachen aus. Zeit der Dämmerung, Zeit der Jagd. Der Geruch des Tages veränderte sich, verschwand, wich dem Duft der Nacht. 

Ningali sah zu, wie die Schatten länger wurden und die Dunkelheit sich immer weiter vorwagte. Neben sich spürte sie die feuchte Schnauze des Dingos. Aus den beiden langgestreckten Gebäuden in der Nähe des Flusses kamen nach und nach einige weiße Menschen und gingen fort. Der Mann, mit dem Mo-Ra zusammenlebte, war auch dabei. Wie am Vortag schon wartete sie, beobachtete. Harrte geduldig aus, bis die Nacht das letzte Licht des Tages verdrängt hatte. Dann schlich sie sich lautlos an das vordere der beiden Gebäude heran. Die Tür ließ sich leicht und lautlos öffnen. Der Dingo folgte ihr, presste sich dicht an sie, als wollte er sie in dieser ungewohnten Umgebung schützen. 

Schlanke Pfeiler stützten das Dach. In dem langen Raum lagen dicht gedrängt zahlreiche Kranke, die bösen Geister der Krankheit mit ihrem Geruch von Schweiß, Blut und Fieber waren allgegenwärtig. Ningali stand ein paar Augenblicke regungslos, hörte auf die vielen leisen Geräusche, das Atmen, Schnaufen, Stöhnen und das Summen der Buschfliegen. In regelmäßigen Abständen flackerten kleine Feuer an der Wand und warfen einen schwachen Schein über die schlafenden Gestalten. 

Ningali wartete still in einer Ecke, bis sie die farbigen Schimmer zu sehen begann, die jeden der Körper umgaben. Einige waren dunkel, gezackt, andere farbig, und wieder andere kaum noch vorhanden. Diese waren dem Tode nah. 

Dort hinten, nahe einem der hölzernen Pfeiler, glomm es in dunklem Rot. Dan-Kin. Sie huschte zu ihm, der Dingo folgte auf ihren Fersen. 

Dan-Kins Geist war schon wieder getrübt. Die schrecklichen Schläge, die Ningali aus der Ferne verfolgt hatte, waren kein Ritual gewesen, sondern eine Strafe. Das hatte ihr der Vater gesagt. Er hatte das alles selbst auch erlitten – und ihr erzählt, dass die Behandlung dieser Wunden sogar noch schmerzhafter sei als die Schläge. Ningali hatte die Schreie der Verletzten gehört, die immer wieder aus dem Gebäude drangen. Jetzt wedelte sie die allgegenwärtigen Fliegen fort, zog die leichte Decke von Dan-Kins Rücken und begann, den Verband zu lösen. 

Die Weißen wussten nicht, wie man Wunden richtig behandelte. Dies war schon die zweite Nacht, in der sie sich zu ihm schlich. Die Heilpaste, die sie in der vergangenen Nacht aufgetragen hatte, war entfernt und durch die Medizin der Weißen ersetzt worden. Ningali verstand die Weißen nicht. Sahen sie denn nicht, dass das Heilmittel der Eora viel besser für ihn war? 

Dan-Kin bewegte sich. Ningali stieß einen gurrenden, beruhigenden Ton aus. Der Dingo kam näher und schnüffelte an Dan-Kins Rücken. Ningali schob ihn fort, als er zu lecken beginnen wollte, griff in den Beutel an ihrem Gürtel und holte das Blätterpäckchen heraus. Es hatte eine Weile gebraucht, bis sie all die Kräuter und Wurzeln beisammenhatte, die sie benötigte. Sie kniete nieder, tauchte ihre Finger in die grünliche, aromatisch riechende Masse und begann, sie auf Dan-Kins Rücken zu verteilen. Als die kühle Salbe seine Wunden berührte, spannte sich sein Körper an, als erwarte er neuen Schmerz, neue Qual. War er wach? Sie gurrte erneut, als sich seine Glieder auch schon wieder entspannten. 

In der nächsten Nacht kam sie ein drittes Mal. Und diesmal sah sie mit Genugtuung, dass ihre Medizin nicht entfernt worden war. 

Sie hatte sich gerade erhoben, um den Raum zu verlassen, als ein unerwartetes Geräusch sie aufschrecken ließ. Sofort duckte sie sich wieder, versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen. 

Ein Mann betrat den Raum und begann, die Reihen abzuschreiten. Ningali presste sich an die Wand hinter Dan-Kin. Hier drinnen konnte sie sich nicht so gut verstecken wie im Wald. Gleich würde er sie entdecken! Leise holte sie Atem und stieß den Dingo leicht an. Das Tier löste sich von ihrer Seite und lief auf den Mann zu. Diese Ablenkung nutzte sie und rannte los, auf die geöffnete Tür zu. 

Kaum im Freien, umfing die Nachtluft sie mit beruhigender Kühle. Sie blieb stehen, mit klopfendem Herzen. Die Freude darüber, dass jemand ihre Medizin zu schätzen wusste, hatte sie unvorsichtig gemacht. Fast hätte man sie erwischt. Es wurde zu gefährlich für sie. Ein weiteres Mal würde sie nicht kommen können. 

Wieso kam der Dingo nicht? Sie blickte zurück. 

Ein Schatten erschien in der Tür. Er rief etwas, das sie nicht verstand. Sie zog sich weiter ins Dunkel der Bäume zurück. 

»July?« 

Es war allein dieser Name, der sie innehalten ließ. July! Der Name, den Mo-Ra ihr gegeben hatte. Wenn ein Weißer diesen Namen kannte, dann musste er ein Freund von Mo-Ra sein. Und wohl auch von Dan-Kin. 

Jetzt erkannte sie den Mann. Im Licht, das aus der geöffneten Tür drang, war sein Haar hell wie Honig. Sie hatte ihn schon öfter gesehen, hier im Gebäude für die Kranken, aber auch dort, wo er wohnte. Er war freundlich. Und er war ein Freund von Mo-Ra. 

Ob sie es wagen konnte, ihm zu vertrauen? Langsam trat sie aus der Dunkelheit hervor, das Päckchen mit der Heilpaste fest umklammert. 

* 

Die Fesseln um Duncans Knöchel waren aus schwerem Eisen. Ein Schmied hatte sie ihm heute Morgen angepasst. Und nur ein Schmied würde sie wieder entfernen können. Große Schritte konnte er nicht machen, denn eine Kette aus Eisengliedern spannte sich dazwischen. Um beim Laufen nicht darüber zu stolpern, musste er sie mit einem Strick an seinem Gürtel befestigen. Ein weiteres Paar Fesseln mit einer kurzen Kette schloss sich um seine Handgelenke. Diese zumindest ließen sich von den Aufsehern öffnen. 

»Du gewöhnst dich schon dran«, hatte Samuel gesagt. Der Hüne trug seit seinem missglückten Fluchtversuch ebenfalls Ketten, aber ihn schienen sie kaum zu stören. 

Die Sonne stand als roter Glutball an einem Himmel von fast unnatürlichem Blau. Es war Mitte November, ein früher Sommer hatte Einzug gehalten. Überall spross neues Leben, die Bäume trugen Blüten in Cremeweiß und Rosa, aber Duncan hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Schweiß rann ihm über den Körper und biss in den kaum verheilten Striemen auf seinem Rücken. Seit heute war er zurück im Straflager von Toongabbie, wo nur Schinderei, Hunger und Elend auf ihn warteten. Und dabei hatte er geglaubt, nie wieder hierher zu müssen. 

Um sich abzulenken, zählte er alles, was ihm in den Kopf kam. Ihre Arbeitsgruppe bestand aus acht Sträflingen, die an diesem Vormittag eine riesige Wurzel auf einem frisch gerodeten Waldstück ausgraben mussten. Sechs Monate würde man ihn die Fesseln tragen lassen. Noch fünfeinhalb Jahre musste er hier schuften. So lange würde es dauern, bis er endlich frei war, denn eine mögliche Begnadigung war in weite Ferne gerückt. Fünfeinhalb lange Jahre. Außerdem musste er jederzeit damit rechnen, dass man ihn zu den ausstehenden vierundsiebzig Schlägen abholte. Er war gerade einmal sechs Wochen im Lazarett gewesen. Erstaunlich kurz für die Schwere seiner Verletzungen. 

In seiner Erinnerung verwischten die ersten Tage im Lazarett zu einem wirren Gemisch aus Fieberträumen und schrecklichen Schmerzen, schlimmer noch als die Peitschenhiebe. Man hatte Salz in seine Wunden gerieben, um eine Infektion zu verhindern. Ärzte waren gekommen und gegangen. Dr. McIntyre. Dr. Wentworth. Andere, namenlose Helfer. Dann eine kühle Paste in nächtlicher Stille, die den vernichtenden Schmerz auf seinem Rücken endlich linderte. Seitdem war die Heilung rasch vorangeschritten – so rasch, dass manche mutmaßten, es ginge nicht mit rechten Dingen zu. War das tatsächlich July gewesen, wie er einmal zu erkennen glaubte? Wieso? Was fand dieses Mädchen an ihm, dass es sich sogar bis ins Lazarett hineinwagte, um ihm zu helfen? 

Eines Abends, als Dr. Wentworth seine letzte Runde machte, hatte Duncan plötzlich die Kanten eines zusammengefalteten Papiers zwischen seinen Fingern gespürt. 

»Rasch«, flüsterte Dr. Wentworth. »Lest und vernichtet es.« 

Duncan wartete mit klopfendem Herzen, bis seine Nachbarn auf ihren Pritschen zur Ruhe gekommen waren, dann entfaltete er den Zettel. 

Sein Herz tat einen Satz, als er erkannte, von wem er kam, auch wenn er keine richtige Unterschrift trug. Moira! Die wenigen Zeilen waren so klein geschrieben, dass er Mühe hatte, sie in dem schwachen Licht der flackernden Talgkerzen zu entziffern. 

»Du fehlst mir so sehr«, schrieb sie. »Aber unsere Zeit wird kommen. Nichts kann uns trennen. Für immer Dein. M.« 

Er ließ den Zettel sinken und schloss die Hand darum. Eine ganze Weile lag er still, das Papier in seiner Faust geborgen, nah an seinem Herzen. Er hätte am liebsten geweint. In diesem Moment begrüßte er fast die Ablenkung durch den körperlichen Schmerz, der in seinem Rücken tobte. Sie durfte das nicht! Sie musste ihn vergessen! Für sie beide gab es keine Zukunft. 

Als die Nacht hereingebrochen war, hatte er das Papier zerrissen und sich in den Mund gesteckt, hatte schwer an den Fetzen geschluckt. 

Verbissen beugte er sich nun über die Wurzel und schlug seine Axt so heftig in das Holz, dass ein großer Strang absplitterte. Er spürte, wie die Striemen auf seinem Rücken erneut aufplatzten und Blut sein Hemd tränkte. 

»Mach langsam, O’Sullivan«, ertönte die Stimme des Aufsehers. »Ich habe nichts davon, wenn sie dich gleich wieder ins Lazarett schicken!« 

Duncan hörte nicht auf ihn. Er wollte sich nicht schonen, und er tat es auch nicht, obwohl er noch nicht vollständig genesen war. Auch nicht in den nächsten Tagen. Nur schwere körperliche Arbeit hielt seine Gedanken in Schach und übertönte den nagenden Schmerz der Sehnsucht in seinem Inneren. 

Er redete wenig. Fragen der anderen Sträflinge, wie er geflohen sei und wieso er Mrs McIntyre entführt habe, beantwortete er nicht. Nicht einmal Samuel. Er durfte niemandem vertrauen. Abends fiel er todmüde und mit schmerzenden Gliedern auf sein Lager und fand doch lange keinen Schlaf. Er wusste nicht, wie er liegen sollte; die Ketten waren im Weg, und die Striemen auf seinem Rücken schmerzten. Und er konnte nicht aufhören, an Moira zu denken. 

Als die sommerliche Hitze in den nächsten Tagen zunahm und die offenen Wunden mit seinem Hemd verklebten, hatte Aufseher Farelly ein Einsehen und ließ Duncans Handschellen öffnen, damit er sich das Hemd ausziehen konnte. Er schämte sich seines geschundenen Rückens nicht. Fast jeder der Sträflinge hatte schon einmal die Peitsche zu schmecken bekommen. 

Eine Woche nach seiner Rückkehr ins Straflager rief Aufseher Farelly ihn während des kargen Morgenmahls zu sich. Duncan stellte die Schüssel mit dem Brei aus Hafermehl beiseite, sein Hunger war verflogen. Jetzt war es so weit. Jetzt würden sie ihn zu den restlichen Schlägen holen. Die Vorstellung, erneut auf die kaum verheilten Striemen geschlagen zu werden, ließ einen harten Knoten in seinem Magen entstehen. Er stand auf und trat zu dem Aufseher. 

Farelly musterte ihn. »Es heißt, du kannst mit Metall umgehen. Kannst du auch Töpfe reparieren?« 

Duncan seufzte unhörbar auf. Ging es nur darum? Er nickte. »Alles, was ein Tinker können muss.« 

»Ein Kesselflicker also.« Der Aufseher sah ihn verächtlich an. »Jemand hat dich angefordert.« Er blickte in die Runde. »Er braucht noch vier weitere kräftige Burschen, die eine Scheune errichten können. Fitzgerald, Reilly, Buchanan, Clarke, ihr kommt ebenfalls mit. Macht euch bereit. In einer halben Stunde werdet ihr mit mir nach Parramatta marschieren.« 

Duncans Herz klopfte wieder langsamer. Keine Schläge. Nur ganz gewöhnliches Tinkerhandwerk. Er atmete durch und kehrte zurück zu seinem Haferbrei. 

* 

Das Farmhaus lag in gleißender Sonne, die Luft am Waldrand flimmerte. Wentworth reichte Moira den Arm, um ihr aus der Kutsche zu helfen. »Kommt, ich bringe Euch zu ihm.« 

»Weiß er, dass ich komme?« 

Wentworth nickte. »Die anderen Sträflinge bauen neben den Ställen an einer Scheune. Dennoch müsst Ihr achtgeben, dass Euch niemand sieht. Ihr würdet sonst auch mich in Teufels Küche bringen.« 

Die Aussicht, gleich Duncan zu sehen, ließ Moiras Herz flattern wie ein gefangener Vogel. Zum Glück hatte ihr Mann sich leicht überlisten lassen. Seit Duncan wieder im Arbeitslager war, ließ McIntyre die Zügel etwas lockerer und beobachtete sie nicht mehr auf Schritt und Tritt, schließlich war es in Toongabbie nahezu unmöglich, dass Moira und Duncan sich begegneten. Auf die Idee, dass D’Arcy Wentworth die wahre Geschichte kannte und sie unterstützen könnte, war er nicht gekommen. Und so sah es für McIntyre heute so aus, als besuche sie Wentworth und seine Kinder, um einen möglichen Unterricht zu besprechen. 

Auch wenn alles in ihr danach drängte loszulaufen, blieb sie noch einen Augenblick stehen. »Dr. Wentworth, D’Arcy, ich … ich weiß gar nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen kann. Wieso tut Ihr das für uns?« 

Wentworth lächelte sie an und hob die Schultern. »Das weiß ich selbst nicht so genau. Wahrscheinlich, weil Catherine es auch getan hätte. Und weil es mir weh tut, Euch leiden zu sehen.« 

Er führte sie zu den Nebengebäuden. Neben dem Küchenhaus, das wegen der Feuergefahr abseits vom Haupthaus errichtet worden war, trennte er sich von ihr. 

»Ich habe die Köchin zum Einkaufen geschickt, und die Kinder sind im Haus. Niemand wird Euch stören. Aber zeigt Euch nicht zusammen, zu Eurer eigenen Sicherheit.« 

Moira nickte und wartete ungeduldig, bis er sich entfernt hatte. Dann lugte sie um die Ecke. 

Duncan saß neben der geöffneten Tür des Küchenhauses auf einer Bank und bearbeitete den Boden eines Topfes mit einem Hammer. Moiras Herz machte einen Satz und fing an zu rasen. Als sie seinen Namen flüsterte, hob er den Kopf, Freude überflog sein Gesicht. Er sprang auf, Topf und Hammer fielen zu Boden. Im nächsten Moment hing sie an seinem Hals, schluchzend, lachend, spürte seine Arme um sich und erlaubte sich für einen Augenblick, reines Glück zu empfinden und nicht auf das Klirren der Fußketten zu achten. 

»Geht es dir gut? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Und dich so schrecklich vermisst!« 

Er sagte kein Wort, hielt sie nur fest. Auch sie umklammerte ihn mit aller Kraft, ungeachtet seines Geruchs nach Schweiß und ungewaschener Kleidung, bis ihr einfiel, dass ihm ihre Umarmung sicher Schmerzen bereitete. Sie ließ ihre Arme sinken. 

»O Gott, entschuldige, ich habe nicht daran gedacht …! Wie geht es dir? Hast du große Schmerzen?« Weitere Fragen sprudelten aus ihr heraus, wie ein Wasserfall drängten sich Worte auf ihre Lippen. 

Sie konnte ihre Blicke nicht von ihm lassen. Er hatte abgenommen, und in seinen dunkelgrünen Augen spiegelte sich hinter der momentanen Freude eine Erschöpfung, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Natürlich, sagte Moira sich. Die vergangenen Wochen mussten hart für ihn gewesen sein. Erneut stiegen die schrecklichen Bilder in ihr auf. Die entsetzlichen Schläge, das viele Blut … 

»Geh ins Küchenhaus«, murmelte er eindringlich. »Man darf dich hier nicht sehen!« 

Sie nickte, löste sich widerwillig von ihm, ließ aber seine Hand nicht los. »Komm, du auch.« 

Er blieb stehen. Jetzt erst bemerkte sie, dass er nicht nur Fußeisen trug, sondern auch mit einer schweren Kette an die Bank gefesselt war. Sie biss sich auf die Lippen, zog sich aber gehorsam in den Schatten der geöffneten Küchentür zurück. Die wenigen Schritte, die sie jetzt voneinander entfernt waren, erschienen ihr wie eine Meile. An der Wand neben sich konnte sie ordentlich aufgereihte Töpfe, Schöpflöffel und Pfannen erkennen. 

»Was ist los mit dir?«, fragte sie, als Duncan sich bückte und den Topf wieder aufhob. »Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?« 

»Moira«, begann er leise. »Du musst mir etwas versprechen.« 

Alles!, wollte sie antworten. Aber er klang so seltsam. »Was denn?« 

Sie sah ihm an, wie schwer es ihm fiel. Er sah auf den Topf in seinen Händen, dann blickte er auf. »Komm nicht wieder. Vergiss mich.« 

»Nein!«, fuhr sie auf, senkte ihre Stimme aber sogleich wieder. »Nein, nein, und nochmals nein! Was redest du da? Haben dich ein paar Peitschenschläge all deine Zuversicht verlieren lassen?« Sie wusste, dass sie ungerecht war, aber es war die Verzweiflung, die ihr diese Worte eingab. 

Sie sah Wut in seinen Augen aufblitzen. Gut so! Das Feuer war noch da. Aufbegehren stand ihm besser als Resignation. Aber gleich darauf schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht gut für dich. Ich bin für niemanden gut.« 

»Das ist nicht wahr! Ich … ich liebe dich. Ich brauche dich.« Ihre Stimme drohte zu brechen. »Duncan?« 

Er antwortete nicht. Sah zu Boden und schüttelte erneut den Kopf. 

»Heißt das, du liebst mich nicht?« 

»Doch!«, stieß er fast zornig hervor. »Mehr als mein Leben. Aber es hat keinen Sinn. Ich muss sechs Monate diese Ketten tragen, und bis ich ein freier Mensch bin, wird eine noch viel längere Zeit vergehen. Und du bist dann immer noch verheiratet.« 

Er liebte sie. Wärme flutete durch Moiras Körper wie eine Sommerbrise. Sie trat einen Schritt vor. Sie wollte ihm nah sein, wollte ihn berühren. 

»Ich habe gestern in der Bibel nachgeschaut. So, wie du es mir gezeigt hast. Einfach aufgeschlagen und mit dem Finger auf eine Seite gedeutet.« Nun, ganz so war es nicht gewesen. Sie hatte die Stelle, die ihr nur vage im Gedächtnis war, so lange gesucht, bis sie sie gefunden hatte. Aber das musste Duncan nicht wissen. »Weißt du, worauf ich gedeutet habe? Eine Stelle aus dem Lukasevangelium. ›Er hat mich gesandt zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein –‹« 

»Ruhig!«, fuhr Duncan sie an und hob die Hand. 

»Hör dir doch erst einmal an, was ich zu sagen habe!« 

»Da kommt jemand!« 

Moira verstummte und wich zurück ins Küchenhaus. Hoffentlich war es nur Wentworth. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken. 

Dann hörte sie es auch: das leise Klirren von Kettengliedern. Es war nicht Wentworth. Es war der hünenhafte Sträfling, den sie vor Monaten zusammen mit Mrs King in der Krankenhütte besucht hatte. Als er jetzt um die Ecke bog, schleiften die schweren Ketten durchs Gras. 

Moira zog sich noch etwas weiter in die dunkle Küche zurück, damit niemand, der einen flüchtigen Blick in den Raum warf, sie sehen würde. Sie selbst allerdings konnte alles beobachten, was draußen vor sich ging. Stocksteif verharrte sie dort und wagte kaum zu atmen. Ihr Herz vollführte einen wahrhaft irrsinnigen Tanz in ihrem Brustkorb. Der Mann konnte mit einem einzigen Ruf den Aufseher herbeiholen. Dann wäre alles verloren. 

Er steuerte direkt auf Duncan zu und blickte sich irritiert um. »Mit wem hast du gerade gesprochen?« 

»Mit mir selbst.« 

»Ist es schon so weit mit dir, dass du Selbstgespräche führst?« Der Hüne grinste breit, Moira konnte seine Zähne aufblitzen sehen. 

»Was machst du hier, Samuel?« 

»Aufseher Farelly hat einen über den Durst getrunken, sitzt da hinten an einem Baum und schläft. Bis der wieder aufwacht, kann es dauern. Schnell, hast du einen Hammer? Möglichst schwer und groß?« Ohne ein weiteres Wort griff er sich den größten Hammer, der vor Duncan auf dem Boden lag, und wog ihn in der Hand. »Nein, viel zu leicht.« Er blickte sich um. »Vielleicht ist im Küchenhaus etwas Brauchbares.« 

»Nein! Samuel, warte!« Duncan sprang auf, aber der andere marschierte schon auf die geöffnete Tür zu. 

Moiras Herz klopfte zum Zerspringen. Wo konnte sie sich verstecken? Unter dem großen Küchentisch? In der Speisekammer? Nein, sie wollte sich nicht wie ein verschrecktes Küken finden lassen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, trat sie vor. 

Der große Mann hielt an, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Niemand sagte ein Wort. Quälend langsam wechselte der Ausdruck auf seinem Gesicht von Verblüffung zu Erkenntnis. 

»Ich will verdammt sein«, brach es schließlich aus ihm hervor, »wenn das nicht die junge Mrs McIntyre ist.« Sein Blick wanderte von Moira zu Duncan und wieder zurück. Moira stand regungslos. Für einen endlos langen Moment schien alles Leben zu ersterben. Dann lachte der Hüne über das ganze Gesicht. 

»Duncan, du Tunichtgut! Du hast sie gar nicht entführt? Ihr seid … ein Liebespaar?« Er trat zu Duncan und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Bei Gott, das ist die schönste Geschichte, von der ich je an diesem verteufelten Ort gehört habe.« Er wandte sich Moira zu und tippte an einen imaginären Hut. »Samuel Fitzgerald, Ma’am. Zu Euren Diensten.« 

Moira wagte zum ersten Mal durchzuatmen, auch wenn ihr noch immer der Puls in den Schläfen hämmerte. »Wozu braucht Ihr denn einen Hammer, Mr Fitzgerald?« 

Der Riese sah sie erstaunt an, dann bleckte er die Zähne zu einem breiten Grinsen. Er trat einen Schritt auf sie zu, dann noch einen, bis er so nah war, dass sie seinen durchdringenden Schweißgeruch wahrnehmen konnte. Die schiere Präsenz dieses Mannes war bedrohlich, er würde sie mühelos überwältigen können. Und Duncan würde ihr diesmal nicht zu Hilfe kommen können, angebunden, wie er war. Dennoch wich sie nicht zurück. 

»Um die Fußfesseln in eine andere Form zu klopfen«, sagte Fitzgerald. »Dann muss man nur noch mit der Ferse hinausschlüpfen. Ich habe nämlich nicht vor, mein Leben an diesem Ort zu beschließen. Ich gehe über die Berge nach China.« 

Duncan schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Samuel. Wie willst du einen Hammer ins Lager schmuggeln? Sie durchsuchen uns.« 

»Ich könnte Euch einen Hammer besorgen«, sprach Moira aus, was ihr durch den Kopf schoss. »Es würde etwas dauern, aber –« 

»Nein!«, unterbrach Duncan sie. »Ich werde dich nicht noch einmal in Gefahr bringen.« Er wandte sich an Fitzgerald. »Und du hörst auf, ihr solche Flausen in den Kopf zu setzen. Was immer hinter den Bergen liegt – du kannst sie nicht überqueren. Wir sind auch gescheitert.« 

»Wirklich? Woran denn?« 

»Sie sind zu hoch. Unüberwindbar.« 

Fitzgerald ließ enttäuscht die breiten Schultern hängen. Für einen Augenblick stand er geknickt da, dann straffte er sich wieder. »Nun, dann gehe ich jetzt besser.« 

»Mr Fitzgerald«, rief Moira leise, als er sich umwandte. »Kann ich … kann ich Euch vertrauen?« 

Der Hüne blieb stehen und sah sie an. »Sagen wir mal so: Ihr kennt jetzt mein Geheimnis, und ich kenne Eures. Es hätte niemand von uns etwas davon, wenn er den anderen verraten würde, nicht wahr?« 

Sie nickte und sah ihm hinterher, wie er durch das Gras davonstapfte. 

»Du solltest jetzt auch gehen«, sagte Duncan hinter ihr. Er hörte sich unendlich traurig an. 

Sie drehte sich zu ihm um. »Es gibt eine Lösung«, beharrte sie trotzig. Sie musste sich daran festhalten, sonst wäre sie zerbrochen. »Es gibt immer eine Lösung.« 

* 

Moira hatte nicht erwartet, dass McIntyre noch einmal sein Recht als Ehemann einfordern würde. Doch am Tag nach ihrer Fahrt zu Wentworth löschte er abends die Kerze, stieg ins Bett und lag dann ein paar Sekunden reglos neben ihr, bis sie eine gleichmäßige Bewegung unter der Bettdecke bemerkte. Fasste er sich etwa an? Moira schloss die Lider und stellte sich schlafend, riss die Augen aber gleich darauf erschrocken auf, als McIntyre die Decke anhob und ihr Nachthemd nach oben schob. Mit einem Laut des Abscheus schlug sie seine Hände weg. 

»Wagt es nicht!«, fauchte sie in die Dunkelheit. Sie wand sich, strampelte mit den Beinen und versuchte zu verhindern, dass er sich über sie wälzte. In ihrer Verzweiflung schlug sie nach ihm, traf ihn mitten im Gesicht. 

McIntyre erstarrte. War sie erlöst? Dann traf ein harter Schlag ihre Wange, ihr Kopf flog auf das Kissen zurück. 

»Was bildest du dir ein?« Er bog ihre Arme nach oben, griff nach ihren Handgelenken und umfasste sie mit einer Faust, dann drängte er sich zwischen ihre Beine. Moira hätte sich vor Ekel fast übergeben, Sterne tanzten vor ihren Augen. Ihre Gegenwehr war sinnlos. Jäh erschlaffte ihr Körper. Wenn sie sich nicht wehrte, das wusste sie inzwischen, tat es nicht so weh. 

Es tat weh, aber wenigstens dauerte es nicht lange. Nach wenigen Stößen, verbunden mit Schnaufen und einem abschließenden langen Stöhnen, wälzte McIntyre sich wieder auf seine Seite des Bettes. Moira hatte noch immer das Gefühl, würgen zu müssen. Dennoch wartete sie, bis er eingeschlafen war, dann stieg sie aus dem Bett, tastete im Dunkeln nach ihrem Umhang und eilte aus der Schlafstube, hinaus auf die Veranda. Dort lehnte sie sich gegen einen der hölzernen Pfeiler und blickte hinaus in die sternenfunkelnde Nacht. Es war warm, ein leichter Wind spielte mit ihrem Haar. 

Sie weinte nicht. Weinen hätte nichts geändert. Und Duncan hatte noch viel Schlimmeres durchmachen müssen. Duncan. Wie eine Klammer legte es sich um ihr Herz. Jetzt schluchzte sie doch auf. Das Kutschenhaus schimmerte hell durch die Dunkelheit. Aber er war nicht mehr dort. Er konnte ihr nicht helfen. Das musste sie schon selbst tun. 

Wütend drängte sie die Tränen zurück. Den ganzen Tag schon überlegte sie, wie sie sich und Duncan aus ihrer beider Zwangslage befreien könnte. Schmiedete Pläne und verwarf sie sogleich wieder. Wie konnte sie noch einmal zu ihm gelangen? Ob Wentworth ihr auch dabei helfen würde? Wie konnte sie Duncan befreien? Und wie konnte ihnen die Flucht gelingen? Womöglich mit Fitzgeralds Hilfe? Aber selbst wenn es glückte – wohin sollten sie gehen? Nicht nur für die ersten Tage, sondern für immer? Sicher nicht über die Berge. Zurück nach Irland oder England konnten sie auch nicht – einem zur Deportation verurteilten Sträfling, der unerlaubt zurückkam, drohte die Todesstrafe. Und falls sie scheiterten und man sie wieder einfing, würde Duncan eine weitere harte Bestrafung bevorstehen. Außerdem wusste sie nicht, was McIntyre in diesem Fall tun würde. Das konnte sie nicht riskieren. 

Wie sie es auch drehte und wendete, eine erneute Flucht schied aus. Sie hatte nur eine einzige Möglichkeit, eine, die ihrem Wesen vollkommen entgegenlief: Sie musste sich gedulden. Warten, bis Duncan die Ketten wieder los war, und nebenbei Kontakte knüpfen, sich umhören. Womöglich gab es jemanden in der Kolonie, der ihnen helfen konnte. In der Zwischenzeit würde sie sich bemühen, eine gute Ehefrau zu sein. McIntyre in Sicherheit wiegen. Er wollte eine fügsame Frau? Die sollte er bekommen. Auch wenn das bedeutete, ihr Leben und ihr Bett noch länger mit dem alten Bock teilen zu müssen. Sie tat es für Duncan. Für ihre gemeinsame Zukunft. Daran musste sie immer denken. 

* 

Reverend Marsdens volltönende Stimme drang sicher bis in die hintersten Reihen der Gemeinde. Bislang war die aus hölzernen Planken errichtete Kirche in Parramatta das einzige Gotteshaus der Kolonie. An der neuen Kirche, aus Stein und dreimal so groß, baute man noch. Solange wurde der Gottesdienst hier abgehalten. 

Der Reverend sprach über die Verpflichtung der Gläubigen zur Demut. Der Raum war gut gefüllt; vor sich in der ersten Reihe sah Alistair Major Penrith und dessen Bruder William, dahinter Dr. Wentworth mit seinen Söhnen und weitere honorige Mitglieder der Gemeinde. Auf der anderen Seite, bei den Frauen und Mädchen, saß Moira, starr nach vorne blickend. 

Wenigstens hatte sie bewiesen, dass sie ein Kind empfangen konnte. Noch war nicht alles verloren. Noch konnte sie ihm den Sohn schenken, den er sich so sehnlich wünschte, auch wenn er sie vergangene Nacht hatte schlagen müssen, damit sie sich auf ihre Pflichten besann. Heute Morgen dann war sie unerwartet verträglich gewesen. Hatte sie endlich eingesehen, dass es besser war, sich zu fügen? So schnell durfte er ihr nicht trauen. Schließlich, davon war er inzwischen überzeugt, war das alles ihre Schuld gewesen. Hätte sie nicht O’Sullivan verführt, wäre alles noch wie früher. Das würde er ihr nie vergeben können. 

Alistair drehte sich um. Hinter den Stuhlreihen drängte sich stehend das einfache Volk sowie etliche Hausangestellte und Stallburschen, denn die papistischen Sträflinge, die nicht in Ketten waren, mussten ebenfalls den Gottesdienst der Kirche von England besuchen. Alistair konnte Ann in der Menge ausmachen und viele andere vage bekannte Gesichter. Der, den er suchte, war nicht dabei. 

Er drehte sich wieder nach vorne. In der Nacht hatte er erneut von O’Sullivan – von Duncan, wie er ihn seit der Zeit im Lazarett insgeheim nannte – geträumt. Davon, dem jungen Sträfling seine Hand auf den Ansatz des Kreuzbeins zu legen, tiefer zu gleiten, seine warme Haut, die festen Muskeln zu spüren. Wie er es ein einziges Mal im Lazarett gewagt hatte, als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete. Er hatte seine Hand sofort zurückgezogen, als sich der Körper unter seinen Fingern in reflexhafter Abwehr angespannt hatte. 

Alistair vermisste seinen Gehilfen. Er hatte jetzt niemanden mehr, an dem er das oculus introspectans ausprobieren konnte. Und niemanden, der ihm ein weiteres Gerät herstellen konnte. Um die Pferde und die Kutschen kümmerte sich jetzt ein anderer Sträfling, ein älterer Mann, der seine Arbeit nur lustlos versah. Wer könnte Duncan zumindest als Versuchsperson ersetzen? Ann? Der erste und bisher einzige Versuch mit ihr war ein Reinfall gewesen, und daran würde sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Moira? Ganz sicher nicht. Also irgendein anderer Sträfling. Aber es brauchte Zeit und gegenseitiges Vertrauen, eine geeignete Person zu finden und heranzuziehen. Darum würde er sich jetzt endlich kümmern müssen. Er wusste selbst nicht, wieso er diese Aufgabe schon so lange vor sich herschob. Vielleicht, weil jeder andere nur ein armseliger Ersatz wäre. 

Als Alistair nach dem Gottesdienst aus der Kirche trat, war der Platz vor dem Gebäude bereits voller Menschen. Für ihn waren diese Treffen und Gespräche eher Pflicht als Vergnügen, aber er ließ sich sehen, schließlich versammelten sich hier die einflussreichsten Männer der Kolonie. Und seit Duncan fort war, zog es ihn auch nicht mehr so schnell wie früher zurück in sein Studierzimmer. 

»McIntyre!« Major Penrith trat zu ihm. »Da seid Ihr ja. Ich muss mit Euch reden. Kommt, lasst uns etwas trinken.« 

Alistair nickte zögernd und sah hinüber zu der Gruppe von Frauen, mit denen Moira zusammenstand. Munteres Geplapper und Lachen war zu hören. Der Major folgte seinem Blick. 

»William kann Eure Frau nachher mitnehmen nach Toongabbie. Sie wird Euch schon nicht weglaufen.« Er verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Zumindest nicht sofort.« 

»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Alistair steif. 

»Genau darüber wollte ich mit Euch reden. Kommt mit, ins Freemason’s.« 

Zu dieser frühen Stunde war der einfache Gasthof bis auf einen einsamen Zecher, der über seinem Bier eingeschlafen war, leer. »Wie entwickeln sich Eure Forschungen?«, fragte der Major, als sie in einer Ecke Platz genommen hatten und jeder einen Zinnbecher mit Bier vor sich stehen hatte. Alistair hatte den Alkohol ablehnen wollen, aber der Major war über seinen Einwand hinweggegangen, als hätte er ihn nicht gehört. 

»Langsam«, antwortete er ausweichend und nippte an dem bitteren Gebräu. Er verspürte wenig Lust, mit dem Major ausgerechnet über die Fehlschläge der vergangenen Zeit zu reden, und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. »Was ist mit Euch? Was macht die Gesundheit?« 

Der Major sah ihn aus wachsam zusammengekniffenen Augen an. »Es könnte nicht besser gehen«, sagte er scharf. »Und falls das eine Anspielung auf meine kleine Unpässlichkeit bei Dr. Wentworth sein sollte, dann lasst Euch gesagt sein, dass schon Cäsar und Alexander der Große an der ›Heiligen Krankheit‹ litten. Ich befinde mich also in bester Gesellschaft.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Becher, dann lehnte er sich zurück und streckte die langen Beine aus. »Ich denke darüber nach, den ausgeschriebenen Posten des Lieutenant Governor von Norfolk Island anzunehmen. Das wäre gut für meine Karriere. Was haltet Ihr davon?« 

»In der Tat, ein vielversprechender Schritt in Eurer militärischen Laufbahn. War es das, worüber Ihr mit mir reden wolltet?« 

Der Major lachte auf. »Seit wann brauche ich Eure Zustimmung zu meinen Plänen? Nein, mir geht es um etwas anderes.« Er warf einen beiläufigen Blick auf seine gepflegten Hände. »Ich habe mich letztens ein wenig mit Eurer kleinen Sträflingsdirne unterhalten. Diesem Mädchen, dieser … Anna oder wie sie heißt.« 

»Mit Ann, Sir?« Alistair hatte plötzlich das Gefühl, als würge ihn jemand. Wusste der Major etwa Bescheid? 

»So ist es. Ich musste ihr erst ein bisschen gut zureden, aber dann hat sie mir alles erzählt.« Er beugte sich über den groben Holztisch. »Euer Frauchen hat Euch Hörner aufgesetzt, McIntyre. Mit diesem O’Sullivan, diesem dahergelaufenen papistischen Sträfling! Und Ihr wusstet davon. Diese ganze Geschichte von der angeblichen Entführung war nichts als ein Schwindel.« 

Alistair überlief es erst heiß, dann kalt, während sich vor seinem inneren Auge ein Bild des Schreckens formte. Sein Ruf, den er sich hier mühsam wieder aufgebaut hatte, war dahin, man würde ihn als lächerliche Gestalt verunglimpfen, ihn verhöhnen … Schnell warf er einen Blick auf den einsamen Gast, der gerade einen lauten Schnarcher ausstieß. »Was wollt Ihr von mir, Major? Mich … erpressen?« 

Penrith lächelte schmal. »Aber nicht doch, McIntyre! Ich will Euch nichts Böses. Im Gegenteil, ich will Euch warnen. Und Euch meine Hilfe anbieten.« 

»Eure Hilfe, Sir?« Alistair verstand überhaupt nichts mehr. 

»Dann wisst Ihr nicht, dass die beiden sich schon wieder getroffen haben?« 

Alistair schluckte noch an seinem ersten Schrecken, als ihn dieser nächste Keulenschlag traf. »Wie bitte?« 

»Es ist immer gut, ein paar Spitzel zu haben. Euer Kollege, der gute Dr. Wentworth, scheint mir auf der falschen Seite zu stehen. Allem Anschein nach unterstützt er sogar diese lasterhafte Beziehung. Man hat mir berichtet, Mrs McIntyre und dieser O’Sullivan hätten sich vor wenigen Tagen bei ihm getroffen.« 

Alistair durchfuhr ein scharfer Stich der Eifersucht. Die Vorstellung, dass ein anderer Duncan berührte, schmerzte wie ein kranker Zahn. Gleich darauf brandete ohnmächtiger Hass in ihm auf. Wie konnten die beiden es wagen? Ein paar Sekunden lang brachte er kein Wort über die Lippen. Er umklammerte seinen Becher. »Ihr habt einen Spitzel auf O’Sullivan angesetzt?«, fragte er dann, wie vor den Kopf geschlagen. 

»Nicht auf ihn. Auf Eure Frau. Seit dieser Bastard wieder in Toongabbie ist. Ich wollte eigentlich dafür sorgen, dass man ihm so bald wie möglich noch einmal das Fell gerbt, aber jetzt ist mir eine bessere Idee gekommen. Der Mann muss verschwinden. Sobald er sich erneut mit Eurem Frauchen trifft«, der Major hob die Arme und legte auf ein imaginäres Ziel an, »Peng! Auf der Flucht erschossen.« 

»Nein!«, entfuhr es Alistair, bevor er sich zurückhalten konnte. 

»Nein?« Der Major ließ die Arme sinken und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »McIntyre, allmählich habe ich einen sehr unschönen Verdacht. Für meinen Geschmack hängt Ihr ein bisschen zu sehr an dem Kerl. Wie erklärt Ihr mir das?« 

Alistairs Handflächen wurden feucht. »Was?«, lachte er gequält auf. »Er … war mir ein guter Gehilfe, das ist alles«, brachte er mit verkrampftem Kiefer hervor. »Und jetzt, wo er fort ist, gehen auch meine Forschungen nicht mehr so gut voran. Schickt ihn … schickt ihn meinetwegen in ein anderes Straflager, das sollte reichen.« 

Genau, das wäre die Lösung! Ein anderes Straflager. Wo Duncan ihm aus den Augen und hoffentlich auch endlich aus dem Sinn wäre. Ihm, und natürlich auch Moira. 

»Wie wäre es mit Norfolk Island?«, schlug der Major vor. »Es soll bei den Sträflingen ziemlich gefürchtet sein, heißt es. Und ich könnte dort ein Auge auf diesen Bastard haben.« 

Die Teufelsinsel? Kaltes Blut mischte sich unter Alistairs heißen Zorn. Wieso eigentlich nicht? »Wie wollt Ihr das durchsetzen? Dorthin schickt man meines Wissens nur die unverbesserlichen Sträflinge.« 

»Das lasst nur meine Sorge sein, McIntyre. Es wäre doch gelacht, wenn sich da nichts finden würde.« Der Major griff nach seinem Bier. »Ich habe auch schon etwas ganz Bestimmtes im Sinn.« 

* 

»Wie oft wollen sie uns denn noch filzen?«, kam es leise von Samuel. Er stand neben Duncan, sein roter Scheitel berührte fast das strohgedeckte Hüttendach, durch das Wasser tropfte. Seit Duncans Rückkehr ins Straflager war der Hüne sein Bettnachbar. Niemand sonst wollte neben Samuel schlafen, und Duncan störte es nicht. 

Es regnete seit Tagen. Was zwar bedeutete, dass ihnen nicht von morgens bis abends die Sonne auf den Kopf brannte und sie der Durst plagte, aber die ständige Nässe war auch kaum besser. Alles stank nach klammen, verschwitzten Kleidern und Dreck. Seit einigen Tagen droschen sie in der neuerrichteten großen Dreschhütte Berge von goldenen Garben – der Weizen war zum Glück noch vor dem Regen geerntet worden. Es war eine schweißtreibende Arbeit; der aufgewirbelte Staub, die feuchte Hitze und die körperliche Anstrengung erschöpften auch die Stärksten. 

Vor wenigen Minuten hatte man sie zurückbeordert, um eine Durchsuchung durchzuführen. Alle siebzehn Sträflinge ihrer Hütte hatten sich hinter ihren Schlafplätzen aufstellen müssen. Wieder einmal. So etwas kam inzwischen fast jede Woche vor. Hauptsächlich suchte man nach versteckten Waffen; die Angst vor einem Aufstand der irischen Gefangenen war noch immer groß. 

Auch wenn es eine willkommene Unterbrechung der kräftezehrenden Arbeit war, hatte Duncan ein ungutes Gefühl. Vor allem deswegen, weil neben den Aufsehern und Lagerverwalter Sergeant Penrith heute auch dessen Bruder, der allseits gefürchtete Major Penrith, vor der Hütte wartete. Was tat der Mann hier? Duncan konnte sich nicht helfen – jedes Mal, wenn er den Major sah, gab es Ärger. Großen Ärger. 

Die Aufseher begannen, die spärlichen Habseligkeiten der Sträflinge zu durchwühlen und die Decken zurückzuschlagen. Ein paar Töpfe kamen zum Vorschein, Schüsseln, etwas Mehl. Wasserflaschen. Duncan runzelte die Stirn. Hatte er heute Morgen seine Decke genauso zurückgelassen? Irgendwie sah sie anders aus. Als läge etwas seitlich darunter. 

Seine Decke wurde zurückgeschlagen. Duncan stockte der Atem, als ein Teil eines männerfaustgroßen Beutels zum Vorschein kam. Die andere Hälfte lag unter Samuels Decke. 

Er starrte den braunen Stoffbeutel an, und eine eisige Hand schien seinen Rücken hinaufzukriechen. Was immer das war, er hatte nichts damit zu tun. Aber das würde man ihm nicht glauben. Auch Samuel keuchte erschrocken auf. 

»Major, Sir!«, rief Aufseher Farelly nach draußen. »Wir haben etwas gefunden!« 

»Das gehört mir nicht! Das hat mir jemand untergeschoben!«, fuhr Samuel auf. Duncan hielt seinen Arm fest und schüttelte leicht den Kopf. Es nützte niemandem, wenn der Hüne jetzt die Nerven verlor. 

Die Penrith-Brüder betraten die Hütte. Der Major rümpfte die Nase über den strengen Geruch, dann fiel sein Blick auf den Beutel. »Die beiden?«, fragte er mit einer Kopfbewegung hin zu Duncan und Samuel. 

»Ja, Sir. O’Sullivan und Fitzgerald.« 

Der Major sah Duncan an. »O’Sullivan. Schon wieder.« 

»Das ist nicht von mir«, brachte Duncan mit Nachdruck hervor. 

»Natürlich«, höhnte der Major. »Und wahrscheinlich hast du auch keine Ahnung, wie es dorthin kommen konnte.« Gelächter der Aufseher erscholl. »Schickt die anderen Bastarde raus. Nur die beiden bleiben.« 

Stumm sah Duncan zu, wie bis auf Samuel alle Sträflinge zum Ausgang strebten und eilig die Hütte verließen. 

»Öffnen!« 

Als Aufseher Farelly den Beutel in die Hand nahm, klang es metallisch. Duncan ahnte, was man darin finden würde. Vor Entsetzen zog sich alles in ihm zusammen. Im nächsten Moment griff Farelly in den Beutel und holte ein paar Münzen heraus. 

»Es ist Geld, Sir.« 

Der Major ergriff eine der Münzen und wog sie in der Hand. »Seht genauer hin, Mann! Das ist Falschgeld, geprägt aus minderwertigem Metall. Man erkennt es am geringeren Gewicht.« Er wies mit seiner Reitgerte auf Duncan. »Wie hast du das gemacht? Aus Löffeln? Gürtelschnallen? Und was hattest du damit vor? Wolltest du dir damit deine Flucht erkaufen? Aufseher bestechen?« 

Duncan biss die Zähne zusammen, damit er nichts Unüberlegtes sagte. Am liebsten wäre er auf den Major losgegangen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er sehr wohl hassen konnte. 

Der Major schlug sich den Griff der Reitgerte in die Handfläche. »Hast du mir nichts zu sagen?« 

»Ich war das nicht«, murmelte Duncan, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu verteidigen. Er schaute hinüber zu Sergeant Penrith, der ihm schon einmal freundlich gesonnen gewesen war. Aber der Sergeant blickte nur ernst und schüttelte den Kopf. 

»Das ist Betrug!«, schrie Samuel auf und wollte sich auf den Major stürzen. »Ich stopfe dir dein scheinheiliges Maul!« Die Hiebe dreier Schlagstöcke ließen ihn zu Boden gehen. 

Der Major, der zwei Schritte zurückgewichen war, winkte beiläufig mit der Reitgerte. »Nehmt sie fest. Alle beide.« 

* 

Regen strömte ohne Unterlass, der Wagen mit dem käfigähnlichen Aufsatz kam auf dem schlammigen Weg nur langsam voran. Duncan spürte geradezu körperlich, wie sich die Räder durch den Matsch quälten. Samuel saß ihm gegenüber, genau wie er mit schweren Ketten um Hände und Füße, schwankend mit den Bewegungen des Wagens. Der Hüne sagte kein Wort und starrte nur dumpf brütend vor sich hin. Seine roten Haare waren triefend nass, Regenwasser lief ihm über das Gesicht. Ein Fußmarsch wäre für alle leichter gewesen, aber offenbar wollte man sichergehen, dass sie keine Gelegenheit zur Flucht nutzen konnten. Das war schon auf dem Weg nach Parramatta so gewesen, und jetzt, beim Rückweg nach Toongabbie, verfuhr man genauso. 

Die Verhandlung war eine Farce gewesen, ihre Schuld hatte von vorneherein festgestanden. Als Zeugen waren Aufseher Farelly und die Brüder Penrith erschienen. Alle hatten den Fund des Falschgelds bestätigt. Auch der Doktor war geladen gewesen. McIntyre hatte Duncan nicht in die Augen sehen können, als er dem Richter bestätigte, er könne sich durchaus vorstellen, dass sein ehemaliger Gehilfe sich der Falschmünzerei schuldig gemacht habe. Schließlich habe er schon immer ein Händchen für Metall besessen. Ganz abgesehen davon, dass er vor kurzem seine Frau entführt habe. Mehr hatte es nicht gebraucht, um sie beide zu verurteilen. 

Duncan war klar, dass der Major seine Hand im Spiel hatte. Ob es Zufall gewesen war oder Absicht, den Beutel mit Falschgeld zum Teil bei Samuel zu platzieren, würde er wohl nie erfahren. Zumindest konnte man so auf einen Schlag zwei Unruhestifter loswerden. 

»Ich gehe nicht nach Norfolk!«, stieß Samuel jetzt hervor. 

Duncan hatte ihn noch nie so verzweifelt erlebt. Man hatte sie zwar nicht zum Tode verurteilt, wie es manchen Falschmünzern geschah, aber das Urteil war nicht weniger hart. Zweihundert Peitschenhiebe für jeden von ihnen, anschließend Verbannung nach Norfolk Island. Für den Rest ihres Lebens. Genau wie Samuel war Duncan jetzt ein Lebenslänglicher. 

Moira war nicht im Gericht gewesen. Ob sie überhaupt wusste, was mit ihm geschah? Eine dumpfe, nagende Furcht machte sich in seinen Eingeweiden breit. Oft schon hatte er von den Schikanen und Martern gehört, denen die Sträflinge auf der Teufelsinsel ausgesetzt waren. Und als wäre das nicht genug, würde demnächst auch noch der Major dort das Kommando übernehmen. Der Mann würde ihm das Leben zweifellos zur Hölle machen. 

»Jetzt gibt es nur noch einen Weg«, murmelte Samuel auf einmal, so leise, dass es in dem Geräusch des prasselnden Regens fast unterging. 

Duncan blickte auf. Jede Bewegung schien bleischwer zu sein, er war entsetzlich müde. »Welchen?« 

Samuel verzog das Gesicht zu einem grimmigen Grinsen. »Den allerletzten.« 

Duncan sah ihn schweigend an, dann schüttelte er den Kopf. Regen lief ihm in die Augen und in den Nacken. »Ich werde nicht mein ewiges Seelenheil aufgeben, indem ich mich umbringe.« 

»Das sollst du auch gar nicht. Es gibt eine andere Möglichkeit.« 

In Duncan keimte eine Ahnung. »Sprich weiter«, sagte er langsam. 

»Ich bringe dich um. Dann werden sie mich hängen.« 

Duncan schluckte schwer. Was Samuel vorschlug, war grausam, aber von bestechender Logik. Nur so konnten sie der Todsünde des Selbstmords, mit der sie ihre unsterblichen Seelen der ewigen Verdammnis aussetzten, entgehen. »Es ist dir wirklich ernst damit?« 

»Es ist mir noch nie so ernst gewesen.« 

Duncans Blick ging an dem gefesselten Hünen vorbei durch die Gitterstäbe in den Himmel. Ein bleigrauer Himmel mit tiefhängenden Wolken, aus denen endlos das Wasser strömte. »Denn siehe, ich will eine Sintflut kommen lassen auf Erden.« Noch nie waren ihm die unterschiedlichen Grautöne der Wolken so schön vorgekommen. Oder der regenschwere Busch rechts und links des Weges. Sein Blick kehrte zurück auf die Eisenketten um seine Hand- und Fußgelenke, auf die aufgeschürfte und entzündete Haut darunter. Diese Fesseln würde er wohl nie wieder loswerden. 

Sein Leben war vorbei. Er würde Moira nie wiedersehen. Sie nie wieder ansehen, sprechen, sie berühren oder küssen dürfen. Nie wieder ihren Duft einatmen können. Vor ihm lag eine endlose Zeit voller Schrecken, Hunger, Schmerzen und Demütigungen. Ein Leben, schlimmer als der Tod. 

Er sah Samuel an. Eine Faust schien sich um sein Herz zu legen. »Wie … würdest du es machen?« 

»Ich breche dir das Genick. Es wird ganz schnell gehen. Glaube ich.« Samuel blickte auf seine Hände, er schluckte. »Ich … ich habe noch nie einen Menschen getötet. Aber in diesem Fall würde ich es tun.« Seine Lippen waren vollkommen farblos. 

Duncan spürte, wie sich der Druck in seiner Brust löste. »Jetzt gleich?«, fragte er eigenartig ruhig. Es schien ihm, als säße ein anderer an seiner Stelle. 

Samuel nickte. Duncan glaubte, Tränen in den Augen des anderen zu sehen. »Ja«, flüsterte er. »Sonst gibt es keine Möglichkeit. In Toongabbie wird man uns trennen, und wir sind bald da.« 

Samuels Fesseln klirrten, als er schwerfällig neben ihn rutschte. Duncan konnte ihn riechen, den scharfen Geruch der Angst. Es gab jetzt nur noch sie beide, den Himmel und den Regen. Sein Herz schlug erstaunlich langsam, aber kraftvoll. Als wollte es sich ein letztes Mal von der eigenen Lebenskraft überzeugen. 

Samuel hob die gefesselten Hände. Sie zitterten ein wenig, die Kettenglieder schabten leise klirrend aneinander. »Ich bin bereit«, flüsterte er, kaum verständlich durch den rauschenden Regen. »Du auch?«