3. 

 

blumeDuncan O’Sullivan starrte auf das widerliche Gemisch in seinem Blechnapf. Grau, durchsetzt mit bräunlichen Fettaugen, dazwischen faserige Anteile. Getrocknete Erbsen, gekocht mit Weizen und Sauerkraut: die Standardverpflegung, die es an Bord jeden zweiten Tag gab. Aber es hätte auch ein gebratenes Hühnchen sein können – Duncan hätte beim besten Willen nichts heruntergebracht. In den drei Tagen, seit die Minerva von Cork aus in See gestochen war, hatte er sich noch nie so elend gefühlt. Ein dumpfer Druck saß in seiner Magengegend, und das einfache Leinenhemd, das er trug, seit man ihn vor zwei Wochen auf dieses Schiff gebracht hatte, war durchtränkt mit kaltem Schweiß. Aber er würde noch essen. Später. Er musste bei Kräften bleiben. Das hatten ihn die harten Jahre seiner Kindheit gelehrt. 

Vorsichtig schob er den Napf an das Fußende, strich sich eine dunkle Haarsträhne aus den Augen und legte sich zurück in die enge Koje, die für die nächsten Monate sein Zuhause darstellen würde. Die Pritschen erhoben sich Regalbrettern gleich bis hinauf zur Decke. Er lag auf der zweiten von unten. Die nächste befand sich kaum zwei Fuß über ihm, so dass er sich nicht einmal aufsetzen konnte. 

Draußen wütete die See. Er hörte die Wellen gegen den Schiffsrumpf klatschen, nur durch ein paar hölzerne Planken von ihm getrennt. In der abgestandenen Luft des Zwischendecks hing der Gestank nach Erbrochenem und anderen Ausscheidungen. Die Wandluken, durch die sie die Eimer mit ihrer Notdurft entleerten und die für Frischluft sorgen sollten, waren wegen des Seegangs geschlossen. Nur eine einzelne, mit den Schiffsbewegungen hin und her schwingende Laterne erhellte das stickige Halbdunkel der Sträflingsunterkünfte und warf zuckende Schattenrisse. Das Stöhnen und Seufzen der anderen Häftlinge klang überlaut in seinen Ohren. Von weiter hinten kam monotones Gemurmel; es hörte sich an, als zählte jemand. Über ihm schnarchte der Hüne Fitzgerald, verurteilt zu lebenslanger Deportation. Für Duncan war es unbegreiflich, wie der Mann bei diesem Seegang schlafen konnte – und wie er sich mit seinen Körpermaßen überhaupt in die schmale Koje hatte zwängen können. Schon für Duncan war die Pritsche zu kurz. 

Mehr als einhundertsechzig Sträflinge waren hier auf engstem Raum untergebracht, auf je fünf Pritschen übereinander, paarweise an einem schmalen Gang angeordnet, siebzehn Reihen lang. Viele von ihnen waren politische Gefangene, Rebellen, wie die englischen Herren sie nannten, verurteilt für ihre Beteiligung am Kampf um die Freiheit ihres Landes. Daneben gab es noch ein paar gewöhnliche Verbrecher – Schmuggler, Diebe, Fälscher, Bigamisten. 

»He, Dudley, halt endlich die Klappe, oder ich stopf dir das Maul!« 

Für einen Moment war Ruhe, dann ging das Zählen erneut los. Es zerrte auch an Duncans überreizten Nerven. Sollte das die ganze Überfahrt so weitergehen? 

Ein neuer Brecher rüttelte am Schiff. Duncan hielt sich an der hölzernen Umrandung seiner Pritsche fest und versuchte, die schlingernden Schiffsbewegungen abzufangen und seinen Napf mit dem Fuß vor dem Herunterfallen zu bewahren. Erneut brandete Übelkeit in ihm auf. Für einen Moment schloss er die Augen, riss sie aber gleich wieder auf und fuhr hoch, um nach dem Eimer zu greifen – und stieß mit schmerzhafter Wucht an das Brett über ihm. Er sank zurück und rieb sich die schmerzende Stirn. Wenigstens hatte ihn dieses Missgeschick von seiner Seekrankheit abgelenkt. 

Wütend blickte er auf das Brett über sich. Mit diesem Anblick würde er die nächsten Monate leben müssen. In der Holzmaserung glaubte er eine entfernte Ähnlichkeit mit dem teigigen Gesicht des Richters zu erkennen, der ihn in einem lächerlichen, nicht einmal zehn Minuten dauernden Prozess verurteilt hatte. Schuldig des Hochverrats. Darauf stand die Todesstrafe. Duncan hatte sich schon am Strick baumeln sehen, als man das Urteil wie das vieler anderer Rebellen in sieben Jahre Verbannung umgewandelt hatte. 

Sieben Jahre für einen Eid und ein paar Pikenspitzen. Zu lange für Nelly, um auf ihn zu warten. 

Die See beruhigte sich allmählich. Fitzgerald stieß ein lautes Schnaufen aus. Offenbar war er aufgewacht. Das Brett über Duncan knarrte bedenklich, als sich der Mann hochstemmte und aus seiner Koje wälzte. Im nächsten Moment tauchte sein pockennarbiges Gesicht, über dem sich wirres, dunkelrotes Haar auftürmte, neben Duncan auf. 

»He«, sagte der Hüne. »Gib mir dein Essen!« 

»Wieso sollte ich?« 

»Ich bin größer und schwerer als du. Ich habe das Recht auf eine größere Portion.« 

Zumindest mit seiner ersten Aussage hatte er zweifelsohne recht. Obwohl auch Duncan nicht gerade klein war, zählte Fitzgerald zu den größten Menschen, die er je gesehen hatte, sicher an die zweihundertsechzig Pfund schwer und von kräftigem Körperbau. Aus seiner Hemdöffnung wucherten rötliche, gelockte Haare, und die Nase hatte er sich sicher mehr als einmal gebrochen. Niemand, mit dem man sich gerne anlegte. 

»Lass es stehen!«, knurrte Duncan. »Ich esse es noch.« 

»Du kriegst es sowieso nicht runter.« Ohne ein weiteres Wort griff Fitzgerald über ihn hinweg, nahm den gefüllten Blechnapf und stapfte schwerfällig davon. 

Duncan seufzte. Ihm war noch immer übel, und er hatte nicht die geringste Lust auf eine Auseinandersetzung. Aber wenn er hier nicht von Anfang an einige Dinge klarstellte, würde es immer so weitergehen. Die Gesetze der Straße, die auch hier galten, kannten kein Mitleid mit den Schwachen. 

Und so zwang er die Übelkeit zurück, rollte sich zur Seite und schwang sich von seiner Pritsche. »Stell es wieder hin!« 

Einige der anderen Gefangenen steckten neugierig ihre Köpfe hinaus. Fitzgerald blieb im Mittelgang stehen. Er drehte sich um, stand breitbeinig da, um die Schiffsbewegungen abzufangen, und funkelte Duncan aus tiefliegenden Augen amüsiert an. 

»Und wenn nicht?« 

Er stieß ein erstauntes Grunzen aus, als Duncan direkt in ihn hineinlief. Der Blechnapf fiel aus seiner Hand, und die Erbsen mit Sauerkraut ergossen sich auf die Planken des Mittelgangs. 

»Du …!« Mit einem wütenden Schnauben stürzte sich der Riese auf Duncan, doch dieser war schneller. Geschickt tauchte er unter den zupackenden Armen hindurch und versetzte seinem Gegner einen Hieb. Gleich darauf erhielt er selbst einen Schlag in den Bauch, der so heftig war, dass er einige Schritte zurückstolperte und mit dem Rücken gegen eine Pritsche stieß. Dann, mit kurzer Verzögerung, breitete sich der Schmerz in seinem Körper aus. Duncan sank auf die Knie, in seinen Ohren dröhnte es. Er versuchte nach Luft zu schnappen, aber es ging nicht. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. 

Es schien endlos zu dauern, bis er wieder atmen konnte. Seine Eingeweide fühlten sich seltsam verknotet an. 

»Na«, fragte Fitzgerald spöttisch. »Genug gespielt?« 

Duncan richtete sich mühsam auf. 

»Noch lange nicht«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und rammte dem Hünen mit einer drehenden Bewegung seinen Ellbogen in die Seite. 

Jetzt waren die anderen Gefangenen nicht mehr zu halten. Überall erschienen sie, drängten sich trotz des schwankenden Bodens vor und hinter ihnen, um die willkommene Abwechslung zu genießen und die Kämpfer anzufeuern. 

Fitzgerald bleckte die Zähne und schlug zu, aber diesmal war Duncan darauf vorbereitet und konnte ihm ausweichen. Als Fitzgerald erneut vorstürmte, rutschte er auf dem Sauerkraut aus, taumelte und fing sich nur mit Mühe. Duncan konnte einige weitere Treffer landen, die an Fitzgerald allerdings abzugleiten schienen wie Öl auf einem Stein. Wenigstens gelang es Duncan, selbst nicht allzu viel einstecken zu müssen. Der Hüne war zwar stark wie ein Ochse, aber auch genauso schwerfällig. 

Duncan hörte kaum, wie sich das schwere Gitter, das die Sträflingsunterkünfte verschloss, öffnete. Dann riss man ihn unsanft zurück. Zwei Wärter, flankiert von drei bewaffneten Marinesoldaten, traten zwischen sie. 

»Was ist hier los?«, herrschte einer die beiden Kontrahenten an. 

Duncan blickte schwer atmend zu Fitzgerald auf. Er konnte nur verlieren. Und so schwieg er, auch wenn sich alles in ihm gegen die Ungerechtigkeit auflehnte, als sich schwere Ketten um seine Hand- und Fußgelenke schlossen. Es tröstete ihn nur wenig, dass der Hüne sein Schicksal teilte. Und jetzt hatte er sich auch noch einen Feind gemacht. 

* 

Das Sonnenlicht war so hell, dass Duncan für einige Sekunden geblendet war und fast nichts sah. Hinter ihm schoben und drängten weitere Gefangene. Jeder wollte nach oben, zum Licht, zur Weite und endlich hinaus aus dem stickigheißen Zwischendeck. 

Duncan genoss die frische Brise, die ihm um die Nase wehte, und ließ Luft in seine Lungen strömen. Wie ein Tier, das lange geschlafen hatte, spürte er seine Sinne, die unter Deck wie in dumpfer Umnachtung gelegen hatten, wieder erwachen. Seine Nasenflügel weiteten sich, als er die reine, würzige Meeresluft einsog. 

Heute war wieder Waschtag, wie die Sträflinge es nannten. Zwei Dutzend von ihnen drängten sich vor dem großen, mit Seewasser gefüllten Zuber, vor den ein Sichtschutz aus Segeltuch gespannt war, um den Passagieren nicht den Anblick der unbekleideten Gefangenen zuzumuten. Dort streifte sich bereits der Erste sein Hemd über den Kopf und schlüpfte aus seiner Hose. 

Jeder der Gefangenen hatte dieselbe Ausstattung erhalten: je zwei Hosen, Hemden und Röcke, je zwei Paar Strümpfe und Schuhe, einen Hut, eine Weste aus Flanell sowie Nähzeug und zwei Decken. In diesen Breiten trugen die meisten aber nicht mehr als ihre Hosen. Je weiter südlich sie fuhren, desto heißer wurde es im Zwischendeck. Manche Gefangenen hatten sogar ihre Decken über Bord geworfen, ohne zu bedenken, dass es wieder kälter werden würde. 

Duncan rieb sich die Handgelenke, wo die Spuren der schweren Kettenglieder kaum noch sichtbar waren. Die zwei Tage in Ketten waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. In diesem Moment tat ihm Fitzgerald fast leid, der als Konsequenz einer erneuten Prügelei bereits wieder im feuchten, dunklen Kettenkasten schmoren musste. Der Mann war anscheinend unbelehrbar. 

Anfangs hatten die meisten Gefangenen das Waschen, dem man sie bei gutem Wetter jeden zweiten Tag unterzog, nicht gutgeheißen, aber inzwischen konnten sie es kaum mehr erwarten, sich endlich den Schweiß und den Schmutz von der Haut spülen zu dürfen. Ein Wärter rasierte sie. Duncan fand, die Überfahrt hätte schlimmer sein können. Bisher hatte niemand die Neunschwänzige zu spüren bekommen, das Essen war reichlich, wenn auch ein wenig eintönig, und sofern das Wetter es zuließ, hatten sie fast jeden Tag Ausgang auf Deck. 

Die See war spiegelglatt, lag unter ihnen wie geschmolzenes Silber. Am Horizont konnte er noch die Masten der drei Schiffe erkennen, die sie bis hierher eskortiert hatten. Hinter ihnen lag Madeira, eine Insel vor der Küste Afrikas, wo die Minerva und die Friendship Proviant aufgenommen hatten. Ab hier würden die beiden Sträflingsschiffe alleine weiterfahren, wie er aus den Gesprächen der Mannschaft aufgeschnappt hatte. 

Duncan ließ sich von der Sonne bescheinen. Es war angenehm warm hier oben, ein Windhauch streichelte seine Haut. Viel besser als in der stickigen Enge des Zwischendecks, in das man sie gleich wieder treiben würde. 

Hinter ihm entstand ein Gedränge und Geschubse. Jeder wollte als Nächster an der Reihe sein. Der alte Mann vor ihm stolperte und wäre fast gefallen, doch er fing sich und wankte vorwärts. Der Greis, den man zu lebenslanger Verbannung verurteilt hatte, würde seine Heimat nie wiedersehen. 

Duncan nahm eine Bewegung am anderen Ende des Schiffes wahr, dort, wo ein hölzernes Gitter die Sträflinge von den anderen Reisenden trennte. Heute schien jedermann das gute Wetter und die ruhige See genießen zu wollen. Zwischen einigen Offizieren und den Matrosen, die sich die Zeit mit Tauspleißen und Segelflicken vertrieben, gingen ein paar Passagiere auf und ab. Duncan erkannte Joseph Holt, den Rebellengeneral, wie er überall genannt wurde. Obwohl rechtskräftig verurteilt, musste er nicht wie die anderen Sträflinge unter Deck ausharren, sondern war zahlender Passagier und hatte sogar seine Frau und seinen Sohn mitnehmen dürfen, wie Duncan von einem gut informierten Mithäftling erfahren hatte. Und dort hinten stand Dr. Price, der Schiffsarzt. Duncan mochte den jungen Mann, der sich nicht zu schade war, fast täglich nach den Gefangenen zu sehen und ihnen ihre Lage zu erleichtern, wo er nur konnte. 

Dr. Price machte eine weit ausholende Bewegung, als er dem neben ihm stehenden Passagier etwas erklärte. Duncan kniff gegen das Sonnenlicht die Augen zusammen und sah sich den Mann genauer an. Ja, auch dieser war schon einmal bei den Gefangenen unter Deck gewesen. Ebenfalls ein Arzt. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Färbung, und der rotbraune Backenbart ließ seine Züge mürrisch erscheinen. Die junge Frau an seiner Seite musste seine Tochter sein. Duncan sah sie nur von hinten, eine schlanke Gestalt in einem hellen Kleid. Unter ihrem Hut, dessen breite Krempe ihr Gesicht wie eine steife Haube umgab, wehten schwarze, halblange Haare. Etwas an ihrer Haltung drückte Traurigkeit aus. Nein, nicht direkt Traurigkeit. Eher Wut? 

Was die beiden wohl nach Neuholland trieb? Er musste an Vater Mahoney denken, den Mann, der ihn aufgezogen hatte. Zum Glück hatte der alte Pfarrer nicht mehr miterleben müssen, wie man seinen Ziehsohn in eine Strafkolonie am Ende der Welt verbannt hatte. Es hätte ihm das Herz gebrochen. 

Als die junge Frau sich über die Reling beugte, drehte sich ihr Vater um und sagte etwas zu ihr. Duncan spitzte die Ohren, aber er stand zu weit entfernt, um es verstehen zu können. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab, und für einen Augenblick glaubte Duncan, einen Ausdruck von Abscheu in ihrem Gesicht zu sehen. 

»Was für ein Leckerbissen!« Der Häftling hinter ihm schnalzte mit der Zunge. »Die käme mir jetzt gerade recht vor die Klinge.« 

»Du bist und bleibst ein Schwein, Franklin!« 

Die junge Frau bekam von diesen Anzüglichkeiten nichts mit. Duncan sah, dass sie erneut den Kopf schüttelte, diesmal heftiger. Bei dieser Bewegung löste sich ihr Hut und flog, von einer Bö erfasst, über das Deck. Duncan zuckte zusammen, als er in einer unbewussten Reaktion loslaufen und den Hut einfangen wollte. Nicht nur, dass er zu weit weg stand, es war auch schlichtweg undenkbar, dass Gefangene und Passagiere in dieser Weise Kontakt hatten. 

Es war Dr. Price, der den Hut aufhob und ihr mit einer Verbeugung reichte, was sie mit einem schwachen Lächeln quittierte. Ihr Blick glitt über die Reihen von Gefangenen, die vor dem Waschzuber anstanden, und streifte auch Duncan. Sie sah ihn und sah ihn doch nicht, dann ging ihr Blick über ihn hinweg. 

»Steh nicht da und glotz!«, herrschte ihn der Wärter an. »Los, vortreten!« 

Er gehorchte nur widerstrebend. Als er nach einigen Minuten gebadet und angezogen wieder hinter dem Sichtschutz hervortreten durfte, sah er gerade noch, wie die junge Frau mit ihrem Vater unter Deck verschwand. 

* 

Der marmorne Stößel schabte mit knirschenden Geräuschen über den Boden des Mörsers, als Moira die letzten geschälten Mandeln zusammen mit dem Zucker zerrieb. Sie mussten ganz fein zermahlen werden, hatte Dr. Price gesagt. Als Moira ihr Werk schließlich für gut befand, füllte sie das Mandel-Zucker-Gemisch in ein Gefäß und gab langsam Wasser dazu, das sie für ein paar Minuten in die Sonne gestellt hatte. Jetzt war es handwarm – gerade die richtige Temperatur. Sie füllte die hellbraune Flüssigkeit bis auf einen halben Pint auf und rührte vorsichtig um. 

Es war angenehm warm, nicht mehr ganz so heiß wie in den zurückliegenden Wochen. Zu Hause würden in diesen Tagen graue Nebelschwaden durch die Straßen kriechen und die Menschen froh sein, sich in ihre Häuser zurückziehen zu können. Sie dagegen konnte hier an Deck unter einem Sonnensegel sitzen und zusehen, wie die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzerte und das Schiff unter ihr dahinzufliegen schien. 

Dennoch vermisste sie den Nebel, die feuchte Kühle eines Herbstmorgens, die Ritte auf Dorchas durch das üppige Grün der Heimat. Der endlose Horizont machte ihr zuweilen Angst. An manchen Tagen wünschte sie sich regelrecht einen Sturm herbei. Dann stellte sie sich vor, an Deck zu stehen und den Wind und die brausende Gischt um sich zu spüren. 

Die Tage vergingen in einer solchen Gleichförmigkeit, dass sie manchmal hätte schreien mögen vor Heimweh und Langeweile. Der dreiwöchige Aufenthalt in Rio de Janeiro lag nun schon wieder einige Tage hinter ihnen. Knapp zwei Monate hatten sie für die Reise dorthin gebraucht, und es würde noch einmal so lange dauern, bis sie endlich Neuholland erreicht haben würden. 

Dabei kamen sie gut voran, sogar besser als erwartet, wie Captain Salkeld ihr erst gestern gesagt hatte. Auf einem großen Globus hatte der Captain ihr gezeigt, welche Route sie segelten: Mit den Passatwinden bis nach Südamerika, dann erneut über den Atlantik, am südlichen Zipfel Afrikas vorbei und durch den indischen Ozean. 

Mit den anderen weiblichen Passagieren an Bord, den Ehefrauen der Soldaten des New South Wales Corps oder den zukünftigen Siedlerfrauen, wurde sie nicht richtig warm. Einzig mit Mrs Bolton, der Frau des Schiffszimmermanns, hatte sie sich angefreundet. Moira bewunderte die junge Frau, die sich als blinder Passagier auf das Schiff geschlichen hatte, um ihrem frisch angetrauten Ehemann zu folgen. Aber seit man ihre Anwesenheit entdeckt hatte, war Mrs Bolton meist bei ihrem Mann, so dass Moira wieder nur die eigene Gesellschaft blieb. Und die anderen Frauen sahen ihr größtes Glück darin, ihren Männern einen Haufen Kinder zu schenken. Fast alle ihrer Gesprächsthemen drehten sich nur darum. Und natürlich fragten sie auch bei Moira immer wieder nach, ob sie guter Hoffnung sei. 

An den mangelnden Bemühungen ihres Ehemanns lag es jedenfalls nicht, dass Moira noch immer kein Kind erwartete. Sie hatte schnell gelernt, dass es besser war, sich zu fügen. Wenigstens war es nicht mehr so schmerzhaft wie beim ersten Mal. Wenn sie die Zeit und die Möglichkeit dazu fand, rieb Moira sich kurz vor McIntyres nächtlichen Besuchen mit Speiseöl ein, was die Sache zumindest erträglich machte. Dennoch empfand sie nicht das geringste Vergnügen dabei. Sie hatte auch nicht den Eindruck, als würde es ihrem Ehemann gefallen, und doch kam er bis auf die Zeit, in der sie unpässlich war, jede zweite Nacht zu ihr und erfüllte grimmig wie ein Heerführer in der Schlacht seine Pflicht. 

Oft fragte sie sich, wie es Victoria, seine erste Frau, mit ihm ausgehalten hatte. Moira wusste kaum etwas über sie, obwohl sie ihren Ehemann schon mehrmals darauf angesprochen hatte. Doch mehr als ihren Namen und dass sie im vergangenen Herbst gestorben war, hatte sie nicht erfahren. 

So vergingen die Nächte. Die Tage waren nur wenig erfreulicher. Um sich die endlosen Stunden zu vertreiben, ging sie an Deck spazieren, schrieb seitenlange Briefe voller Belanglosigkeiten, die sie vermutlich nie abschicken würde, an Ivy und Mr Currans Tochter Sarah, oder sie las. Die wenigen Bücher, die sie hatte mitnehmen können, kannte sie mittlerweile fast auswendig. Reverend Fulton riet ihr zum Bibelstudium, und von Mrs Cox, der Frau des Zahlmeisters, hatte sie sich einige erbauliche Romane ausgeliehen, aber all das füllte sie nicht aus. 

Moira strich sich eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr und begann, die trübe Flüssigkeit durch ein feines Baumwolltuch in einen Becher abzuseihen. Wie viel besser war es doch, etwas Sinnvolles zu tun, und sei es auch nur so etwas Einfaches wie das Herstellen von Mandelmilch. Die Kuh, die Zahlmeister Cox aus Rio de Janeiro an Bord gebracht hatte, hatte schon kurz nach dem Aufbruch keine Milch mehr gegeben, so dass sie erneut auf das erprobte Rezept zurückgreifen mussten. Es gab genug Passagiere an Bord, die nicht auf ihre Milch im Tee verzichten wollten, und nachdem Moira einmal Dr. Price zugesehen hatte, wie er mit einfachsten Mitteln einen vortrefflichen Milchersatz zubereitete, hatte sie sich bereit erklärt, sich auch einmal an der Herstellung zu versuchen. 

Während sich das Gefäß mit der milchigen Flüssigkeit füllte, schaute Moira hinüber zu der Gruppe von Frauen, die sich gerade hinter der Absperrung die Beine vertraten. Dass es auch weibliche Sträflinge an Bord der Minerva gab, war Moira anfangs nicht klar gewesen. Wie ihr Dr. Price erzählt hatte, der über alle Vorkommnisse auf dieser Reise gewissenhaft Tagebuch führte, waren die gut zwei Dutzend Frauen ebenfalls auf dem Zwischendeck untergebracht, nur durch eine Bretterwand getrennt von den männlichen Gefangenen. 

Es gab zahlreiche Vergehen, die dazu führen konnten, dass man in die Strafkolonien geschickt wurde. Die meisten dieser Frauen waren Prostituierte oder Taschendiebinnen. Moira hatte schon versucht, mit ihnen zu reden, war aber stets an den Wachhabenden gescheitert. Es durfte keinen Umgang zwischen Passagieren und Sträflingen geben. 

Um Übergriffen vorzubeugen – und wohl auch, um eine für beide Seiten angenehme Regelung zu schaffen –, hatte Captain Salkeld zugestimmt, diese Frauen für die Dauer der Reise mit ledigen Seemännern oder Soldaten zu verheiraten. Nur für zehn von ihnen hatte sich kein passender Kurzzeitehemann gefunden. 

Eine junge Frau, fast noch ein Kind, hatte sich von den anderen abgesondert. Während die anderen lärmend und lachend an Deck standen und dem wachhabenden Soldaten derbe Scherze zuriefen, drückte sie sich an die Reling und behielt den Mann ängstlich im Blick. Sie musste in Ivys Alter sein, aber wo Ivy strahlende Haut und glänzendes Blondhaar aufwies, war dieses Mädchen blass und unterernährt, und ihr strähniges Haar hatte die Farbe von stumpfem Braun. 

Moira überlegte nicht lange. Kurzentschlossen rief sie einen der Schiffsjungen zu sich und bat ihn, in die Kombüse zu gehen und sich vom Schiffskoch so viel wie möglich von dem Obst geben zu lassen, das sie aus Rio de Janeiro mitgenommen hatten. Die süßen Früchte schmeckten herrlich, verdarben in dem warmen Klima aber leider nur allzu schnell. 

Der Junge kehrte bald wieder, beladen mit einem Korb, in dem sich Orangen, Guaven und Bananen stapelten. Moira nahm ihn und ging damit bis an die hölzerne Absperrung. Sofort trat ihr der wachhabende Soldat entgegen – Hauptgefreiter Hobbs, wie Moira einfiel. Jetzt erinnerte sie sich wieder: Kurz vor der Abreise hatten er und seine mitreisende Frau ihren kleinen Sohn durch ein Fieber verloren. 

»Madam, bitte. Ihr kennt die Regeln. Kein Kontakt zu den Gefangenen.« 

»Die Regeln?« Moira spürte ihr Herz schneller schlagen vor Aufregung. Sie log nicht gerne. Aber diesmal, entschied sie, rechtfertigte der Zweck dieses Mittel. Und so richtete sie sich auf und legte ihre ganze Autorität in ihre Stimme. »Nun, dann wisst Ihr sicher von der neuen Anweisung des Captains, dass die Frauen mit frischem Obst zu verköstigen sind.« 

»Eine neue Anweisung?« Hobbs verzog spöttisch das Gesicht, sein vorstehender Adamsapfel hüpfte. »Wieso habe ich dann noch nichts davon gehört?« 

Moira spielte die Erstaunte. »Das frage ich mich allerdings auch, Hauptgefreiter Hobbs. Ich glaube nicht, dass der Captain erfreut wäre, von der Missachtung seiner Befehle zu erfahren.« 

»Ist ja gut, ist ja gut«, brummte Hobbs verunsichert. »Dann gebt es in drei Teufels Namen her.« Er schulterte sein Gewehr, nahm den Korb entgegen und murmelte etwas, dem Moira »Perlen vor die Säue geschmissen« entnehmen konnte. Dann drehte er sich zu den Frauen um. »He, ihr Metzen! Die Lady hier ist so großzügig und schenkt euch was.« 

Sofort erhob sich großes Geschrei, und Moira sah zu, wie die Frauen sich um die Früchte stritten und das Deck bald übersät war mit Obstschalen. 

Das Mädchen, das Moira vorhin aufgefallen war, stand weiterhin abseits. Es tat Moira leid, denn jedes Mal, wenn es nach einem Stück Obst greifen wollte, hatte es schon jemand anderes an sich gerissen. 

Moira fand eine einzelne Orange in ihrer Rocktasche, die sie eigentlich für sich selbst aufgehoben hatte. Mit der Frucht in der Hand ließ sie sich am Gitter nieder. Ihr Blick suchte den des Mädchens, dann steckte sie die Orange durch das Gitter und gab ihr einen leichten Stoß. Sie rollte, von den anderen unbeachtet, einige Meter über Deck in Richtung Reling, wo sich das Mädchen rasch bückte und sie aufhob. Dann blickte sie Moira an, und ein scheues Lächeln erschien auf dem farblosen Gesicht. Moira lächelte zurück und schenkte dem Mädchen ein verschwörerisches Augenzwinkern. 

Sie hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. 

* 

»Die gebratenen Yamswurzeln waren wirklich ganz ausgezeichnet.« Dr. Price wischte sich den Mund an einer Serviette ab und nickte seinem Gegenüber zu. »Findet Ihr nicht auch, Dr. McIntyre? Ich habe selten etwas so Schmackhaftes gegessen.« 

McIntyre nickte steif und schob seinen nur halb geleerten Teller zurück. »Ich ziehe Kartoffeln vor. Und ein gutes Stück Fleisch.« Er nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. Alle anderen tranken Punsch. Moira hatte sich schnell an das süffige Getränk aus stark verdünntem Rum, Zitronen und Gewürzen gewöhnt, das jeden Samstag serviert wurde. 

Die Kerzenflammen warfen ein flackerndes Licht auf die Tischgesellschaft, die sich an diesem Abend in der Offiziersmesse eingefunden hatte. 

»Habt Ihr schon die Geschichte von Holt, Fulton und den Chilischoten gehört?«, fragte Sergeant Cotton in die Runde. 

Als Moira sich ihm zuwandte, fiel ihr Blick auf McIntyres entblößten Hinterkopf. Seit ihm bei stürmischem Wetter die Perücke über Bord geweht worden war, musste er notgedrungen auf dieses Relikt einer vergangenen Epoche verzichten. Seine Haare waren leicht gelockt und von rötlich brauner Farbe, etwas dunkler als sein Backenbart, und mit einzelnen grauen Haaren durchzogen. Von seinem Hinterkopf starrte sie ein leicht fettiger Wirbel an, unter dem sich die Kopfhaut abzeichnete. Moira schluckte angewidert und versuchte, nicht mehr hinzusehen, doch ihr Blick kehrte immer wieder zu diesem Wirbel zurück. Sie musste sich zwingen, Sergeant Cottons Ausführungen zuzuhören, der gerade zum Besten gab, wie sie vor der Küste Brasiliens auf einen portugiesischen Schoner getroffen waren. Eine der Chilischoten, die sie von den Portugiesen erhalten hatten, hatte Cotton dem Rebellengeneral Joseph Holt zum Probieren gegeben. 

»Der arme Kerl ist über das Deck gehüpft, als hätten sich hinter ihm die Pforten der Hölle aufgetan«, feixte Cotton und nahm sich noch etwas von dem Schildkrötenragout. »Woraufhin Holt, nachdem er sich wieder erholt hatte, das feurige Vergnügen sogleich an Reverend Fulton weitergab.« 

Unter großem Gelächter der anwesenden Seeleute und Soldaten war der dermaßen Geschädigte herumgerannt und hatte sich bitterlich über diese Unbill beschwert. Holt hatte sich daraufhin erboten, einen Priester zu holen, der dem Reverend die Beichte abnehmen könne. 

»Ihr hättet den Reverend sehen sollen«, kicherte Cotton. »Als säße ein Teufelchen in seinem Allerwertesten!« 

»Sergeant, es sind Damen anwesend!«, rügte ihn Captain Salkeld. 

Cotton verschluckte sich fast an seinem Lachen und deutete eine Verneigung in Moiras und Mrs Cox’ Richtung an. 

»Verzeiht mir, meine Damen. Euer Diener.« 

Mrs Cox, eine füllige, stille Frau, senkte huldvoll ihren Kopf. 

»Apropos Damen«, wandte Moira sich an den Zahlmeister des New South Wales Corps. »Ich habe heute die weiblichen Gefangenen an Deck gesehen. Was erwartet diese Frauen in den Kolonien, Zahlmeister Cox?« 

Alle Blicke wandten sich ihr zu, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt. 

»Nun«, erwiderte Cox mit einem Achselzucken, »wenn sie Glück haben, kommen sie zu einem Dienstherren, der sie im Haus beschäftigt, oder sie finden unter den freigelassenen Sträflingen einen Ehemann. Andernfalls müssen sie wie die Männer körperliche Arbeit verrichten oder in den Hütten der Gefangenen Dienst tun. Die meisten werden wohl als Prostituierte enden – so, wie sie auch angefangen haben.« 

Moira starrte ihn an. »Aber das ist ja entsetzlich!« 

»Liebe Mrs McIntyre, dieses Los haben sie sich selbst zuzuschreiben. Diese Frauen haben ihr Schicksal verdient. Schließlich handelt es sich bei ihnen um rechtskräftig verurteilte Verbrecherinnen.« 

Das Gespräch wandte sich wieder anderen Themen zu, die Teller wurden abgeräumt und durch neue ersetzt, dann wurden zwei Platten mit aufgeschnittener Wassermelone serviert. Moira schwieg und dachte nach. Hausangestellte. Nun, in Neuholland würden sie eine Magd brauchen … 

»Und Ihr, Dr. McIntyre«, hörte sie dann Captain Salkeld sagen. »Was führt Euch in die Kolonien?« 

Moira bemerkte das Zögern, mit dem McIntyre auf diese Frage reagierte. Er setzte sein Glas ab und räusperte sich umständlich. »Ein Freund«, sagte er dann und strich sich über den Backenbart. »Dr. Jamison. Wir haben zusammen in Irland studiert. Er braucht Unterstützung und hat mir angeboten, im Lazarett von Parramatta oder in Toongabbie zu praktizieren. Es gibt noch immer viel zu wenige Ärzte in Neusüdwales. Möglicherweise wird man mich aber auch an einen anderen Ort schicken. Ich muss mich den Befehlen beugen.« 

Die Männer nickten wissend. Wie die anderen Anwesenden unterstand McIntyre jetzt der britischen Militärregierung in Neusüdwales; kurz vor der Abreise war er daher zum Gefreiten ernannt worden. 

»Dr. McIntyre«, wiederholte Harrison, der erste Offizier, nachdenklich und trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. »Irgendwo habe ich diesen Namen schon einmal gehört. Oder gelesen. Habt Ihr einen Sohn? Oder einen weiteren Verwandten dieses Namens?« 

»Bedaure«, verneinte McIntyre. »Aber so selten ist dieser Name nicht.« 

Harrison schüttelte den Kopf. »Es liegt mir auf der Zunge. Wie ist Euer Vorname, Dr. McIntyre?« 

»Alistair«, erwiderte dieser und lockerte seine Halsbinde. 

»Aus Cork, sagt Ihr?« 

»So ist es, Mr Harrison. Studiert habe ich allerdings in Dublin. Im Trinity College. Dort ist –« 

»In der Zeitung!« Harrison schlug sich vor die Stirn. 

»Wie bitte?« 

»Ich habe Euren Namen in der Zeitung gelesen! In der New Cork Evening Post 

»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, gab McIntyre steif zurück. 

»Aber natürlich wisst Ihr das! Ich war letztes Jahr für fünf Monate in Castlelyons bei Cork mit meinem Regiment stationiert, um gegen die Aufständischen vorzugehen. Jetzt fällt es mir wieder ein!« Alle hatten aufgehört zu essen und blickten nun gespannt in Harrisons Richtung. »Wartet … es ging um den Tod Eurer Frau … Eurer ersten Frau natürlich, war es nicht so?« 

Moira verschluckte sich fast an ihrem Stück Wassermelone, ihr wurde heiß und kalt zugleich. »Mr Harrison, würdet Ihr die Güte haben, mich –« 

»Es war ein Unglücksfall«, unterbrach McIntyre sie rasch. Moira konnte sehen, wie sich feine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Ein Zucken ging über sein Gesicht. »Ein bedauerlicher Fehler. Sie … Victoria hat etwas verwechselt.« 

»Ein Fehler, der Eure Frau das Leben kostete, war es nicht so?«, bohrte Harrison nach. »Wenn ich mich recht erinnere, wurdet Ihr der Fahrlässigkeit beschuldigt. Wartet – jetzt weiß ich es wieder. Eure Frau hatte versehentlich Gift genommen. Und an dieses Gift hätte sie nicht gelangen können, wenn Ihr vorsichtiger gewesen wärt.« 

Moira fühlte sich, als würde ihr eine kalte Hand über den Rücken streichen. 

Captain Salkeld beugte sich vor. »Dr. McIntyre, möchtet Ihr Euch dazu äußern?« 

McIntyre saß mit zusammengebissenen Kiefern da. »Ich würde es vorziehen, nicht darüber zu reden.« 

Ein mitfühlendes Kopfnicken von Mrs Cox war die Folge. »Ihr Ärmster, das verstehen wir natürlich. Das Ganze muss sehr schmerzlich für Euch gewesen sein. Ich hoffe für Euch, dass Ihr diese ganze traurige Angelegenheit schnell vergessen könnt. Erfreulicherweise habt Ihr ja schon ein neues Glück gefunden.« Sie nickte Moira lächelnd zu. 

»Wie überaus freundlich von Euch, Mrs Cox.« McIntyre war sichtlich erleichtert. »Was mich daran erinnert, dass es nun Zeit für Mrs McIntyre wird, sich zurückzuziehen.« 

Moira sah ihn konsterniert an. Ich denke ja nicht daran, wollte sie im ersten Moment sagen. Dann schluckte sie den Satz hinunter, denn plötzlich hatte sie es eilig, dieser Gesellschaft zu entkommen. Oder vielmehr McIntyre zu entkommen. 

Allein in ihrer Kabine stand Moira eine Weile wie erstarrt da. Victoria habe versehentlich Gift genommen, hatte Harrison gesagt. War es wirklich so gewesen? Als Arzt konnte McIntyre ohne große Probleme über die entsprechenden Mittel verfügen … 

Sie musste unbedingt mehr darüber erfahren. 

Mit zitternden Fingern entzündete sie eine Kerze und kniete sich in eine Ecke des Raums. Eine der dort gelagerten Truhen enthielt Moiras Mitgift und ihren weiteren Besitz, die andere McIntyres Habe. Die dritte, kleinere Truhe mit dem kupferbeschlagenen Deckel gehörte ihm ebenfalls. Er hütete sie wie seinen Augapfel und ließ niemanden daran; auch jetzt war sie mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. 

Moira stellte die Kerze auf ihre Truhe und lauschte nervös auf Schritte vor der Tür. Wie viel Zeit blieb ihr? Sie begann, an dem Schloss zu rütteln und zu kratzen. Doch ihre Fingernägel waren zu kurz, um etwas auszurichten, und sie holte sich dabei nur wunde Fingerkuppen. Schließlich suchte sie ihre stärkste Hutnadel heraus und stocherte in dem Schloss herum. Es konnte doch nicht so schwer sein, dieses vermaledeite Ding aufzubekommen … Doch das Schloss widersetzte sich hartnäckig ihren Bemühungen, sosehr sie die Nadel auch bog und drehte. 

Und wenn sie mit etwas gegen das Schloss schlug und die Truhe aufbrach? Dann wäre es natürlich nicht mehr zu verheimlichen, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Andererseits musste sie unbedingt … 

Sie schreckte auf, als sie schwere Schritte vor der Tür hörte. Rasch sprang sie auf und ließ die Hutnadel hinter ihrem Rücken verschwinden. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. 

McIntyre kam herein und schloss die Tür der Kabine hinter sich. 

»Wieso bist du noch nicht im Bett?«, fragte er unwirsch. 

Moira schluckte. In ihrer Hand spürte sie als tröstliche Sicherheit die Hutnadel. Stoßbereit. 

»War Victorias Tod wirklich ein Unfall?«, fragte sie unverblümt, obwohl ihr Herz raste, als wollte es im nächsten Moment aus ihrer Brust springen. 

McIntyre sah sie aus schweren Lidern an, als müsse er sich erst wieder erinnern, wer sie war. »Nein«, murmelte er dann. »Nein, das war es nicht.« 

Moira erstarrte. »Habt Ihr sie … getötet?« Sie wollte es nicht sagen, aber die Worte drängten sich ihr auf die Lippen, bevor sie sie zurückhalten konnte. 

»Ob ich was?«, schreckte McIntyre aus seiner Lethargie auf. »Nein, wie kommst du darauf?« Er legte seinen schwarzen Rock ab und ließ sich auf das Bett sinken, mit dem ihre kleine Kabine zur Hälfte ausgefüllt war. 

»Ich habe sie gefunden.« Er starrte auf seine Hände. »Es war kein Unfall. Sie wusste, was sie tat. Sie hat … sie hat sich umgebracht.« 

Jetzt verstand Moira, weshalb er so oft zögerte, wenn sie mit ihm über seine erste Frau reden wollte. Ein Selbstmord war eine Schande, ein gesellschaftlicher Makel, über den man nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Zum ersten Mal glomm ein winziger Funken von Mitgefühl für ihren Mann auf. 

»Das tut mir leid«, flüsterte sie. 

McIntyre erhob sich abrupt und schlug das Bettzeug zurück. »Genug geredet. Es ist spät.« 

Moira wusste, was jetzt folgen würde. Und sie wusste ebenfalls, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Das Öl würde sie heute wohl nicht anwenden können. Doch während sie sich für eine erneute unerfreuliche Verrichtung bereitmachte, nahm eine Frage Gestalt in ihr an: Wieso? Wieso hatte Victoria sich umgebracht?