20. 

 

blumeDer Pferderücken schaukelte bei jeder Bewegung. Nach rechts. Nach links. Und wieder nach rechts. Alistair hasste das Reiten. Es verwandelte ihn in ein hilfloses Wesen, dem Tier unter sich wehrlos ausgeliefert. Wenigstens hatte der verheerende Regen endlich nachgelassen, aber der Weg war schlammig und mit Pfützen übersät, ein schnelleres Vorankommen kaum möglich. Vor ihm ritt Major Penrith, schneidig anzusehen in seiner roten Uniform mit den goldenen Litzen, dann folgte Alistair und dahinter zwei Soldaten. 

Der Tag verlief gänzlich anders als vorgesehen. Weder fand die erneute Auspeitschung von Duncan und diesem anderen Sträfling statt, noch hatte man die beiden nach Norfolk Island geschafft. Stattdessen war Moira weggelaufen, und in Toongabbie war die Hölle losgebrochen. Die vielen Sträflinge, die plötzlich frei und ohne Ketten Läden und Häuser plünderten und die Einrichtungen verwüsteten, hatten ihn zutiefst erschreckt. Zum ersten Mal hatte Alistair um sein Leben gefürchtet. 

Er hatte gerade versucht, seine Sachen vor dem steigenden Wasser in Sicherheit zu bringen, als er sich plötzlich mitten in seiner Schlafkammer mehreren zerlumpten Sträflingen gegenübergesehen hatte. Einer von ihnen hielt eine Axt in den Händen. Alistair wich zurück bis zur Wand und stand dann da wie gelähmt, nicht fähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Als die Sträflinge begannen, seine Schränke zu durchwühlen, packte ihn die blanke Angst. Dann hallte ein Schuss durch die Luft, und ein Sträfling brach zusammen. Er fiel mit dem Gesicht nach unten in das trübe Wasser, zuckte einmal und blieb dann bewegungslos liegen. Die anderen rannten in Panik davon. In der Tür stand Major Penrith, Wasser umspülte seine blankgeputzten Stiefel. 

Noch nie war Alistair so froh gewesen, den Major zu sehen. Er hätte sich denken können, dass Penrith in Toongabbie weilte, schließlich wollte er es sich sicher nicht nehmen lassen, Duncans erneuter Bestrafung und anschließender Verbannung beizuwohnen. 

»Schon gut, McIntyre«, erwiderte der Major gönnerhaft, als Alistair sich stammelnd bedankte, und lud seine Pistole neu. »Ich war sowieso auf dem Weg zu Euch. Und jetzt schnappt Euch ein Pferd, wir reiten nach Parramatta. Möglicherweise werdet Ihr gebraucht.« 

»Nach Parramatta?«, hatte Alistair schwach gefragt. »Wieso?« 

»Weil die Rebellen unterwegs zum Gouverneur sind, wie ich hörte. Aber diese Faxen werden wir ihnen gründlich austreiben!« 

Und hier saß er nun, hin und her geworfen auf einem schwankenden Pferderücken, und umklammerte krampfhaft seine Arzttasche. Gemeinsam mit den Soldaten befand er sich auf dem Weg zur Kaserne von Parramatta, um militärische Verstärkung zu holen. Es könne Verwundete geben, hatte der Major gesagt. Vielleicht auch Tote. Alistairs Magen war ein einziger Knoten. Er war kein Held. Er hatte Angst. Warum konnte man ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Und was würde bloß aus seinen Sachen werden, wenn das Wasser weiter stieg? 

War Duncan auch bei den Aufrührern? Würde er – 

»Wo ist eigentlich Eure Frau?« Der Major lenkte sein Pferd neben Alistairs. 

»Ebenfalls in Parramatta, Sir«, würgte Alistair hervor. An Moira hatte er in der vergangenen Stunde überhaupt nicht mehr gedacht. 

»Sieh einer an.« Der Major hob eine Augenbraue. »Was tut sie dort? Macht sie etwa gemeinsame Sache mit dem Abschaum?« 

Zuzutrauen wäre es ihr, ging es Alistair durch den Kopf. Der Hass, der an diesem Morgen in ihren Augen aufgeblitzt war, als er ihr von Duncans Verbannung erzählt hatte, hatte ihm richtiggehend Angst gemacht. »Sie wollte beim Gouverneur vorsprechen.« 

Der Major blickte ihn einen Augenblick lang forschend an. »Für ein Gnadengesuch, nehme ich an?« 

Alistair hätte diese Frage am liebsten übergangen, aber das konnte er sich nicht erlauben. Also nickte er nur zögernd. Sein Blick ging über das Dickicht neben dem Weg hin zum Fluss. Der Toongabbie Creek war zu einem reißenden Strom geworden, Büsche, abgerissene Äste, Stühle und sogar Tische trieben im Wasser. Und eine Truhe, auf deren Deckel selbst vom Ufer aus ein Kupferbeschlag zu erkennen war. Ein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Das war seine Truhe! Seine Truhe mit all seinen Forschungsunterlagen! 

Das Herz wollte ihm schier stehenbleiben. Er trieb sein Pferd vor das des Majors. »Major, Sir, bitte wartet!« 

Der Major brachte sein Pferd zum Stehen. »Was erlaubt Ihr Euch, McIntyre? Geht sofort aus dem Weg!« 

»Bitte, Major, seht doch, dort – meine Truhe, meine Forschungen!« Entsetzt deutete er auf den Fluss. »Ich … wir müssen sie retten!« 

»Seid Ihr von Sinnen? Für solche Mätzchen haben wir keine Zeit!« 

»Bitte, Sir. Das ist alles, was ich habe! Mein Lebenswerk!« 

Der Major sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Wenn Ihr nicht augenblicklich den Weg freigebt, McIntyre, ist das Behinderung des Militärs. Dafür kann ich Euch erschießen lassen!« 

Alistair schluckte, sein Mund war trocken. Widerstrebend lenkte er sein Pferd zur Seite. 

Als sie weiterritten, warf er noch einmal einen Blick auf den Fluss. Die Truhe trieb mit der Strömung davon. 

* 

»So beruhigt Euch doch, Mrs McIntyre.« Mrs King nahm sich ein Gurkensandwich von der Etagere. Ein Hausmädchen hatte Tee und Brote gebracht, aber Moira war viel zu aufgewühlt, um auch nur einen Bissen hinunterzubekommen. Nachdem sie Mrs King in aller Eile ihr Anliegen vorgebracht hatte, fühlte sie sich plötzlich entsetzlich ermattet, ausgelaugt. Trotz des wärmenden Tuchs, das ihr Anna King hatte bringen lassen, fröstelte sie in ihrer feuchten Kleidung. 

»Duncan O’Sullivan«, wiederholte Mrs King nachdenklich. »Irgendwo habe ich diesen Namen schon einmal gehört.« Sie runzelte die Stirn, dann glitt Erkenntnis über ihre schönen Züge. »Hieß so nicht der Sträfling, der Euch entführt hat?« 

Moira nickte. Jedes Leugnen war jetzt zwecklos. Und sie hatte weder die Kraft noch die Zeit, sich eine mögliche plausible Erklärung auszudenken. 

»Es war keine Entführung«, gab sie stockend zu. Sie spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen. »Er … wir lieben uns.« 

Mrs King schien nicht wirklich erstaunt zu sein. In aller Kürze schilderte Moira ihre gemeinsame Flucht und deren Scheitern, Duncans Bestrafung und seine anschließende Verurteilung, die ihn nach Norfolk Island bringen würde. Die Fehlgeburt verschwieg sie; es erschien ihr nicht wichtig. »Ich weiß, dass Ihr es nicht gutheißen könnt, Eure Exzellenz«, schloss sie erschöpft. »Aber … ich bin verzweifelt. Ihr seid meine letzte Hoffnung.« 

Mrs King sah sie mitfühlend an. »Nun, gutheißen kann ich es tatsächlich nicht, aber verstehen. Und Euer Vertrauen ehrt mich. Unter diesen Bedingungen, wie Ihr sie mir schildert, kann so mancher der Versuchung erliegen. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede. Vor unserer Heirat hatte mein Mann eine Liebschaft mit einer Sträflingsfrau. Zwei Söhne sind aus dieser Beziehung hervorgegangen. Ich habe die beiden in mein Herz geschlossen, obwohl sie nicht meine eigenen Kinder sind.« 

»Ihr seid eine großherzige Frau.« 

Mrs King lachte. »Wohl eher eine vernünftige. Was blieb mir anderes übrig? Die beiden sind jetzt in England und besuchen dort die Schule, genau wie unsere beiden Ältesten. Nur unsere kleine Elizabeth ist mit uns gekommen.« 

Sosehr Moira zu anderer Zeit ein Gespräch mit Mrs King geschätzt hätte – jetzt saß sie auf glühenden Kohlen. »Bitte, Eure Exzellenz«, drängte sie, auch wenn eine Dame niemals ihre Ungeduld zeigen sollte. »Könnt Ihr uns helfen?« 

»Nun, Falschmünzerei ist eine schwerwiegende Anschuldigung. Und das Urteil ist bereits gesprochen. Ich fürchte, alleine kann ich da wenig ausrichten. Aber ich will gerne meinen –« 

Ein Geräusch wie ein Schrei ließ sie innehalten. Dann ertönten Stimmen, Rufe, Füße trampelten über Fliesen, Türen wurden zugeschlagen. Es hörte sich an, als fände im Haus ein Kampf statt. 

»Was mag das sein?« Mrs King sprach ruhig, aber sie konnte ihre Besorgnis nicht ganz verhehlen. Sie legte ihr Sandwich zurück auf die Etagere, griff nach dem Klingelzug neben dem Fenster und läutete. Niemand kam. Moira sprang auf und eilte ans Fenster. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Gesicht vor der Scheibe auf. Sie schreckte zurück – und fuhr herum, als im nächsten Moment eine der beiden Türen zum Salon aufgerissen wurde und mehrere zerlumpte Männer hereinstürmten. Mrs King schrie auf. 

Moira erfasste die Situation rasch. Es waren abgerissene Gestalten, ausgemergelt und schmutzig, einige mit Heugabeln oder Sicheln in den Händen. Bei manchen sah sie wunde Stellen an den Knöcheln – dort, wo bis vor kurzem wohl Fußfesseln gesessen hatten. Sträflinge! Das hier waren Sträflinge, die ihren Bewachern entkommen waren. Rasch glitt ihr Blick über die Männer. Duncan? Nein, er war nicht dabei. Kein einziger von ihnen war ihr bekannt. 

Zu ihrem Erstaunen verspürte sie kaum Angst. In erster Linie erfüllte sie Wut. Wut, dass man sie hier in dieser heiklen Angelegenheit unterbrach. 

Einer der Sträflinge, ein Kahlköpfiger mit einer auffallend großen Nase, blickte sich suchend im Salon um. »Wo ist der Gouverneur?«, fragte er barsch und ließ seine Hand über die Schneide einer Sichel gleiten. 

Mrs King hatte sich nach dem ersten Schrecken wieder gefangen. Würdevoll erhob sie sich und strich ihr Kleid glatt. Nur ein leichtes Zittern der Hände verriet ihre Anspannung. »Er ist nicht hier. Und jetzt habt bitte die Güte und verlasst das Haus, oder ich lasse Euch hinauswerfen.« 

Höhnisches Gelächter war die Antwort. »Es ist aber niemand da, der uns hinauswerfen könnte, mein Täubchen«, gab der Kahlkopf zurück, der augenscheinlich die Rolle des Anführers übernommen hatte. »Und so schnell gehen wir nicht.« 

Moira überlegte fieberhaft. Offenbar hatten die rebellischen Sträflinge die wenigen Bediensteten des Gouverneurs überwältigt. Aber wo waren die Soldaten, die sich um die Sicherheit dieses Hauses kümmern sollten? Und gab es keine Aufseher oder Konstabler? 

Weitere Sträflinge drängten in den Salon. Manche fläzten sich auf den entlang der Wände aufgestellten Stühlen oder räkelten sich auf der Ottomane. Schmutzige Hände griffen nach den Sandwiches, rissen an den schweren Gardinen, befingerten die Einrichtung. Die Männer hatten sicher seit Monaten kein weibliches Wesen mehr aus der Nähe gesehen. Und hier standen sie zwei Frauen gegenüber. Seit ihrem Erlebnis mit Oberaufseher Holligan wusste Moira, zu was ein Mann in der Lage war. Und hier waren viele Männer. 

Sie spürte eine Welle der Panik in sich hochschwemmen und zwang sich, ruhig zu atmen. Unauffällig sah sie sich nach einer Waffe um. Sie würde sich nicht kampflos ihrem Schicksal ergeben. Gab es hier denn nichts, was sie als Waffe verwenden konnte? Nicht einmal ein Brieföffner lag herum, und das Schüreisen des Kamins war zu weit weg. 

Der Kahlkopf stellte sich vor Mrs King. »Euer Name?« 

Mrs King lehnte sich so weit zurück, wie es eben ging. »Ihr habt mir den Euren noch nicht genannt.« Moira bewunderte den Mut dieser Frau. Oder war sie sich der Gefahr überhaupt nicht bewusst? 

Der andere fletschte die gelb verfärbten Zähne zu einem hässlichen Grinsen. »Der geht Euch gar nichts an, mein Täubchen, aber da Ihr mich so nett danach fragt: Hudson. Ian Hudson.« 

Moira holte Luft. Sie durfte keine Angst zeigen. Selbstbewusst auftreten. Sie trat neben Mrs King. »Die Dame ist Ihre Exzellenz Anna Josepha King, die Gemahlin des Gouverneurs von Neusüdwales. Und Ihr tätet besser daran, hier zu verschwinden, bevor die Soldaten und die Konstabler eintreffen!« 

Hudson sah sie für einen Moment verblüfft an, dann brach er in lautes Lachen aus. Die anderen fielen ein. »Was haben wir denn da für ein wehrhaftes Weibchen?« Abrupt verstummte sein Lachen. Er wandte sich erneut Mrs King zu. »So, Ihr seid also die Frau des Gouverneurs. Dann sagt mir, Anna Josepha King: Wo ist Euer Mann?« 

»Ich weiß es nicht«, gab Mrs King zurück. Eine Ader an ihrem schlanken Hals pochte. Hatte sie vorhin nicht gesagt, ihr Mann sei zum Hawkesbury aufgebrochen? »Er pflegt mir nicht –« 

»Lügt mich nicht an!«, brüllte Hudson. Mrs King zuckte zusammen. 

»Der Gouverneur ist in Sydney«, behauptete Moira schnell. Den Sträflingen eine falsche Auskunft zu geben war allemal besser als unnützer Heldenmut. 

»In Sydney?« Hudson sah sie zweifelnd an. 

»Ja«, griff Mrs King Moiras Vorlage auf. »In der George Street. Er … Wir werden dort demnächst ein Waisenhaus eröffnen.« 

»Na also«, triumphierte Hudson. »Warum denn nicht gleich?« 

Der Schrei eines kleinen Kindes ertönte. 

»Elizabeth!« Mrs King fuhr herum und wollte aus dem Raum stürzen. 

Hudson hielt sie auf. »Nicht so schnell, mein Täubchen!« 

Moira überlegte blitzschnell. Eine der Türen war frei. Eine bessere Gelegenheit würde kein zweites Mal auftauchen. Sie griff nach der abgeräumten Etagere, holte aus und schlug das metallene Gestell dem nächststehenden Sträfling, der sich gerade den letzten Bissen eines Sandwiches in den Mund stopfte, auf den Kopf. Es war kein fester Schlag, aber die Verwirrung reichte aus. Sie rannte die wenigen Schritte zur Tür, drückte die Klinke und stürzte hinaus auf den Flur. Auch hier waren überall Sträflinge, der Weg nach draußen war nicht möglich. Gehetzt blickte sie sich um und sah die ersten Verfolger aus der Tür des Salons stürmen. Sie rannte weiter ins Hausinnere, wo eine Treppe hinauf in den ersten Stock führte. Dort oben sah sie weitere Männer. Ein kleines Mädchen von drei oder vier Jahren, bei dem es sich wahrscheinlich um Elizabeth handelte, hielt sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest und schrie. Ein hagerer Sträfling versuchte, ihre Finger vom Geländer zu lösen. Neben ihnen stand ein schluchzendes Kindermädchen, wie erstarrt vor Schreck. Dort hinauf konnte sie also nicht. 

Moira wollte sich wieder umdrehen, als sie mit jemandem zusammenprallte. Zwei Arme packten sie und hielten sie fest. Nein! Heißer Schreck jagte durch ihre Adern. Sie wehrte sich, bis sie urplötzlich jede Gegenwehr fahren ließ und vor Freude und Überraschung aufkeuchte. Aber schon legte sich eine Hand über ihren Mund. Der andere Arm zog sie so eng an sich, dass sie sich kaum bewegen konnte. 

»Spiel mit!«, hörte sie die geliebte Stimme an ihrem Ohr. »Zu deiner eigenen Sicherheit!« 

Jetzt schlug ihr Herz schneller vor lauter Glück. Duncan war hier! Sie war so erleichtert, dass es ihr kaum gelingen wollte, sich wie eine verschüchterte Geisel zu verhalten. Aber er hatte recht; niemand durfte wissen, was zwischen ihnen war. Sie senkte den Blick, um sich nicht zu verraten, und wand sich in schwacher Gegenwehr in seinem Griff. Auch Duncan trug keine Fußfesseln mehr. Mit der rechten Hand umklammerte er ihr Handgelenk, seine Linke lag über ihrem Mund; seine Finger fühlten sich fast wie eine Liebkosung an. 

»Ah, du hast sie!« Hudson tauchte neben ihnen auf. »Das kleine Biest wollte abhauen!« 

Sie konnte Duncans Körperwärme und seinen raschen Herzschlag spüren. War er gerannt? Seine Kleidung war feucht wie die ihre, seine nassen Haarsträhnen kitzelten sie am Hals. Aus dem Augenwinkel konnte sie sein Handgelenk sehen; es war mit getrocknetem Blut verkrustet. Jetzt drehte er ihren Kopf leicht, bis ihr Blick auf den Hünen fiel, Fitzgerald. War auch er auf ihrer Seite? Neben ihnen hielt Hudson Mrs King fest. 

Auch am Fuß der Treppe wimmelte es nun von Sträflingen. Sie hörte Mrs King aufschreien und folgte ihrem Blick. Der Atem stockte ihr: Der hagere Sträfling ließ die kleine Elizabeth kopfüber über das Geländer hängen! 

»Lass den Blödsinn, Watkins, dafür haben wir keine Zeit!«, blaffte Hudson ihn an. 

Grinsend stellte Watkins das Kind wieder auf die Füße; die Kleine flüchtete sich weinend in die Arme ihres Kindermädchens. Moira wollte etwas sagen, aber Duncans Hand auf ihrem Mund verhinderte jede artikulierte Äußerung. Langsam konnte er wirklich seine Hand fortnehmen! Sie schüttelte den Kopf, und als das nicht half, öffnete sie den Mund und biss kräftig in seinen Zeigefinger. Er schmeckte nach Schweiß, Erde und Blut. 

»Au!« Mit einem Schmerzenslaut zog er seine Hand zurück. Moira musste sich für einen Moment das Lachen verkneifen. 

Unter den Sträflingen entstand Unruhe, als sich herumsprach, dass der Gouverneur nicht anwesend war. 

Hudson ergriff das Wort. »Wie heißt es so schön? Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet eben zum Berg gehen. Los, Leute, wir gehen nach Sydney. Dann nehmen wir den Gouverneur eben dort als Geisel und zwingen ihn, uns freizulassen und ein Schiff zu geben.« 

Die meisten stimmten zu. Nur einige wenige murrten und meinten, sie seien für heute genug gelaufen. 

»Was machen wir mit den Frauen?« Ein breitschultriger Mann deutete auf Moira und Mrs King. 

»Wir könnten sie mitnehmen. Als Geiseln«, warf ein anderer ein. 

»Blödsinn, Frauen machen nur Ärger«, gab Hudson zurück. »Am besten, wir bringen sie um.« Moira erstarrte, als er wie zur Unterstreichung die Sichel hob. 

Duncan verstärkte den Druck auf ihr Handgelenk. »Wer hat dich eigentlich zum Anführer bestimmt, Hudson?« Er zog Moira ein Stück zur Seite. »Die Frauen bleiben hier, sie würden uns nur behindern. Wir werden sie irgendwo im Haus einsperren. Wenn ihr sie umbringt, droht uns der Galgen. Deinetwegen riskiere ich doch nicht meinen Hals.« 

Beifälliges Gemurmel folgte dieser Aussage. Moira entspannte sich ein wenig. 

»Und wer soll auf sie aufpassen? Du vielleicht?« Hudson zog höhnisch die Augenbrauen hoch. 

Duncan zögerte glaubhaft. »Wenn es sein muss.« 

»Aber vorher amüsieren wir uns ein bisschen mit ihnen!«, sagte einer der Männer. 

»Das wirst du nicht wagen!«, polterte Fitzgerald. »Wenn du auch nur eine Hand an die Ladys legst, breche ich dir den Hals!« 

»Da haben wir ja zwei echte Gentlemen«, spottete Hudson unter dem Gelächter der anderen. »Dann würde ich vorschlagen, dass du den Damen ebenfalls Gesellschaft leistest. Wir jedenfalls gehen nach Sydney!« 

Mit Gardinenkordel band man den Frauen die Hände auf dem Rücken zusammen, dann stieß man sie die Treppe hinauf und brachte sie in einen kleinen Eckraum im ersten Stock; offenbar das Kinderzimmer, wie Moira nach einem Blick auf das Schaukelpferd feststellte. Zu ihrer großen Erleichterung waren tatsächlich nur Duncan und Fitzgerald zu ihrer Bewachung abgestellt. 

Duncan schloss von innen die Tür ab, dann öffnete er die Handfesseln der Frauen. 

»Ich bitte darum, diese Unannehmlichkeit zu verzeihen«, sagte er. »Aber es –« 

Weiter kam er nicht. Moira umarmte ihn so heftig, dass er fast umfiel. Ihr Verhalten war nicht nur unschicklich, sondern völlig unmöglich, aber das kümmerte sie nicht. Endlich war sie wieder mit Duncan zusammen. Die wilde Mischung aus Freude, Erleichterung und dem puren Glück, ihn unversehrt zu wissen und wieder mit ihm vereint zu sein, ließ ein Gefühl durch ihren Körper strömen, als wollten ihre Gelenke schmelzen. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Doch viel zu schnell löste er sich wieder von ihr. Aus dem Nebenraum waren das Klirren von Porzellan und Gejohle zu hören. Moira hatte gehofft, dass die anderen Sträflinge allesamt in Richtung Sydney aufgebrochen waren. Aber offenbar waren genug zurückgeblieben, die die Räume plünderten. Und wer wusste, was ihnen sonst noch einfallen würde. 

Das Kindermädchen, eine junge Frau, wahrscheinlich ebenfalls ein Sträfling, saß verschüchtert auf dem Bett und drückte die kleine Elizabeth an sich. 

»Hab keine Angst, Mary«, sagte Mrs King zu ihr. »Diese beiden … Herren sind gute Männer. Sie werden uns nichts tun.« Sie blickte auf. »Nicht wahr, Mr O’Sullivan?« 

»Ihr kennt meinen Namen?« 

»Ich kann eins und eins zusammenzählen.« Sie lächelte, aber es war ein angespanntes Lächeln. 

»Ich habe ihr alles erzählt«, erklärte Moira hastig. »Ich hatte gehofft, sie würde dir helfen können.« 

»Und Euch kenne ich sogar persönlich«, wandte sich Mrs King an den Hünen. »Samuel Fitzgerald, nicht wahr? Mein Namensgedächtnis ist recht gut.« 

Der große Mann wurde tatsächlich rot. »Das ist richtig, Ma’am.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ihr wart sehr gut zu mir. Vor einiger Zeit habt Ihr dafür gesorgt, dass ich nicht nach Norfolk Island musste. Und das werde ich auch diesmal nicht!« Er ballte die Fäuste und blickte aus dem Fenster, wo die Gruppe der Sträflinge zu sehen war, die den Hügel hinab über die überschwemmten Grasflächen nach Osten, in Richtung Sydney, marschierte. 

»Wieso seid Ihr nicht mit den anderen gegangen?«, fragte Mrs King. 

Fitzgerald drehte sich um. Seine Röte ähnelte inzwischen seiner Haarfarbe. »Ich … Euretwegen. Ich musste doch auf Euch aufpassen.« 

Mrs King sah ihn lächelnd an. »Das war sehr freundlich von Euch.« Ein Schlag von einer Faust an der Tür ließ sie zusammenzucken. 

»Macht auf!«, grölte jemand. »Wir wollen auch unseren Spaß mit den Weibern!« 

»Meine Herren«, sagte Mrs King leise, nun sichtbar besorgt. »Ich bitte nicht für mich. Aber denkt an meine kleine Tochter Elizabeth. Ich weiß nicht, wie lange diese Tür Eure Leute davon abhalten wird, hier einzudringen. Und ich …« Sie sah kurz zu Duncan, der ihr offenbar vertrauenswürdig erschien. »Ich gebe Euch mein Wort, dass ich Eure Geisel bleibe und nicht versuche zu fliehen, wenn Ihr mein Kind rettet.« 

Fitzgerald kaute auf seiner Lippe. »Ich denke nicht, dass –« 

»Doch«, unterbrach Duncan ihn, dann wandte er sich an Mrs King. »Ihr gebt mir Euer Wort?« 

Sie nickte. 

»Steh auf«, sagte Duncan zum Kindermädchen, das sich gehorsam erhob. »Du heißt Mary?« 

Sie nickte stumm. Duncan erklärte seinen Plan, und endlich kam Leben in Mary. Sie öffnete einen Schrank und nahm drei Bettlaken heraus, die sie rasch zu einem festen Seil verknotete. 

»Wir spielen ein Spiel.« Moira hatte sich zu der kleinen Elizabeth gebeugt, die das eigenartige Treiben stumm und mit großen Augen beobachtete. »Wenn du ganz leise bist, darfst du gleich huckepack reiten.« 

Sie banden Mary das Kind auf den Rücken, dann öffnete Fitzgerald das Fenster und schob das Bett darunter. Duncan knotete das Bettlakenseil an das schwere eiserne Bettgestell, das stabil genug aussah, um Marys Gewicht zu tragen, und ließ es aus dem Fenster hängen. 

»Bringt euch in Sicherheit«, schärfte Mrs King dem Kindermädchen ein. »Lauf zum Gasthaus von Mr Knebworth!« 

Mit Duncans Hilfe kletterte Mary auf die Fensterbank. Einen Augenblick schreckte sie vor der Höhe zurück, dann presste sie die Lippen zusammen und ließ sich an dem Seil hinab. Sobald sie und Elizabeth sicher unten angekommen waren, zog Duncan das Seil wieder nach oben. Mary rannte mit der Kleinen auf dem Rücken den Hügel hinab und verschwand zwischen den Weinstöcken. Keiner der Sträflinge, die die andere Richtung eingeschlagen hatten, bemerkte sie. 

Als Mrs King sich wieder zu ihnen umdrehte, standen Tränen in ihren Augen. »Ich danke Euch. Das werde ich Euch nicht vergessen.« 

Duncan sah sie an. »Ist der Gouverneur wirklich in Sydney?« 

Mrs King warf Moira einen raschen Blick zu, dann schüttelte sie den Kopf. 

Fitzgerald blieb der Mund offen stehen. »Er … ist gar nicht in Sydney? Aber … dann werden wir gar nicht freigelassen?« 

Mrs King atmete tief ein. »Nein, Mr Fitzgerald«, sagte sie langsam. »Ich fürchte, das werdet Ihr nicht. Eure Leute haben keine Chance.« 

»Das sind nicht unsere Leute«, widersprach Duncan. »Männer, die unschuldige Kinder –« 

Ein Knall ließ sie zusammenfahren. 

»Wir müssen hier weg!«, drängte Moira. »Sicher werden bald die Soldaten des New South Wales Corps hier auftauchen, und dann –« 

»Sie sind schon da«, murmelte Duncan. 

»Was?« 

Dann hörte auch sie es. Das Geräusch mehrerer abgefeuerter Musketen. Schmerzensschreie. Füße trampelten über eine Treppe. Ein schwerer Gegenstand – ein Körper? – polterte über die Stufen. Moiras Herz krampfte sich vor Angst zusammen. Angst um Duncan. 

»Wir sitzen hier wie die Maus in der Falle!« Fitzgerald blickte wild um sich, als suche er nach einer Waffe. »Aber noch einmal kriegen sie mich nicht. Eher lasse ich mich erschießen!« Er lief zum Fenster. »Hier hinten ist noch alles frei. Los, Duncan, komm!« 

»Er hat recht«, sagte nun auch Mrs King. »Ihr müsst fliehen! Schnell, solange das Haus noch nicht vollständig umstellt ist!« 

Der Kampf schien sich auf die Hausvorderseite und den Eingangsbereich zu konzentrieren. Aber jeden Moment konnten sie auch an der Rückseite des Hauses sein. Fitzgerald ließ die verknoteten Bettlaken erneut aus dem Fenster und kletterte daran hinaus. Das Bettgestell bog sich unter seinem Gewicht. 

Duncan zog den Schlüssel, mit dem er das Zimmer abgeschlossen hatte, aus der Tasche und gab ihn Moira. »Nimm ihn.« 

»Was soll das?« Dann begriff sie. »O nein, ich bleibe nicht hier! Ich lasse dich nicht schon wieder –« 

Sein Kuss, leidenschaftlich, aber viel zu kurz, verschloss ihr den Mund. Dann löste er sich von ihr. 

»Ich komme mit!«, beharrte Moira. Sie machte sich bereit, als Nächste hinauszuklettern. Doch bevor sie ihren Rock raffen konnte, hatte Duncan sich schon auf die Fensterbank geschwungen. Zu spät erkannte sie, dass er das Seil vom Bettgeländer gelöst hatte. Sie stürzte kniend auf das Bett und konnte gerade noch sehen, wie er geschmeidig wie eine Katze auf dem Rasen hinter dem Haus landete. 

Fast hätte sie geschrien. Auch wenn Duncan sie nur schützen wollte – er hatte sie ausgetrickst! Fassungslos blickte sie auf ihn hinunter. 

»Warte hier auf mich«, rief er gedämpft zu ihr hinauf, dann zog Mrs King sie vom Fenster zurück.