19. 

 

blumeDie Teetasse fiel zu Boden und zersprang auf den Dielen in zwei Teile. 

»Nach Norfolk Island?« Moira spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich, das Entsetzen floss eiskalt durch ihre Adern. »Sagt, dass das nicht wahr ist!« 

McIntyre stand am Fenster und blickte auf Moira hinunter, die am Tisch saß. »Wieso sollte ich dich anlügen?« Missbilligend musterte er das zerbrochene Teegeschirr und die Lache auf dem Boden. »Ann!« 

Das Mädchen hatte wohl hinter der Tür gewartet, so schnell kam es in die Wohnstube. 

»Ann, mach das weg. Und dann bring Mrs McIntyre zurück in die Schlafkammer. Sie fühlt sich nicht wohl.« 

Wie betäubt sah Moira zu, wie Ann die Scherben einsammelte, die kleine Teepfütze mit einem Lappen aufwischte und alles hinaustrug. Sie schüttelte den Kopf, als Ann zurückkam und neben sie trat. »Es geht mir gut.« 

Sie wartete, bis Ann verschwunden war. »Wieso?«, fragte sie schwach. »Was hat er denn getan?« 

McIntyre blickte sie nicht an. »Bei ihm und einem anderen wurde Falschgeld gefunden. In Gegenwart mehrerer Zeugen.« 

»Falschgeld?« Das Blut rauschte in ihren Ohren. »Wer? Wer hat das Falschgeld gefunden?« 

»Ein Aufseher, soweit ich weiß. Und Major Penrith.« 

»Major Penrith!« Sie hätte es sich denken können. Mit einem Ruck schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. »Und das glaubt Ihr?« 

»Darum geht es nicht. Das Urteil ist gesprochen. Ich kann nichts mehr für ihn tun.« 

In Moiras Kopf rasten die Gedanken. Mit Wentworth konnte sie diesmal nicht rechnen, er war für einige Tage verreist. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen. Und wenn sie tatsächlich McIntyre bat …? 

»Doch, das könnt Ihr!« Sie trat zu ihm. »Ihr … Ihr müsst zum Gouverneur gehen und um Gnade für Duncan bitten. Ihr wart doch immer zufrieden mit ihm … Bitte, um dieser Zeiten willen – wenn Ihr ein gutes Wort für ihn einlegt, wird der Gouverneur auf Euch hören!« 

McIntyre antwortete nicht, sah nur düster vor sich hin. 

»Bitte!« Sie war kurz davor, vor ihm auf die Knie zu fallen. Wenn es sein musste, würde sie sogar das tun. 

»Bitte, A… Alistair!« Sein Vorname klang unerhört fremd aus ihrem Mund. »Das … das könnt Ihr doch auch nicht wollen! Ich tue alles, was Ihr verlangt, aber bitte – geht zum Gouverneur und fleht um Gnade! Ihr dürft nicht zulassen, dass man Duncan auf die Teufelsinsel schickt!« Und dann tat sie es tatsächlich. Sie sank vor ihm auf die Knie. So sehr hatte sie sich noch nie erniedrigt. »Wenn Ihr ein Herz habt, dann … dann müsst Ihr das verhindern!« 

McIntyre stand steif vor ihr, sein Blick war verschlossen. Kurz ballte er die Hände, dann öffnete er sie wieder. »Was sollte mich das Schicksal eines dreckigen Sträflings kümmern?« 

Moira starrte ihn fassungslos an, in ihrem Kopf herrschte nur noch Leere. Langsam erhob sie sich. »Dann werde ich selbst gehen!« 

»Ich verbiete dir, das Haus zu verlassen!« McIntyre packte sie am Arm. 

Sie sah ihm ins Gesicht, in dieses rotfleckige, verhasste Gesicht. »Was wollt Ihr dagegen tun? Mich auch nach Norfolk Island schicken? Lieber wäre ich mit Duncan dort als nur noch eine Minute bei Euch! Ihr seid … erbärmlich! Ich hasse Euch!« 

Bevor er sie schlagen konnte, riss sie sich los und stürmte durch die Tür, vorbei an Ann, die sie mit offenem Mund anstarrte. 

»Komm sofort zurück!«, hörte sie ihn rufen, dann war sie draußen. 

Sie hätte am liebsten geweint, doch dafür war jetzt keine Zeit. Durch Pfützen und Schlamm rannte sie hinüber ins Kutschenhaus. Der Sträfling, der die Tiere auf die Weide führen sollte, war nirgends zu sehen, die Pferde standen noch immer in ihren Verschlägen. Die Kutsche, die sie und McIntyre nutzen durften, befand sich ebenfalls hier. Aber ohne Hilfe würde es zu lange dauern, das Kutschpferd anzuschirren, ganz zu schweigen davon, dass sie damit bei diesen aufgeweichten Wegen kaum vorankäme. Kurzentschlossen ging sie in den nächsten Verschlag, in dem ein brauner Wallach stand, der ihrem Nachbarn Mr Huntington gehörte. Das Tier kannte sie; einmal hatte sie Duncan zugesehen, wie er den Braunen striegelte. Moira näherte sich dem Pferd mit beruhigenden Lauten, streichelte es und bemühte sich, ihre Aufregung zu unterdrücken. Sie hatte noch nie selbst ein Pferd gesattelt, aber schon oft dabei zugesehen. Mit fliegenden Fingern nahm sie eine Satteldecke und legte sie dem Braunen über. War das, was sie hier tat, schon Diebstahl? Mr Huntington hatte sicher nichts dagegen, wenn sie sich sein Reitpferd kurz auslieh. Sie hatte sowieso keine andere Wahl, wenn sie Duncan retten wollte. 

Nervös blickte sie zurück. War McIntyre ihr gefolgt? Nein, es war niemand zu sehen. Als sie einen der Sättel vom Halter nahm, fiel ihr Blick auf die Leiter zum Heuboden. Wie oft hatten Duncan und sie sich dort oben geliebt … Sie unterdrückte das Schluchzen, das in ihr aufsteigen wollte, legte dem Pferd den Sattel über die Decke und zurrte den Gurt fest. Dann führte sie das Tier aus dem Kutschenhaus. Ein Windstoß traf sie und zerrte an ihrem Kleid, der Himmel war ein düsteres Grau. 

Sie brauchte zwei Anläufe, bis sie den Steigbügel traf und sich nach oben schwingen konnte; der Herrensitz war ungewohnt für sie. Kurz rutschte sie auf dem Sattel herum, um ihren Rock richtig unter sich zu bringen, dann griff sie den Braunen am Halfter und stieß ihm die Fersen in die Flanke. Regen lief ihr über die Haare und in den Ausschnitt. 

»Los«, murmelte sie, mehr zu sich als zu dem Pferd. »Nach Parramatta.« 

Dort stand die Sommerresidenz des Gouverneurs. Moira betete darum, dass Mr King sich jetzt dort aufhielt. 

Erst als sie bereits den schlammigen Weg entlangpreschte, fiel ihr ein, dass sie überhaupt nicht gefragt hatte, wo Duncan sich jetzt befand. 

* 

In der Ecke neben einer großen Kiste schimmerte etwas silbrig. Ein Gespinst wie aus feiner Seide, mit einer runden, trichterförmigen Öffnung. Ganz in der Nähe gurgelte der Fluss. Regen prasselte gegen die Bretterwände, Wind ächzte im Gebälk. Der Vorratsschuppen quoll schier über, an den Wänden stapelten sich Rumfässer und Kisten, Taurollen und Säcke mit Getreide. Seit der vergangenen Nacht diente er außerdem als Gefängnis. 

Duncan versuchte zum wiederholten Mal, sich in eine etwas angenehmere Position zu setzen, aber es war sinnlos. Er spürte kaum noch seine Hände, die hinter seinem Rücken um einen hölzernen Pfeiler und zusätzlich mit Handschellen an einen daran befestigten eisernen Ring gefesselt waren. Um seine Knöchel schlossen sich nach wie vor die schweren Eisenketten. Samuel hatte man sicher ähnlich gebunden, in dem zweiten Vorratsschuppen, den man erst vor kurzem etwas weiter oberhalb errichtet hatte. Und wenn man sie an diesem Tag endlich losmachen würde, dann nur, um sie zur körperlichen Züchtigung abzuholen. Wieder angebunden an den verhassten Baum. Wieder die barbarischen Schläge. Und dann, blutig und zerschlagen, auf die Teufelsinsel. Für immer. 

Die Angst überfiel ihn in Wellen. Brandete auf, türmte sich über ihm zusammen, begrub ihn unter sich und ebbte langsam wieder ab. In diesen Momenten bereute er, dass er Samuels Angebot nicht angenommen hatte. Dann wäre jetzt alles vorbei. Auf der Rückfahrt nach Toongabbie war er für einen Augenblick tatsächlich versucht gewesen, das alles hinter sich zu lassen. Aber dann hatte sich ein unbezwingbarer Überlebenswille Bahn geschlagen. Und so einfach würde er auch jetzt nicht aufgeben. Er hatte nicht so viel ertragen, um sich jetzt feige aus dem Leben zu stehlen. Was hatte Moira gesagt? Es gab eine Lösung. Es gab immer eine Lösung. 

Das Warten war das Schlimmste. Das Warten und das Wissen um das, was ihn erwartete. Wahrscheinlich würden sie erst kommen, wenn der Regen aufgehört hatte und die Neunschwänzigen sich nicht mit Wasser vollsaugen würden. Ob der Major auch diesmal wieder anwesend wäre? Nein. Duncan schüttelte den Kopf. Er wollte seine letzten klaren Gedanken vor der Folter nicht an diese Ratte verschwenden. Dazu hatte er später noch genug Zeit. Ein ganzes erbärmliches Leben lang. 

»Vater unser«, murmelte er mit Lippen, die sich anfühlten wie taub, »der du …« 

Er brach ab. Zum ersten Mal erschienen ihm diese Worte sinnlos, unpassend. Zu klein für sein Elend. 

Er bewegte die Finger hinter seinem Rücken, versuchte, Blut in die eingeschlafenen Gliedmaßen zu bringen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete zum wiederholten Mal den Dachunterbau; einfache Holzplanken, über die man Stroh gedeckt hatte. Hier und da tropfte es. Sein Blick kehrte zurück zu dem Boden aus festgestampftem Lehm. 

Neben seinem Fuß saß eine Spinne. Sie war von dunkler, metallisch glänzender Farbe und fast zwei Zoll groß, der Hinterleib und die vier Beinpaare mit kurzen Haaren besetzt. 

Duncan fuhr erschrocken zusammen. Als er sein Bein ein wenig anzog, um es aus der Reichweite des kleinen Scheusals zu bewegen, klirrten die schweren Ketten. Sofort richtete die Spinne ihren Vorderkörper auf und reckte die vorderen Beine und ein Paar bedrohlich wirkender Krallen oder Fangzähne nach oben. 

Langsam stieß Duncan die Luft aus. Sehr langsam. Keine Bewegung. Er durfte keine Bewegung mehr machen. War Murphy nicht von einer solchen Spinne gebissen worden – und wenige Tage später qualvoll daran gestorben? Schwarz und haarig, hatte Murphy sie beschrieben. Wie viele schwarze haarige Spinnenarten konnte es hier noch geben? Sein Herz raste, er verharrte reglos, wagte kaum zu atmen. Schweiß rann ihm in die Augen. 

Endlich senkte das Tier seinen Vorderleib. Duncan schloss für einen Moment die Augen, um die kleine Bestie nicht länger ansehen zu müssen und um seinen Herzschlag zu beruhigen. Als er die Augen wieder öffnete, war die Spinne fort. Erleichtert wollte er sein Bein ausstrecken, als er ein Kitzeln an seinem Knöchel und gleich darauf an seinem Schienbein spürte. Die Spinne! Das Mistvieh war in seinem Hosenbein! Er atmete erschrocken ein, seine Muskeln versteiften sich. Mit aller Beherrschung, die er aufbringen konnte, zwang er sich dazu, ruhig zu bleiben. Er presste die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, aber er konnte nicht verhindern, dass es ihn heiß und kalt zugleich überlief. Das Gefühl der Spinnenbeine auf seiner Haut ließ ihn erschaudern, er spürte, wie sich eine Gänsehaut bildete. Ob das die Spinne reizte? Er spürte das Kribbeln verharren, an einer Stelle unterhalb seines Knies, und wagte kaum zu atmen. Dann krabbelte das Tier weiter. Es kitzelte an seiner Kniekehle, dann an der Innenseite seines Oberschenkels. 

Heiß. Und kalt. Heiß. Kalt. Duncans Herz hämmerte, er atmete gepresst. Eine einzige unbedachte Bewegung, und die Spinne würde zubeißen. Wie schnell würde das Gift wirken? Das Bild von Murphy kam ihm in den Sinn, wie dieser sich schweißgebadet vor Schmerzen gekrümmt hatte. Es hatte einige Tage gedauert, bis er gestorben war. 

Erneut ballte Duncan die hinter seinem Rücken gefesselten Hände und bewegte die Lippen in einem lautlosen Stoßgebet. War es das, was Gott mit ihm vorhatte? Blieb ihm die Teufelsinsel erspart, aber sollte er dafür jämmerlich durch einen Spinnenbiss umkommen? 

Der Spinne schien es in seinem Hosenbein zu gefallen. Wollte sie etwa noch weiter krabbeln? Für einen kurzen, angsterfüllten Moment kam es ihm so vor, als wäre das Tier bereits auf dem Weg nach oben. Er atmete keuchend ein, glaubte schon, die Spinne zwischen seinen Beinen zu spüren. Gleich würde sie ihre Giftzähne in seinem empfindlichsten Teil versenken. Alles an ihm zog sich zusammen. 

Er erinnerte sich, wie der Doktor in Murphys Fleisch geschnitten hatte, um das Gift ausbluten zu lassen. Würde man dasselbe auch mit ihm machen? Dort?! Er biss die Zähne zusammen und warf den Kopf in den Nacken, um dem Drang zu widerstehen, laut zu schreien. Jeder Laut konnte das Tier reizen. 

Er entspannte sich ein wenig, als das Kitzeln wieder nach unten wanderte. Dann hörte es auf. Es fühlte sich an, als hätte die Spinne sich in seiner Hose unterhalb seiner Kniekehle niedergelassen. Lautlos stieß er etwas Luft aus. Wie lange würde er so ausharren können, bewegungslos, fast ohne zu atmen? Und was würde geschehen, wenn die Tür aufging und sie kamen, um ihn zu holen? 

* 

Schlamm spritzte unter den Pferdehufen, Regen peitschte ihr ins Gesicht. Moira beugte sich tief über den Rücken des Tieres, die nasse Kleidung klebte auf ihrer Haut. So viel Regen kannte sie selbst aus Irland nicht, und dabei war es Sommer. Der Boden konnte das viele Wasser nicht halten, überall erstreckten sich riesige Pfützen. 

Der Busch flog an ihr vorbei. Das letzte Mal, als sie so geritten war, schoss es ihr durch den Kopf, hatte sie auch Hilfe geholt. Damals, als Duncan sie vor Oberaufseher Holligan gerettet hatte. Sie duckte sich, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen. Schon kamen die ersten Häuser von Parramatta in Sicht. Sie jagte über die ungepflasterte Straße, die von einfachen Hütten gesäumt wurde, weiß mit rotem Dach, die Anhöhe hinauf, dann war sie auch schon am Ziel. Die Sommerresidenz des Gouverneurs, ein schlichtes, zweistöckiges Gebäude, erhob sich auf einem mit Weinstöcken bepflanzten Hügel über dem Parramatta River. Mit den zwei Nebengebäuden bildete es die Form eines unterbrochenen Hufeisens. Weiter hinten sah Moira einige Rotröcke, die vor dem Regen Schutz unter dem vorspringenden Dach eines Lagergebäudes gesucht hatten und sich dort offenbar die Zeit mit einem Kartenspiel vertrieben. 

Vor dem Stallgebäude sprang sie vom Pferd. Bestürzt bemerkte sie ihren wenig standesgemäßen Aufzug; ihr zitronengelbes Kleid troff vor Nässe und war mit vielen kleinen Schlammspritzern übersät, das Haar haftete klatschnass an ihrem Gesicht. Ob man sie so überhaupt zum Gouverneur vorlassen würde? 

Der Stallknecht, der ihr das Pferd abnahm, maß sie mit einem Blick, der zwischen Verwirrung und Mitleid lag. Mit dem Handtuch, das er ihr reichte, rieb sie ihre Haare ab. Dann unterzog sie ihre Garderobe einer oberflächlichen Reinigung und wischte die schlimmsten Spritzer ab. Allerdings änderte das nichts daran, dass ihre Kleidung und wahrscheinlich auch sie selbst aussah, als hätte man sie aus dem Fluss gezogen. Andererseits: Wenn sie so derangiert bei Gouverneur King erschien, würde es den Ernst der Lage noch unterstreichen. Die Gemahlin des neuen Gouverneurs, Anna King, hatte Moira bereits als eine verständnisvolle und warmherzige Frau kennengelernt. Hoffentlich war Mr King von ähnlicher Großherzigkeit. 

Sie gab dem Stallknecht das Handtuch zurück, strich über ihre Haare, um sie wenigstens halbwegs zu ordnen, und klopfte an die Eingangstür. Sie zitterte vor Angst und Aufregung. Ein Mann in Livree, offenbar der Hausdiener, öffnete und warf einen abschätzigen Blick auf ihr durchnässtes, verschmutztes Kleid. 

»Ma’am?« 

Moira setzte eine hochmütige Miene auf und bemühte sich, so selbstbewusst wie möglich zu sprechen. »Ich bin Mrs Alistair McIntyre. Die Frau von Dr. McIntyre.« Sie hasste es, diesen Namen gebrauchen zu müssen, aber wenn es der Sache diente … »Ich möchte zu Gouverneur King.« 

Der Hausdiener zog die Brauen zusammen. »Bedaure. Seine Exzellenz ist nicht zu sprechen.« 

So einfach ließ sie sich nicht abspeisen. »Bitte, es ist wichtig! Sagt ihm, es ginge um Leben und Tod!« 

»Das tut mir leid, Ma’am. Aber Gouverneur King weilt heute nicht in Parramatta.« 

»Nicht in Parramatta …« Moiras Hoffnung sank. »Dann … ist Mrs King zu sprechen? Sie kennt mich!« 

Der Hausdiener zögerte merklich. »Einen Augenblick.« Er schloss die Tür. Moira musste draußen warten. Ein solch anmaßendes Gehabe war sie nicht gewöhnt. Sie schluckte ihre Angst und ihre Ungeduld hinunter und übte sich in Demut. Wahrscheinlich kamen öfter Bittsteller hierher. 

Nach einer schieren Ewigkeit kam der Hausdiener zurück. »Ihre Exzellenz Mrs King ist gerade bei der Morgentoilette, aber danach wird sie Euch gern empfangen. Sie bittet Euch, solange im Salon zu warten.« Endlich ließ er Moira eintreten. Ihre Haut prickelte vor Aufregung. 

Obwohl es Sommer war, brannte im Kamin des einfachen Salons ein Feuer. Moira stellte sich davor, um ihren durchnässten Rock und die feuchten Schuhe zu trocknen. Die Hitze des Feuers tat ihr gut. Hoffentlich beeilte Mrs King sich mit ihrer Morgentoilette. Aber selbst wenn sie, Moira, den ganzen Tag warten musste – sie würde hier nicht wieder fortgehen. Nicht, bevor Duncan nicht gerettet war. 

Sie trat ans Fenster. Es regnete noch immer. Der Parramatta River, der sich am Fuß des Hügels durch die Wiesen wand, war über die Ufer getreten und überschwemmte Teile der Grasflächen. Moira sah Holzplanken auf dem Wasser treiben, Wind bog die Sträucher. Hier oben drohte keine Gefahr, aber in Toongabbie würden einige Menschen wohl nasse Füße bekommen. Und am Hawkesbury River war vermutlich die Maisernte in Gefahr. Aber was ging sie jetzt die Maisernte an? Für sie gab es dringendere Sachen zu klären. 

»Mrs McIntyre«, hörte sie dann Anna Kings sanfte Stimme und drehte sich aufatmend um. »Wie schön, dass Ihr mich besucht. Sagt selbst, ist dieser viele Regen nicht schrecklich für die armen Siedler? Mein Mann ist heute Morgen zum Hawkesbury aufgebrochen, weil er – Um Gottes willen, meine Liebe, was ist Euch zugestoßen?« Mrs King eilte auf sie zu, beide Hände ausgestreckt. 

Moira ergriff sie. Ihre eigenen Hände waren eiskalt. Die Angst um Duncan, die sie in der vergangenen Stunde versucht hatte zurückzuhalten, drohte jetzt über ihr zusammenzubrechen. »Mrs King, Eure Exzellenz, ich … ich brauche Eure Hilfe«, war alles, was sie hervorbrachte. 

* 

Duncan hatte die Augen geschlossen und versuchte, so oberflächlich wie möglich zu atmen und sich nicht zu bewegen. Aber lange würde er die ständige leicht angespannte Haltung seiner Muskeln nicht mehr durchhalten. 

Er spürte etwas an seinem Bein. An beiden Beinen. Und an seinem Hosenboden. Noch mehr Spinnen? Nein, das war Nässe, was er da fühlte. Er öffnete die Augen. 

Wasser drang von einer Ecke aus in den Schuppen und breitete sich auf dem Lehmboden aus. Er spürte erneut das Kribbeln an seinem Schienbein und sah gleich darauf die Spinne aus seinem Hosenbein krabbeln. Schwarz wie die Nacht saß sie auf seinem Schuh. Würde sie etwa wieder in sein Hosenbein zurückkehren, wenn sie merkte, dass der Boden nass war? Ganz langsam streckte er sein Bein aus. Die Spinne rührte sich nicht. Erst als er mit der Fußspitze die Ecke einer großen Kiste berührte, kletterte sie über seinen Schuh auf die Kiste und verschwand dahinter. 

Mit einem tiefen Seufzer schickte er einen Dank zum Himmel und entspannte sich etwas. 

Das Wasser stieg. Das war nicht nur der Regen, der noch immer mit unverminderter Wucht niederströmte. Der Toongabbie Creek musste über die Ufer getreten sein; dem gurgelnden Rauschen nach zu schließen, war daraus mittlerweile ein reißender Strom geworden. Die Erbauer dieser Hütte hatten wenig Umsicht bewiesen, als sie den Vorratsschuppen so dicht an den Fluss gebaut hatten. 

Er lauschte. Hinter dem Wind, der an dem Schuppen rüttelte, und dem Rauschen des Wassers glaubte er andere Geräusche zu hören. Laute, aufgeregte Stimmen und Schreie. Irgendetwas ging dort draußen vor sich. Ob er um Hilfe rufen sollte? Nein, damit machte er sich nur lächerlich. Und er wollte nicht unnötig die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Je eher sie ihn hier herausholten, umso eher würden sie ihn auch auspeitschen. Dann saß er lieber noch etwas länger im Nassen. 

Obwohl der Wasserpegel mit beunruhigender Schnelligkeit stieg. 

Das Wasser, das eine trübe, lehmige Färbung angenommen hatte, umspülte seine Beine, erreichte seine Hüfte und seine gefesselten Hände. Erneut horchte er nach draußen. Rufe. Wildes Geschrei. Ein Schuss? Was war dort los? Ein Aufstand? 

Etwas stieß seitlich an ihn. Ein großes, offenbar leeres Rumfass. Jetzt wurde ihm doch etwas mulmig. Das Wasser reichte ihm mittlerweile bis zum Bauchnabel. Weitere leere kleine Fässer und Kisten schwammen wie Treibgut um ihn herum. 

Kam denn niemand, um ihn hier herauszuholen? Wer außer den Aufsehern wusste überhaupt, dass er hier eingesperrt war? Er zog an den Handschellen hinter seinem Rücken, doch der am Pfeiler befestigte Ring hielt sie unverrückbar fest. Wenn nicht bald etwas passierte, würde er sich keine Sorgen mehr darüber machen müssen, dass man ihn auspeitschte. Dann wäre er nämlich ertrunken. 

Jetzt rief er doch. Schrie um Hilfe. Zerrte wieder und wieder an den Fesseln. Hörte man ihn überhaupt? Die Fesseln bewegten sich keinen Zoll, seine Handgelenke fühlten sich an, als bestünden sie nur noch aus rohem Fleisch. 

Das Wasser hatte seine Brust erreicht. Und stieg weiter. Für einen kurzen Moment ging ihm die Ironie dieser Situation auf: Da hatte er Samuels Angebot abgelehnt und war gerade so dem Biss einer Giftspinne entkommen, um jetzt jämmerlich zu ertrinken. In einem Schuppen. 

Vielleicht war es gut so. Vielleicht sollte sein Leben so enden. 

Nein, es war nicht gut! Er wollte nicht sterben! Nicht, ohne Moira noch einmal gesehen zu haben. 

Erneut riss er an den Handschellen, rief, so laut er konnte. Panik drohte in ihm aufzukommen. Er zog die Beine an und versuchte, sich mit aller Kraft vom Boden abzustemmen. Aber er rutschte ab, seine Sohlen fanden keinen Halt auf dem glitschigen Lehmboden, und seine gefesselten Hände hielten ihn unten. Und das Wasser stieg und stieg. 

»Duncan?« 

Die Verzweiflung ließ ihn schon Stimmen hören. War das eine Vision kurz vor dem Tod? 

»Duncan! O Gott, ich … ich dachte schon, ich wäre zu spät«, schluchzte die Vision und näherte sich ihm langsam. 

»Ann?«, fragte er ungläubig. 

Zitternd watete sie durch das Wasser, das ihr bis zum Oberschenkel ging, auf ihn zu. »Ich … ich hab gestern gesehen, wie man dich hier eingesperrt hat.« 

Als er sah, dass sie einen großen Schlüsselbund in der Hand hielt, hätte er vor Erleichterung fast laut aufgelacht. Ausgerechnet Ann kam zu seiner Rettung? 

»Wie kommst du an die Schlüssel?« 

»Von einem Aufseher. Ich … ich hab sie ihm abgenommen. Ich … ich glaube, er ist … tot.« 

»Tot?« Offenbar war wirklich einiges passiert. »Ann, du musst die Fesseln öffnen. Komm schon, beeil dich!« Großer Gott, wenn sie sich nicht etwas schneller bewegte, würde er hier doch noch ertrinken! 

Ann kniete sich neben ihn ins Wasser, das ihr auf diese Weise bis unter die Brust reichte, ihre Augen schwammen in Tränen. »Es … es tut mir leid«, stammelte sie. Wovon redete sie? Aber schon sprach sie weiter. »Weißt du – ich … ich war das, damals, mit dem Schinken. Ich habe ihn … im Kutschenhaus versteckt.« 

Für einen Moment vergaß Duncan die Gefahr. »Du? Wieso?« 

»Weil … weil … ich hatte Angst. Dass sie mich fortjagen würden, wo dich doch alle viel lieber hatten als mich. Und … und deswegen«, sie japste nach Luft, »habe ich dich und … und die Ma’am später auch an den Doktor verraten.« 

»Was?« Dieses kleine, hinterlistige – 

»Ich … ich wollte doch nur, dass sie dich wegschicken. Ich wusste doch nicht, dass sie … dass sie dich so schrecklich schlagen würden! Aber wieso bist du auch mit der Ma’am weggelaufen?« Sie stieß einen weiteren japsenden Schluchzer aus. »Ich … ich weiß, dass du böse auf mich bist, aber … sag … sag, dass du … dass du mir verzeihst!« 

»Was? Ann, dafür ist jetzt keine Zeit, du musst –« 

Sie heulte laut auf. »Ich … ich will aber nicht in die Hölle kommen!« 

Das Wasser schwappte beunruhigend nah unter seinem Kinn. 

»Ja!«, stieß er hervor und legte seinen Kopf in den Nacken. »Ja doch, ich verzeihe dir! Und jetzt beeil dich! Schließ die Fesseln auf! Sie sind an einem Ring festgemacht!« 

Ein erleichtertes Lächeln ging über Anns tränenfeuchtes Gesicht. Sie hielt ihm den Schlüsselbund hin, den sie die ganze Zeit über Wasser gehalten hatte. Ihre Hand zitterte stark, die Schlüssel klirrten. »Welchen?« 

»Was weiß ich? Nimm einfach irgendeinen.« 

Sie nickte und rutschte auf Knien zu dem Balken hinter ihm. Er merkte, wie sie seine Arme entlangtastete, hörte sie an seinem Rücken prusten und schnaufen. Großer Gott, warum tauchte sie nicht endlich unter? Die Wasserfläche näherte sich bedrohlich schnell seinen Lippen. Eine Kiste trieb auf ihn zu. Er spürte Anns Finger an seinen Händen, ein Tasten an den Kettengliedern der Handschellen, dann das Gefühl von Metall auf Metall … 

Ann kam wieder in sein Blickfeld. Ihre Haare waren trocken. »Es … es geht nicht!« Er konnte sie kaum verstehen, so laut weinte sie. »Und der … der Schlüsselbund ist mir … runtergefallen.« 

»Dann musst du ihn suchen.« 

»Das habe … ich ja!«, stieß sie hervor und erhob sich. »Aber … aber das Wasser ist so tief. Und … ich … ich kann nicht mit dem Kopf unter Wasser.« Sie sah ihn an, die Wimpern nass vor Tränen. »Es … es tut mir leid. Aber … ich … ich will nicht … auch … ertrinken.« Sie drehte sich um und watete heulend dem Ausgang zu. 

»Ann! Nein, Ann, bleib …« Er schluckte Wasser, hustete. 

Gütiger Gott im Himmel, was tat sie ihm hier an? Erneut zerrte er an den Fesseln, wand seine Handgelenke. Die Finger seiner rechten Hand bekamen etwas Hartes, Metallenes zu fassen, dann entglitt es ihnen wieder. Er öffnete den Mund, um Ann zurückzurufen, aber sofort drang gurgelnd Wasser in seine Kehle. 

Es war so weit. Gleich würde er ertrinken. Er keuchte. Legte den Kopf in den Nacken, umso lange wie möglich Luft zu haben. In seinen letzten Sekunden sollte er etwas Schönes … Moira … ihre kristallblauen Augen … o Herrgott, hilf … 

Seine linke Hand war frei! Irgendwie hatte er sie aus den Handschellen herauswinden können. Hatte der aufgewirbelte Lehm dabei geholfen? Oder hatte Ann doch eines der Schlösser geöffnet? Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn seine Rechte steckte nach wie vor in der Fessel und hielt ihn am Boden. 

Er schnappte nach Luft und tauchte unter, drehte sich um die eigene Achse und suchte den Boden des Schuppens nach dem Schlüsselbund ab. Seine eingeschlafenen Glieder sandten stechende Schmerzen durch seinen Körper. In der trüben Brühe sah er nahezu nichts, doch endlich spürte er das Gesuchte unter seinen tastenden Fingern und griff zu. Wertvolle Sekunden verstrichen, bis er einhändig einen Schlüssel herausgesucht und in das Schloss an den Handschellen gesteckt hatte. Er passte nicht. Der zweite Schlüssel. Auch nicht richtig. Allmählich ging ihm die Luft aus. Der dritte. Ebenfalls nichts. Passte denn überhaupt keiner? Am Schlüsselbund befanden sich sechs Schlüssel. Was, wenn keiner von ihnen der Richtige war? Seine Lungen brannten, Sterne tanzten vor seinen Augen, seine Bewegungen wurden fahriger. Endlich! Der fünfte Schlüssel rastete ein, eine Umdrehung, und die Handfessel öffnete sich. 

Er richtete sich auf und ließ Luft in seine ausgehungerten Lungen strömen. Streckte die zitternden Glieder. Spürte sein rasendes Herz schlagen und dankte Gott. Dann umklammerte er den Schlüsselbund und watete, unbeholfen wegen der Fußfesseln, an schwimmenden Kisten und Fässern vorbei durch das hüfthohe Wasser ins Freie. 

Ihm bot sich ein Bild der Verwüstung. Wind zerrte an Büschen und Bäumen. Der Toongabbie Creek war zu einer schlammbraunen Flut geworden, die Sträucher, Erde und Steine mit sich riss. Die Hälfte der Sträflingshütten auf der anderen Flussseite stand unter Wasser, ebenso einige Häuser der Siedler. Sträflinge schwärmten durch den Ort; offenbar hatten sie die allgemeine Verwirrung genutzt, um sich gegen ihre Wärter aufzulehnen. 

Samuel war schnell befreit. Der Boden des zweiten Vorratsschuppens, in dem der Hüne untergebracht war, war aufgrund seiner höheren Lage nur mit einer Handbreit Wasser bedeckt. 

Überall rannten Männer und Frauen umher, versuchten, ihr Hab und Gut zu retten, einige von ihnen schrien wie von Sinnen. Hinter einem der Häuser sah Duncan einen Mann liegen. War das der Aufseher, dem Ann die Schlüssel abgenommen hatte? Plötzlich raubte ihm die Sorge um Moira den Atem. 

Durch den Regen klang das helle Geräusch von Metall auf Metall. Bei der Schmiedestelle scharte sich eine Ansammlung von Sträflingen um den Amboss. Niemand hinderte sie daran, kein Aufseher war zu sehen. Auch Samuel hatte es bemerkt. 

Er lachte mit seinem tiefen Bass. »Endlich werde ich diese verdammten Fußfesseln los! Komm, alter Freund, auf zur Freiheit!« 

Und schon stapfte er durch das hier nur knöcheltiefe Wasser davon. 

»Ich komme nach«, rief Duncan ihm hinterher. Die Fesseln konnten warten. Moira! Wo war sie? 

Die kleine Brücke über den Fluss war gerade hoch genug, um nicht überflutet zu sein; das Wasser rauschte nur wenige Zoll darunter hinweg. So schnell es die schweren Ketten um seine Füße erlaubten, humpelte Duncan zu den Häusern der Siedler. Dort schwappte das Wasser nur einen Fuß tief, ein paar Holzschüsseln und Schachteln trieben darauf herum. Ob er dem Doktor begegnen würde? Und wenn schon. In diesem Chaos würde McIntyre ihm kaum die Aufseher auf den Hals hetzen. 

Vor dem Haus des Doktors stand Ann, klatschnass und zitternd. Sie schrie auf, als Duncan neben ihr auftauchte. 

»Du bist … du bist …« Sie wich einen Schritt zurück und schlug hastig das Kreuzzeichen. 

»Hör auf, ich bin nicht tot!« 

»Nicht?« Sie schien nicht ganz überzeugt. 

»Nein. Wo ist Moira?« 

Sie starrte ihn an, am ganzen Körper bebend, dann seufzte sie auf. »Ich … ich habe solche Angst!« 

»Es wird alles gut. Hörst du, Ann? Wo ist Mrs McIntyre?« Am liebsten hätte er sie geschüttelt. Stattdessen zog er sie zur Seite, um einer Holzschindel auszuweichen, die von einem Dach wehte. 

Ann zog die Nase hoch, etwas Leben kehrte in ihre Züge zurück. »Der Doktor und sie … sie haben sich so schrecklich gestritten! Wegen dir! Und … und jetzt ist die Ma’am weg, nach Parramatta! Ich hab gesehen, wie sie weggeritten ist.« 

»Zu Dr. Wentworth?« 

Ann schüttelte den Kopf. »Zum Gouverneur! Sie … sie will da um Gnade für dich bitten.« 

Moira war seinetwegen zum Gouverneur geritten? Ein warmes Gefühl von Liebe und Dankbarkeit stieg in ihm auf, gefolgt von Erleichterung. In Parramatta war sie in Sicherheit. 

Anns Augen waren schreckgeweitet. »Aber jetzt … jetzt wollen die … die anderen Sträflinge auch dahin.« 

»Zu Moira?« 

»Nein, zum Gouverneur«, flüsterte sie. »Sie … sie wollen ihn als Geisel nehmen!«