8. 

 

blumeDer Biss sah nicht sonderlich gefährlich aus. Die Handwurzel war leicht geschwollen und gerötet, die Bissstellen wirkten wie zwei nebeneinandergesetzte große Stiche. Alistair rückte seine Brille auf der Nasenspitze zurecht und bedachte den Gefangenen mit einem prüfenden Blick. »Eine Spinne, sagst du?« 

Der Mann, ein ausgezehrter älterer Sträfling, nickte. Die Muskeln um seinen Mund zuckten, als führten sie ein Eigenleben. Er musste große Schmerzen haben. 

»Schwarz und haarig. Sie saß unter einem Stein«, nuschelte er. Alistair hatte Mühe, ihn zu verstehen. 

»Er will sich nur vor der Arbeit drücken!«, warf der Aufseher ein, der ihn begleitete. 

Alistair schüttelte den Kopf. »Das zu beurteilen, Mr Grover, lasst doch bitte meine Sorge sein.« 

Der Sträfling simulierte nicht. Sein ganzer Körper sonderte Flüssigkeit ab; Schweiß strömte ihm über die Stirn, Tränen liefen ihm aus den Augen, und er schluckte in schneller Folge, als wäre auch der Speichelfluss erhöht. 

»Meine Zunge fühlt sich ganz komisch an«, stöhnte er. »Und mir ist –« 

Er drehte sich zur Seite und erbrach sich in eine Schüssel, die O’Sullivan ihm geistesgegenwärtig untergeschoben hatte. Der junge Sträfling war heute zum ersten Mal bei einer Behandlung dabei. 

»Das ist ja ekelhaft!« Angewidert wandte sich der Aufseher ab. 

Der Verletzte krümmte sich.  

»Bitte, Doktor«, flehte er, »helft mir! Lasst mich nicht sterben!« 

»Niemand wird hier sterben«, brummte Alistair. 

Allerdings war er nicht ganz sicher, wie in diesem Fall zu verfahren war. In Irland gab es keine Schlangen. Neusüdwales hingegen war voller unbekannter Gefahren. Das hatten vor allem die Gefangenen auf schmerzhafte Weise erfahren müssen.  

Alistair wusste bereits von drei Todesfällen unter den Sträflingen, die auf Schlangenbisse zurückzuführen waren. Von giftigen Spinnen allerdings hörte er heute zum ersten Mal. Am besten würde er vorgehen wie bei einem Schlangenbiss. 

Über dem Ellbogen des Sträflings hatte er bereits eine feste Bandage angebracht, um die Blutzufuhr zu unterbinden. Jetzt fixierte er Ellbogen und Handgelenk mit einer Schiene und holte ein Skalpell aus seiner ausgebeulten Arzttasche. 

»Was tut Ihr? Wollt Ihr mir die Hand abschneiden?« Der Gefangene keuchte erschrocken auf und entwickelte mit einem Mal Kräfte, die Alistair ihm gar nicht mehr zugetraut hätte. Er begann, sich auf dem Behandlungstisch zu winden und zu krümmen, bis O’Sullivan beide Hände auf seine Schultern legte. 

»Jetzt hör schon auf, Murphy. Der Doktor will dir helfen!« 

»Wenn er sich weiter so anstellt, überlege ich mir das noch mal«, fluchte Alistair. »Halte ihn gut fest!«  

Das Skalpell schnitt an der ersten Bissstelle in das Handgelenk. Und noch einmal, so dass eine kreuzförmige Wunde entstand. Bei jedem Schnitt stöhnte Murphy auf, Blut ergoss sich über seine Hand. Die gleiche Prozedur ein weiteres Mal, an der zweiten Bissstelle. 

Alistair ließ die Wunden bluten, bis der Strom versiegte, dann verband er die Schnitte. Er überlegte nur kurz, dann stand seine Entscheidung fest. Im Lazarett von Parramatta würde man auch nicht mehr für den Mann tun können. Er, Alistair, würde diesen Fall selbst beobachten. Mit einem Spinnenbiss würde er schon umgehen können. 

»Bringt ihn zurück ins Lager, in die Krankenhütte«, wandte er sich an Grover. »Und stellt einen Mann ab, der bei ihm bleibt. Ich komme in einer Stunde vorbei und sehe noch einmal nach ihm.« 

»Doktor, ich kann keinen Mann erübrigen!«, protestierte der Aufseher. Und dann, leiser, damit die beiden Sträflinge es nicht hören konnten. »Letzte Nacht ist einer der Gefangenen geflohen. Er wird nicht weit kommen, aber –« 

»Das interessiert mich nicht, Mr Grover. Dieser Mann benötigt Betreuung!« 

Der Aufseher verstummte, eingeschüchtert, wie Alistair hoffte, von seiner ärztlichen Autorität. 

Alistair wartete ungeduldig, bis der Aufseher mit dem Verletzten verschwunden war, dann wusch und trocknete er sich die Hände, zupfte seine Rockärmel zurecht und trat in den Flur. 

»Ann? Ann, verdammt noch mal, wo … Ah, da bist du ja. Ann, mach hier sauber. O’Sullivan, du kommst mit mir.« 

Alistair führte ihn ins Studierzimmer und schloss von innen ab. Eine Mischung aus Erwartung und Aufregung erfüllte ihn; es war ungewohnt, zu zweit in diesem Raum zu sein, den er sonst nur für sich nutzte. Aber von jetzt an konnte er nicht mehr alleine weitermachen. Eine halbe Stunde musste reichen, um herauszufinden, ob O’Sullivan sich eignete. 

Er ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen und musterte den jungen Sträfling, in dessen Augen er einen Hauch von Neugier zu sehen glaubte. Bisher war er zufrieden mit ihm, er hatte sich gut gemacht in den vergangenen Tagen. 

Alistair strich sich mit der Rechten über die rauen Haare seines Backenbarts. »Noch über sechs Jahre.« Er wog seine Worte genau ab. »Das ist eine lange Zeit. Was hieltest du davon, wenn ich mich beim Gouverneur für deine Begnadigung einsetzte? Dann könntest du früher freikommen. Stell dir das vor: ein freier Mann!« 

O’Sullivan hob den Kopf, doch so einfach ließ er sich nicht ködern. »Wieso solltet Ihr das tun?« 

»Du bist misstrauisch. Das kann ich verstehen. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Nun, ich brauche Hilfe. Bei meinen Forschungen.« 

O’Sullivans Blick ging kurz und suchend durch das kleine Zimmer, um sich dann wieder auf Alistair zu richten. »Ihr würdet Euch wirklich für meine Begnadigung einsetzen?« 

»Ja, das würde ich.« 

O’Sullivan zögerte nur kurz. »Was muss ich tun?« 

Gut so. Der erste Schritt war gemacht. Alistairs Anspannung stieg. »Zuerst brauche ich dein Versprechen: Von meinen Forschungen darf kein Wort nach draußen dringen! Zu niemandem! Ich muss mich darauf verlassen können!« 

O’Sullivan nickte. »Wenn Euch das Wort eines Sträflings etwas wert ist, dann habt Ihr es.« 

Alistair erhob sich, mit wenigen Schritten hatte er die Tür erreicht. Erneut versicherte er sich, dass sie abgeschlossen war, dann kramte er in seiner Westentasche nach einem Schlüssel. Das Vorhängeschloss seiner Truhe ließ sich nicht gleich öffnen – es brauchte dringend ein wenig Öl, aber Alistair vergaß es jedes Mal, sobald er sich wieder seinen Forschungen widmete. Er klappte die Truhe auf. Ordentlich geschichtet lagen dort Zeichnungen, Auszüge aus medizinischen Zeitschriften und eine dicke Ansammlung seiner eigenen Notizen und Ausarbeitungen. Er entnahm der Truhe ein Futteral aus rotem Samt und legte es auf den Tisch. 

»Gut. Dann also … Hast du«, er räusperte sich, um den Kloß in seiner Kehle wegzubekommen, »hast du schon einmal einen Schwertschlucker gesehen?« 

»Ja, Sir. In Waterford. Bei den Gauklern.« 

»Gut. Sehr gut.« 

O’Sullivan sah ihn fragend an. Alistair zögerte. Aber bis auf Major Penrith hatte er noch niemandem von seinen Plänen und Ideen erzählt; es drängte ihn danach, sich endlich jemandem mitzuteilen. 

»Ich bin dabei«, er schnürte das Futteral auf, »ein Gerät zu entwickeln, mit dem man in das Innere des Körpers sehen kann. Etwas wie dieses hier, nur länger, das man über den natürlichen Weg, den auch die Speise nimmt, bis in den Magen führen kann. Wie ein Schwertschlucker sein Schwert. Verstehst du, was ich meine?« 

O’Sullivan nickte zögernd. »Und was soll ich dabei tun?« 

»Du bist derjenige, der es herstellen wird.« Alistair öffnete das Futteral und holte das fingerdicke, knapp einen Fuß lange Röhrchen aus Zinn hervor, das er in Cork von einem Silberschmied hatte anfertigen lassen. Neben einer der Öffnungen befand sich ein kleines Loch, an dem eine Schnur befestigt war. »Außerdem brauche ich eine Versuchsperson.« Er reichte ihm das Röhrchen. »Sieh es dir ruhig an. Es ist natürlich noch zu kurz, und da ist das Problem mit der Beleuchtung. Aber für den Anfang wird es reichen.« 

»Die Schnur ist zum Zurückholen?« 

Alistair hob erstaunt eine Braue. »Du begreifst schnell.« Er hüstelte nervös. »Ich würde gerne einen Versuch mit dir durchführen.« 

»Jetzt?« O’Sullivan sah auf. Alistair hatte den Eindruck, als wäre der junge Sträfling ein wenig blasser geworden. 

»Ja. Aber ich muss wissen, ob du es dir zutraust. Ich kann dich nicht dazu zwingen.« 

»Nicht? Ihr könntet es einfach anordnen.« 

»Ich brauche dennoch dein Einverständnis. Wenn du dich wehrst, könntest du dich verletzen.« Alistair musste trotz des beengten Platzes ein paar Schritte tun. »Bedenke deine Antwort gut. Wenn du dich zu meiner Zufriedenheit verhältst, könntest du bald frei sein. Aber das ist es nicht allein. Du könntest teilhaben an einer großen Erfindung, an einer neuen, großartigen Entwicklung. Ein Blick in die verborgenen Geheimnisse des Körpers. Stell dir die Möglichkeiten vor, die diese Erfindung der Medizin eröffnet! Man wird die Ursache von Krankheiten direkt herausfinden können und wird nicht mehr angewiesen sein auf blinde Mutmaßungen.« 

Schwer atmend hielt er inne. Für ein paar Augenblicke hatte er sich gehenlassen, sich davontragen lassen von seiner Begeisterung und zu dem Sträfling wie zu einem Gleichrangigen gesprochen. »Was sagst du?« 

O’Sullivan hatte seinen Ausführungen stumm und fast ohne erkennbare Regung zugehört. Jetzt hielt er Alistair das Röhrchen hin. »Versucht es.« 

»Gut.« Alistair atmete auf. Die erste Hürde war genommen. Jetzt kam der wirklich schwierige Teil, schließlich hatte er bislang nur mit toten Tieren experimentiert. Er schob den Stuhl in die Mitte des Raums. »Setz dich.« 

Alistair trat hinter die Stuhllehne. Das Metall fühlte sich eiskalt in seiner Hand an, und dabei war es warm im Zimmer, so warm, dass er für einen Moment glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Feiner Schweiß sammelte sich auf seinen Handflächen, seine Hände zitterten leicht. Er wischte sie an seinem Rock ab und zwang sich zu einem tiefen Atemzug. Er musste unbedingt ruhiger werden. 

»Den Kopf in den Nacken. Noch mehr. Ja, gut so.« Alistair legte seine linke Hand unter das Kinn des Sträflings. So nah war er dem jungen Mann noch nie gewesen. Er sah die feuchte Haut von O’Sullivans Halsbeuge und das Pochen seiner Halsschlagader. »Schau zur Decke. Und jetzt entspann dich. Mach den Mund auf und versuch, den Würgereiz so lange wie möglich zu unterdrücken.« 

Es war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Als er das Röhrchen durch O’Sullivans Rachen schieben wollte, verkrampfte sich der junge Sträfling und fing an zu husten und zu würgen, als wäre er am Ersticken. Die Gefahr, dass er sich ernsthaft verletzte, war zu groß. Alistair zog das Röhrchen schnell wieder zurück. 

»Es tut mir leid«, murmelte O’Sullivan, als er wieder reden konnte. Er hustete erneut und wischte sich die Tränen aus den Augen. 

»Lass dir bloß nicht einfallen, dich hier zu übergeben!« Nagende Frustration machte sich in Alistair breit. Mit einem so frühen Rückschlag hatte er nicht gerechnet. War alles umsonst gewesen? All seine Forschungen, all die lange Zeit? 

»Du enttäuschst mich«, sagte er kalt und wischte das Zinnröhrchen mit einem Lappen ab. »So wird das wohl nichts mit der Begnadigung. Wie es aussieht, muss ich mir einen anderen Kandidaten suchen.« 

O’Sullivan war aufgestanden. Er unterdrückte ein Husten und räusperte sich. »Sir, das müsst Ihr nicht. Ich … ich bin sicher, dass ich es schaffen werde. Ich brauche nur etwas Zeit. Gebt mir … gebt mir zehn Tage … oder eine Woche. Dann wird es funktionieren!« 

Alistair verstaute das Röhrchen wieder im Futteral und sah ihn zweifelnd an. »Wirklich?« 

»Lasst es mich einfach versuchen. Wenn es dann nicht klappt, könnt Ihr … könnt Ihr mich zurückschicken ins Straflager.« 

Alistair sah ihn an, sah die Entschlossenheit in diesen grünen Augen und etwas, das ihn glauben lassen wollte. 

»Also gut«, sagte er. »Eine Woche.« 

* 

McIntyre hatte O-Beine. Während Moira jetzt hinter ihm herlief, fiel es ihr wieder einmal auf: Er watschelte wie eine große Ente. 

»Wie lange seid Ihr jetzt schon in Neusüdwales, Mrs McIntyre?« Anna King, die Frau des zukünftigen Gouverneurs, hatte sich bei ihr eingehakt. 

»Vier Monate«, gab Moira zurück. »Aber es kommt mir vor wie eine kleine Ewigkeit.« 

Anna King hob den Saum ihres hellen Musselinkleides und setzte grazil den Fuß über eine Schlammpfütze. Einen Sonnenschirm in der Hand, der an diesem trüben Tag allerdings nicht vonnöten sein dürfte, und mit einem Hütchen neuester Mode angetan, war sie der Inbegriff englischen Landadels. Sie war eine der schönsten Frauen, die Moira je gesehen hatte, und strahlte eine natürliche Würde aus. 

»Ich hoffe, Ihr werdet Euch ebenso schnell hier einleben wie wir.« Moira fielen nur Plattitüden ein. Und McIntyre war ihr auch keine Hilfe. 

Erneut warf sie einen besorgten Blick auf die vielen Soldaten und Konstabler, die mit dem Ehepaar King an diesem Vormittag in Toongabbie erschienen waren. Was dieser Auflauf wohl zu bedeuten hatte? Irgendetwas lag in der Luft, eine Spannung, die man fast mit Händen greifen konnte. Ein Großteil der Soldaten war ausgeschwärmt, Moira konnte die roten Uniformröcke überall leuchten sehen. Bei den Verwaltungsgebäuden standen weitere Offiziere; neben Mr King konnte Moira Lagerverwalter William Penrith erkennen und die hochgewachsene Gestalt von dessen Bruder, Major James Penrith. 

McIntyre hatte gerade den Sträflingen in der Krankenhütte einen Besuch abstatten wollen, als die Eheleute King in Toongabbie erschienen waren. Sie machten hier kurz Station, bevor sie nach Parramatta und zu den Siedlungen am Hawkesbury weiterreisten. 

»Sagt, Dr. McIntyre«, hatte Mrs King mit Blick auf McIntyres zerbeulte Arzttasche gefragt, »würde es Euch etwas ausmachen, wenn Eure Frau und ich mitkämen? Ich bin sicher, diese armen Gestalten würden sich über zwei mitfühlende Seelen freuen.« 

»Oh, nun … ja, warum auch nicht?« McIntyre war mindestens so überrascht wie Moira selbst gewesen. Sie begleitete ihren Mann sonst nie bei seinen Konsultationen, aber diese Bitte hatte sie schwerlich ablehnen können. Und so hatten sie sich zu dritt auf den Weg gemacht. Mrs King war eine angenehme Begleitung. Moira hatte so wenig weibliche Gesellschaft – noch weniger, nachdem McIntyre ihr die Besuche bei Elizabeth untersagt hatte –, dass der kurze Weg ins Straflager viel zu schnell vorüber war. 

Die Sträflinge waren bei der Arbeit. Nur die Krankenhütte am Rande des Lagers war belegt; hier waren die Gefangenen untergebracht, die nicht so schwer erkrankt waren, als dass man sie ins Lazarett von Parramatta hätte bringen müssen. 

»Ihr erlaubt?« McIntyre öffnete die geflochtene Tür und ging als Erster hinein. Die Frauen folgten ihm. Durch ein winziges Fenster drang gedämpftes Licht. Zwei Männer befanden sich in der Hütte, in der Luft hing der Geruch von Fieber und Krankheit. Moiras Blick fiel auf die halb aufrecht schlafende Gestalt auf der rechten Seite. Es war der hünenhafte Gefangene, den sie auf der Minerva gesehen hatte. Schwere Fesseln umschlossen seine Hand- und Fußgelenke, und Verbände zogen sich um seinen Oberkörper. 

»Der arme Mann!« Mrs King schüttelte den Kopf. »Was hat er verbrochen, dass man ihn dermaßen bestraft?« 

»Fluchtversuch«, erwiderte McIntyre lakonisch, sah sich einen Augenblick suchend um und stellte seine Tasche dann auf den nackten Boden. 

»Das ist … barbarisch!« 

McIntyre hob die Schultern. »Wir sind hier in einem Straflager, Eure Exzellenz.« 

»Bitte, Dr. McIntyre, sagt Mrs King zu mir. Noch ist mein Gemahl nicht Gouverneur.« 

»War er auch dabei?« Moira deutete auf den anderen Gefangenen, der unter der verschlissenen Decke kaum auszumachen war. 

»Nein, das war ein Spinnenbiss«, erklärte McIntyre. »Inzwischen müsste es ihm bessergehen.« 

Die schweren Ketten klirrten, als der Hüne sich bewegte. »Wasser«, stöhnte er. Seine Lider flatterten, dann öffnete er die Augen. 

Mrs King raffte ihr Kleid und beugte sich zu ihm hinunter. 

»Bitte«, sagte Moira rasch, »Mrs King, Ihr solltet nicht …« 

»Aber warum denn nicht?« Anna King griff nach der Schöpfkelle, die in einem Wassereimer stand, füllte einen Becher und reichte ihn dem Gefangenen. »Hier, trinkt.« Sie half ihm, als sie merkte, dass er Mühe hatte, den Becher zu halten. »Wie ist Euer Name?« 

»Fitzgerald«, murmelte er und sah von seinem Becher auf. »Samuel Fitzgerald, Ma’am. Seid Ihr ein Engel?« 

»Frag nicht so etwas Dummes!«, fuhr McIntyre ihn an. »Die Lady ist Mrs Anna King, die Frau des zukünftigen Gouverneurs von Neusüdwales!« 

»Für welches Verbrechen hat man Euch in dieses Land geschickt, Mr Fitzgerald?« 

Der Hüne blinzelte sie an. »Raub, Ma’am. Und Angriff auf einen Konstabler. Er hat mich –« 

Er verstummte, als ein Aufseher hereinkam. 

»Doktor, auf Anordnung von Lagerverwalter Penrith muss ich Euch und die Damen bitten, diesen Platz zu verlassen. Die Hütten werden durchsucht. Es heißt, einige Gefangene würden einen Aufstand planen.« 

Moira sah den Aufseher entsetzt an. »Einen Aufstand?« 

McIntyre hingegen besann sich auf seine ärztlichen Pflichten. »Ich muss mich um diese Gefangenen kümmern. Sie –« 

»Gebt Euch keine Mühe mit Fitzgerald!«, fiel ihm der Aufseher ins Wort. »Wenn der abkratzt, ist es nicht schade um ihn. Nicht wahr, du Ratte?« Er gab dem Hünen einen Tritt in die Seite. 

»Wie könnt Ihr nur so über einen Menschen reden?«, empörte sich Mrs King. Sie war aufgestanden und klopfte sich den Staub vom Kleid. »Niemand verdient es, so behandelt zu werden!« 

Der Aufseher hob die Schultern. »Nun, der hier schon, Ma’am. Wenige Meilen von hier haben wir ihn wieder eingefangen. Er hat sich gewehrt wie ein Verrückter. Drei Konstabler hat er dabei verletzt. So einem gehört es nicht besser.« 

»Könnt Ihr einem Mann absprechen, dass er sich nach Freiheit sehnt?«, gab Mrs King zurück. »Was geschieht mit ihm?« 

»Sobald er wieder stehen kann, kommt er nach Norfolk Island. Dort wird man ihm die Flausen schon austreiben.« 

»Norfolk Island? Dieser Mann soll auf die Teufelsinsel?« Mrs King schüttelte den Kopf und drehte sich noch einmal zu dem gefesselten Gefangenen um. »Mr Fitzgerald, es hat mich gefreut, Euch kennenzulernen. Und seid versichert: Ich werde mich Eures Falls annehmen. Über Norfolk Island ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kommt, Dr. McIntyre, wir wollen den Ordnungshütern nicht länger im Wege stehen.« 

»Sofort«, gab McIntyre zurück. »Ich bin gleich fertig.« 

Mrs King ging hinaus. Moira, die mit McIntyre in der Hütte geblieben war, sah, wie Fitzgerald ihr nachblickte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck fast religiöser Verklärung. 

»Und sie ist doch ein Engel«, hörte sie ihn flüstern. 

Von draußen konnte man Stimmen und Rufe vernehmen. Dann steckte ein Soldat den Kopf zur Tür herein. »Ist Dr. McIntyre hier?« 

Dieser drehte sich unwirsch um. »Was ist denn? Könnt Ihr nicht sehen, dass ich beschäftigt bin?« 

»Doktor, Major Penrith wünscht Euch zu sprechen. Sofort.« 

McIntyre trat zu dem anderen Kranken. »Lasst mich nur kurz –« 

Er zog die Decke zur Seite. Moira schlug sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu ersticken. Der Gefangene, der da vor ihnen lag, war tot, sein Gesicht schwärzlich angelaufen, die Züge verkrampft und im Schmerz erstarrt. 

Der Soldat warf nur einen kurzen Blick auf die Leiche. »Sir, wenn Ihr Major Penriths Aufforderung nicht augenblicklich Folge leistet, könnte man Euch verdächtigen, gemeinsame Sache mit den Sträflingen zu machen!« 

»Was?« McIntyre sah abwesend auf. Der Tod des Gefangenen schien ihn erschüttert zu haben. »Ja«, murmelte er. »Ja, ich komme.« 

* 

Bis vor kurzem hätte Moira gedacht, dass ihr kaum ein Mensch mehr zuwider sein konnte als ihr eigener Mann, aber es gab eine Steigerung. McIntyre war einfach nur eklig, Major Penrith dagegen war von einem ganz anderen Kaliber. Dabei konnte sie gar nicht wirklich benennen, was es war, das sie an diesem aalglatten Major so sehr störte. Und jetzt musste sie auch noch eingehakt neben ihm laufen. Er hatte ihr galant seinen Arm angeboten, als sie aus der Krankenhütte gekommen war, und was war ihr anderes übriggeblieben, als anzunehmen? 

McIntyre trottete gedankenversunken neben ihnen her, während Mrs King bereits von einem anderen Offizier zurück eskortiert wurde; der zukünftige Gouverneur wünsche abzureisen, hatte man ihr mitgeteilt. Moira konnte die beiden in einiger Entfernung vor sich sehen. Hinter ihnen stürmten die Soldaten und Aufseher die Hütten der Sträflinge und durchsuchten sie. Sie bezwang sich, um sich nicht schon wieder umzudrehen. Ihre Gedanken jagten sich. Planten die Sträflinge tatsächlich einen Aufstand? Was hatten sie vor? Wer war daran beteiligt? Und war womöglich ihr eigenes Leben in Gefahr? 

»Ihr seid so schweigsam, Mrs McIntyre«, sagte Major Penrith. »Fürchtet Ihr Euch?« 

»Nein!«, gab sie patzig zurück – um sofort wieder einzulenken. Sie konnte sich nicht erlauben, dermaßen unfreundlich zu sein. »Nein, Major, das tue ich nicht. Ich bin höchstens etwas besorgt.« Sie zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln, das sofort wieder von ihrem Gesicht verschwand, als der Major sie nicht mehr ansah. 

»Das müsst Ihr nicht. Es ist gut, dass wir frühzeitig informiert wurden. So können wir den Funken des Aufruhrs im Keim ersticken.« 

»Dann glaubt Ihr, dass etwas dran ist an diesen Gerüchten über einen Aufstand?« 

Penrith nickte. »Aber natürlich! Diese Sträflinge setzen sich größtenteils aus der untersten Klasse der irischen Nation zusammen. Und die Iren sind bekanntermaßen eine der wildesten, ungebildetsten und primitivsten Nationen, die je vom Licht der Zivilisation gestreift wurden.« 

»Dann ist es also eine große Ehre für uns, dass Ihr Euch mit dem Doktor und mir abgebt«, konnte Moira sich nicht zurückhalten. »Schließlich gehören auch wir zu jenem primitiven Menschenschlag.« 

Der Major lachte. »Versteht mich nicht falsch, Mrs McIntyre, ich spreche natürlich nur von den irischen Katholiken. Seid Ihr nicht auch der Meinung, dass sie frei sind von jedem Prinzip der Religion oder Moral? Und da sie nie über Konsequenzen nachdenken, sind sie fähig, kaltblütig die schändlichsten Akte zu begehen. Stets sind sie offen für Rebellion und Mutwillen – das dürftet Ihr doch selbst in Eurem Heimatland gemerkt haben. Wisst Ihr, wie viele verurteilte Rebellen in den vergangenen Monaten hier eingetroffen sind? Mehr als einhundertfünfzig! Und da glaubt Ihr, dieses Gesindel würde hier nicht das Gleiche versuchen wie in seiner Heimat?« 

»Sie haben nur ihre Rechte verteidigt«, konnte Moira sich nicht zurückhalten. 

»Da habt Ihr wohl eine kleine Revolutionärin geheiratet, McIntyre«, wandte sich der Major mit einem spöttischen Lächeln an ihren Mann. »Gebt nur acht, dass sie eines Tages nicht gegen Euch aufbegehrt!« 

Sie hatten ihr Haus erreicht. Aber falls Moira gehofft hatte, nun von der Anwesenheit des Majors erlöst zu sein, hatte sie sich getäuscht. 

»Wie sieht es aus, McIntyre?«, fragte er. »Gewährt Ihr mir Eure Gastfreundschaft, bis wir die Schuldigen gefunden haben?« 

»Selbstverständlich«, erwiderte McIntyre. »Es wäre mir eine Ehre, Major.« 

Ein wenig befriedigte es Moira, dass er sich in der Gegenwart von Major Penrith genauso unwohl zu fühlen schien wie sie selbst. 

»Ich habe von dem Vorfall mit dem Aufseher gehört, Mrs McIntyre«, sagte der Major, während sie die drei hölzernen Stufen zu ihrer Veranda hinaufstiegen. »Das muss ein großer Schock für Euch gewesen sein.« 

Wie schnell sich diese Nachricht doch verbreitete! Moira hätte am liebsten ein Tuch des Vergessens darüber gebreitet. Aber natürlich – der Major musste von seinem Bruder William davon erfahren haben. 

»Das war es«, gab sie einsilbig zurück. 

»Ich hörte auch, dass einer der Sträflinge Euch beigestanden hat. Wie war noch gleich sein Name? O’Sullivan?« 

Moira nickte. Es behagte ihr nicht, mit welcher Hartnäckigkeit der Major auf dieser Sache herumritt. Und dass er offenbar genau Bescheid wusste. 

»Und jetzt arbeitet er für Euch? Ist Euch bewusst, dass es sich bei dem Mann um einen verurteilten Rebellen handelt?« 

»Er hat eine Chance verdient. Und unser Vertrauen.« 

»Welch hehre Worte. Ich wäre an Eurer Stelle allerdings nicht zu vertrauensselig.« Der Major blieb stehen, um Moira den Vortritt ins Haus zu lassen. 

Sie gingen in die Wohnstube, wo Ann gerade mit einem Tuch den Eckschrank säuberte. Ihre Augen wurden vor Schreck kugelrund, als sie den Major erblickte. 

»Ah, da ist ja die Dirne, die Ihr mir auf der Minerva abspenstig gemacht habt.« Der Major ließ sich ungefragt auf einem Stuhl nieder. 

»Bring uns etwas zu Trinken«, forderte McIntyre Ann auf. »Und dann –« 

»Lasst nur, McIntyre, das hat Zeit.« Der Major blickte das Mädchen scharf an. »Wie heißt du?« 

Ann ließ vor Schreck das Tuch fallen und wich langsam zurück, bis sie hinter einem Stuhl stand. »Ich, Sir?« 

»Natürlich du. Rede ich etwa das Kauderwelsch der Wilden?« 

»Nein, Sir. Ann. Ann … Hutchinson.« 

»Komm her, Ann. Ich will dich ganz sehen!« 

Ann trat langsam zur Seite, die Finger um die Stuhllehne gekrallt. Ihre Knöchel waren weiß. 

»Wo schläfst du, Ann?« 

Ann sah ihn verschreckt an. »In … Hinter …« Ihre Stimme brach. 

»Lauter, Mädchen, ich verstehe dich nicht!« 

»Sie hat eine kleine Kammer hinter der Küche«, sprang Moira ein. Auch sie war von einer vagen Unruhe erfüllt. 

»Es ist sehr liebenswürdig, Mrs McIntyre, dass Ihr Euch bemüßigt fühlt, der Dirne beizustehen, aber ich will es von ihr selbst hören. Also, was hast du mir zu sagen?« 

Ann deutete mit einem zitternden Finger in die entsprechende Richtung. »Dort, Sir.« 

»Sag mir, Ann, was weißt du von Plänen für einen Aufstand der Sträflinge?« 

»N… nichts, Sir.« 

»Versteckst du vielleicht Waffen in deiner Kammer? Oder Diebesgut?« 

»N… nein, Sir.« Anns Stimme war kaum mehr als ein Hauch. 

»Wie bitte?« 

»Nein, Sir, ich … das tue ich nicht.« 

»Ich glaube dir nicht. Weißt du, welche Strafe dir blüht, wenn du mich belügst?« 

Ann schüttelte stumm den Kopf. Es tat Moira weh zuzusehen, wie der Major das Mädchen mit seinen Fragen quälte, aber ein winziger Teil in ihr war unsicher, ob er nicht doch recht hatte. Ann hatte sie schließlich bestehlen wollen. 

»Die Neunschwänzige wird dir den Rücken gerben.« Der Major erhob sich. »Dann wollen wir uns diese Kammer doch einmal ansehen.« 

Anns Kammer zu durchsuchen erwies sich als schnelle Angelegenheit. Es gab nicht viel: eine einfache Schlafstatt mit einer Decke, einen Tisch, einen Stuhl, drei Haken an der Wand, an denen ein Schultertuch und ein langes Hemd hingen. Dennoch bestand der Major darauf, dass Ann jedes einzelne Teil in die Hand nahm und ihm zeigte. Als er endlich zufrieden war, war das Mädchen kreidebleich und bebte wie ein Blatt im Wind. 

»Nun«, sagte er. »Ich will dir fürs Erste glauben.« 

»Wollt Ihr vielleicht auch noch unsere Schlafkammer durchsuchen?«, konnte Moira sich nicht verkneifen. 

»Wenn Ihr es wünscht …« Der Major lächelte sie anzüglich an. 

Zurück in der Wohnstube, trat er ans Fenster, schob den Vorhang zur Seite und blickte hinaus, als wartete er auf jemanden. Moira wünschte inständig, er würde wieder gehen. 

»Was machen Eure Forschungen, McIntyre?« 

»Oh, sie … sie sind zurzeit etwas ins Stocken gekommen, Sir. Aber ich bin sicher, dass ich bald fortfahren kann.« 

»Sicher.« Der Major trat vom Fenster weg und sah Moira an. »Mrs McIntyre, was sagt Ihr zu den Plänen Eures Gatten? Sind sie nicht höchst revolutionär?« 

Fast hätte Moira schnippisch erwidert, dass ihr Gatte sie leider nicht in seine Arbeit einzuweihen pflege. Diese Blöße aber wollte sie sich nicht geben. Nicht vor diesem unangenehmen Menschen. Und so sagte sie nur: »In der Tat, Major, das sind sie. Ich bin sehr stolz auf ihn.« 

Sie fing einen erstaunten Seitenblick von McIntyre auf. Bis jetzt hatte sie nicht herausfinden können, was er eigentlich tat, wenn er sich stundenlang in sein Studierzimmer zurückzog. Forschte er an einem neuen Heilmittel? Oder beschäftigte er sich mit etwas Verbotenem? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Nicht bei diesem verknöcherten alten Bock. Aus den hingekritzelten Notizen, auf die sie manchmal einen kurzen Blick werfen konnte, wurde sie nicht schlau. 

Der Major sah sie skeptisch an. »Dann ist Euch sicher auch bekannt, dass er mich um Unterstützung bei seinen Forschungen gebeten hat?« 

»Natürlich«, gab Moira kühl und ohne mit der Wimper zu zucken zurück, obwohl sie nichts dergleichen wusste. »Und? Kann er damit rechnen?« 

Der Major lachte auf. »Ihr seid ein gewitztes Frauchen, Mrs McIntyre. Wie steht Ihr zu dieser Erfindung?« 

In Moiras Kopf wirbelten die Gedanken. Sollte sie das Spiel weitertreiben? Alles oder nichts, beschloss sie. »Es ist ein großartiges Geschenk an die Menschheit. Schon bald wird niemand mehr darauf verzichten wollen«, behauptete sie ins Blaue hinein. 

»Tatsächlich?« Die Belustigung des Majors war nicht zu übersehen. Er wackelte mit dem Zeigefinger. »Mrs McIntyre, hört auf, mich zu foppen. Ihr wisst nicht das Geringste darüber!« 

Moira schwieg pikiert, während sich der Major wieder dem Fenster zuwandte. »Ah, na also.« 

Wenig später klopfte es laut an der Tür. Ein Soldat erschien auf der Schwelle und salutierte vor Penrith, dann zogen sie sich auf die Veranda zurück. Moira beobachtete, wie der Soldat Meldung machte, wie der Major nickte und den Mann schließlich entließ. Er sah nicht sonderlich zufrieden aus. 

Moira konnte ihre Unruhe nicht länger zügeln. »Hat man etwas gefunden?«, wollte sie wissen, als der Major wieder eintrat. 

»Noch nicht. Aber einer der Gefangenen hat geredet.« Der Major machte eine bedeutungsschwere Pause. »Er sagte, einige Sträflinge hätten Piken hergestellt. Wenn wir sie finden, haben wir die Aufrührer.« 

Piken? Moiras Herz begann laut zu pochen, ihr wurde heiß und kalt zugleich. Hatte man nicht O’Sullivan deswegen verurteilt? Aber er wäre doch wohl nicht so dumm und … 

Der Major hatte sie offenbar genau beobachtet. »Habt Ihr jemanden im Verdacht, Mrs McIntyre?« 

Obwohl ihr das Herz schier aus dem Brustkorb springen wollte, brachte sie es fertig, die Frage ruhig zu verneinen. 

Der Major ließ sich nicht täuschen. »Genug der schönen Worte. Wo ist O’Sullivan?« 

Sie kam sich vor, als ginge sie zu einer Hinrichtung, als sie und McIntyre den Major zum Kutschenhaus führten. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. O’Sullivan war auf dem Platz vor dem Kutschenhaus damit beschäftigt, eines der Pferde zu bürsten. Bei ihrem Anblick legte er den Striegel zur Seite. Moira senkte den Kopf. Der Puls klopfte in ihren Ohren. 

»Ah, das ist also der große Held.« Der abfällige Ton in der Stimme des Majors war nicht zu überhören. »Wie ich gehört habe, kommst du aus Irland. Ein weiterer irischer Bastard also. Ich habe mich über dich erkundigt. Man hat dich zum Tode verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer rebellischen Vereinigung. Dann wurde das Urteil in sieben Jahre Verbannung umgewandelt.« Der Major trat näher an ihn heran. »Hätten sie dich mal lieber aufgehängt. Dann müssten wir uns hier nicht mit Abschaum wie dir herumschlagen.« 

Moira schluckte. O’Sullivans Miene blieb unbewegt. 

»Hast du mir irgendetwas zu sagen?« 

O’Sullivans Blick begegnete kurz dem des Majors, dann senkte er die Lider. »Nein, Sir.« 

»Wo hast du die Waffen versteckt?« 

»Major, Ihr verdächtigt diesen Mann völlig grundlos«, ergriff Moira das Wort, bevor O’Sullivan antworten konnte. »Er hat mir geholfen. Er hat mich aus großer Bedrängnis gerettet!« 

»Allerdings«, sagte der Major. »Und das wundert Euch nicht? Seid Ihr wirklich so naiv zu glauben, das alles wäre rein zufällig geschehen? Ich denke vielmehr, dass er sich damit ganz bewusst in Euer Vertrauen geschlichen hat. Wahrscheinlich steckte er mit dem Aufseher unter einer Decke.« 

»Was?« Moira war viel zu empört, um jetzt noch an sich halten zu können. Sie war kein Sträfling. Sie konnte sich gegen diese Unterstellung verwahren. »Ihr könnt nicht einfach solche Sachen behaupten. Ihr habt –« 

McIntyre packte sie am Arm und bedeutete ihr mit finsterer Miene, den Mund zu halten. Glaubte er etwa auch, dass O’Sullivan etwas zu verbergen hatte? 

Der Major hatte ihren Einwand kaum zur Kenntnis genommen. »Ah, da kommt ja die Verstärkung.« Penrith trat vor, als der Soldat von vorhin mit drei weiteren Gefährten dazukam. »Durchsucht das Kutschenhaus. Gründlich! Auch die Pferdeverschläge und den Heuboden! Er muss die Piken hier irgendwo versteckt haben!« 

O’Sullivan hob den Kopf. »Ich habe nichts versteckt!« 

Der Major sah ihn an, als wäre der Sträfling ein Insekt, das an seiner Schuhsohle klebte. »Du wagst es, mich ungefragt anzusprechen?« Er zückte seine Pistole und richtete den Lauf wie beiläufig auf O’Sullivans Schläfe. »Auf die Knie mit dir!« 

Dieser gehorchte – mit Bewegungen, die wie eingefroren wirkten. 

Der Daumen des Majors bewegte sich, spannte den Hahn. »Für diese Impertinenz könnte ich dich jetzt einfach erschießen. Und vielleicht sollte ich das auch.« 

Moira hatte das Gefühl, als würden sich ihre Adern mit Eis überziehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Das dürft Ihr nicht, Major!« 

»Nein? Wer verbietet es mir? Der Gouverneur?« Er lachte auf. »Gouverneur Hunter ist nicht hier, und der zukünftige Gouverneur ist unterwegs zum Hawkesbury. Niemand kümmert sich um einen erschossenen Sträfling!« 

»Ihr müsst etwas tun«, wandte sich Moira verzweifelt an ihren Mann. »Sagt doch etwas!« 

McIntyre stand da wie erstarrt. In seinen Augen las sie Erschrecken. »Sir, Major, bitte, ich … ich brauche ihn noch«, sagte er lahm. 

»Tatsächlich?« Der Major rührte sich nicht einen Zoll. »Ihr bekommt einen anderen.« 

Eine quälend lange Zeit verging, in der sich niemand zu rühren wagte. Dann endlich löste der Major den Hahn und senkte die Pistole. 

Moira fühlte sich, als hätte man sie geprügelt. Erst jetzt merkte sie, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, sie zitterte, in ihren Augenwinkeln tanzten Flecken. Sie wagte nicht, O’Sullivan anzusehen. Er hatte nichts versteckt. Ganz sicher nicht. O bitte, lieber Gott … Durch die geöffnete Tür sah sie, wie die Soldaten im Kutschenhaus Satteldecken hervorzerrten, die Pferdeverschläge durchsuchten und auch vor den Kutschen nicht haltmachten. Schließlich versammelten sich die Soldaten wieder auf dem Platz vor dem Gebäude. 

»Major, Sir, wir haben nichts Verdächtiges gefunden.«  

Moira atmete unhörbar aus. 

Penrith schien enttäuscht. »Nichts? Wirklich gar nichts?« 

»Nein, Major, nichts. Er scheint unschuldig zu sein.« 

»Wenn ich Eure Meinung hören will, Sergeant, werde ich danach fragen!« Der Major sah O’Sullivan mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich traue dir nicht. Nicht das kleinste bisschen.« Er wandte sich an McIntyre. »Habt ein Auge auf ihn. Dieses irische Gesindel ist hinterlistig und durchtrieben.« 

Erst jetzt bemerkte Moira die Gruppe von Leuten, die sich um sie herum eingefunden hatten. Und dort, am Buschrand, keine hundert Schritte entfernt, zeigte sich plötzlich eine vertraute Gestalt: July und ihr Dingo. Das war kein guter Zeitpunkt. Moira schüttelte den Kopf und gab ihr ein Handzeichen, das andeutete, sie solle verschwinden. 

Der Major folgte ihrem Blick. Im nächsten Moment riss er die Pistole hoch und zielte auf das Mädchen. 

»Nein!«, schrie Moira, aber da hatte er schon abgedrückt. 

Der Schuss knallte durch die Luft wie ein Peitschenschlag. Moira keuchte entsetzt. Alles Leben schien zu ersterben, die Vögel hörten auf zu singen, bleierne Stille legte sich über den Vormittag. Auch die Zuschauer waren vor Schreck zurückgewichen. Das Mädchen und der Dingo waren verschwunden. 

»July!«, rief sie und wollte loslaufen. 

»Bleib hier!«, zischte McIntyre sie an und hielt sie zurück. »Reiß dich zusammen!« 

»Aber er hat auf sie geschossen!« 

Ihr Blick fiel auf O’Sullivan, der noch immer auf dem Boden kniete. In seiner Miene fand Moira ihre eigene Fassungslosigkeit gespiegelt. 

Der Schuss hatte noch mehr Einwohner von Toongabbie herbeigelockt. Von allen Seiten erhoben sich jetzt neugierige oder bestürzte Stimmen. 

»Geht nachsehen«, befahl der Major seinen Soldaten und deutete mit der Waffe auf das Dickicht. 

Es drängte Moira, selbst in den Busch zu laufen und nach July zu suchen, doch sie konnte nur stumm dastehen und warten, voller Angst, den schmalen, toten Körper des Mädchens in den Händen eines Rotrocks zu sehen. 

Nach kurzer Zeit kehrten die Soldaten zurück. 

»Major, Sir, da war nichts«, berichtete einer. »Aber an ein paar Blättern klebt Blut.« 

»Wie bedauerlich. Die Wilde hätte sich gut in meiner Trophäensammlung gemacht. So wird sie wohl im Busch verrecken.« Der Major ließ seine Fingergelenke knacken. »Bringt mir mein Pferd!« 

Moira konnte es kaum erwarten, bis er endlich aufgestiegen war. Das Rot seines Uniformrocks tat ihr plötzlich in den Augen weh. 

»Für heute bist du noch einmal davongekommen«, wandte er sich an O’Sullivan. »Aber ich beobachte dich. Und irgendwann werde ich dich hängen sehen.« 

Dann ritt er mit seinen Männern davon.