9.
Geschüttelt von trockenem
Würgen ließ Duncan den Löffel sinken, aber da er noch nichts
gegessen hatte, kam nur heiße, brennende Galle. Er spuckte die
ätzende Flüssigkeit ins Stroh, schloss die Augen und atmete
mehrmals stoßartig ein und aus. Er wartete, bis sich sein rasender
Herzschlag wieder beruhigte, dann nahm er ein paar kleine Schlucke
aus der Wasserflasche, um den widerwärtigen Geschmack
wegzubekommen.
Sein Hemd klebte ihm am Körper, die Haare im Nacken waren feucht vor Schweiß, und seine Kehle brannte, als hätte er mit Nägeln gegurgelt. Normalerweise klappte es morgens am besten. Wieso heute nicht? Im gleichen Maß, wie das Zittern nachließ, stieg die Verzweiflung in ihm auf. Es dauerte so viel länger und war so viel mühsamer, als er gehofft hatte. Und jetzt dieser Rückschritt. Er würde es nie schaffen. Dann würde der Doktor ihn zurück auf die Felder schicken. Zurück zu Schlägen, mörderischer Arbeit und halben Rationen. Ohne die Möglichkeit einer frühzeitigen Begnadigung.
Reiß dich zusammen!, sagte er sich und holte tief Luft. Noch war nichts verloren.
Er öffnete die Augen. Ein Sonnenstrahl schien durch die Bretterwände des Kutschenhauses und beleuchtete die Gegenstände, die neben ihm im Stroh lagen: einige lange Riedgräser, ein Löffel und ein Stück Draht mit einer winzigen Schlaufe am Ende; Dinge, die völlig harmlos wirkten, wenn man nicht gerade versuchte, sie sich in die Kehle zu stecken.
Duncan spürte, wie sich seine Magenwände erneut zusammenzogen, aber es gelang ihm, die Übelkeit zu unterdrücken. Jeden Morgen und jeden Abend übte er, seit fünf Tagen schon. Anfangs hatte er sich einfach nur den Finger in den Hals geschoben. Später probierte er es mit den anderen Sachen. Angehende Schwertschlucker machten es sicher nicht anders. Wenn er nichts im Magen hatte, konnte er den Würgereiz am besten kontrollieren. Ein paar Sekunden hielt er es inzwischen aus. Noch viel zu wenig. Aber immerhin ein Anfang. Jetzt musste es ihm nur noch gelingen, an etwas anderes zu denken.
Etwas anderes. Als hätte er sie gerufen, erschien die zierliche Figur von Mrs McIntyre vor seinem geistigen Auge. Die Strähne schwarzen Haares, die sich immer wieder vorwitzig aus der Haube hervorkämpfte und sich wie eine Liebkosung an ihre Wange schmiegte. Die Bibel in ihren Händen mit den viel zu kurzen Fingernägeln, die aussahen, als hätte sie sie abgekaut. Ihre feinen Züge, die ein Kribbeln in seinem Bauch weckten, wenn er nur an sie dachte. Nein, das war keine gute Idee. Er dachte viel zu oft an sie. Entschlossen drängte er sie aus seinem Kopf.
»Vater unser …«, begann er wortlos. Ja, das würde gehen. Beten hatte bisher fast immer geholfen.
»Der Du bist im Himmel …«
Erneut fasste er den Löffel an der Kuhle und lehnte sich mit dem Rücken an einen Heuhaufen; bei einem seiner ersten Versuche hatte er das versäumt und den Löffel fast verschluckt. Dann legte er den Kopf in den Nacken und probierte es aufs Neue.
So hatte er es schon immer getan. Abhärtung durch Gewöhnung. Duncan hatte früh gemerkt, dass er anders war. Er empfand vieles intensiver als die meisten Menschen. Wo andere nur Vogelzwitschern hörten, vernahm er die Vielfalt der einzelnen Klänge. Wo andere nur den Wind spürten, konnte er seine Düfte schmecken. Krach oder Missklang waren ihm zutiefst zuwider. Auf der Jagd oder im Umgang mit Tieren war diese erhöhte Sensibilität sicher nützlich, aber nicht bei den Dingen des täglichen Lebens. Dort war es nur von Nachteil, wenn man auf jeden Reiz so stark reagierte.
Er hatte es gehasst. Und das Einzige getan, was ihm übrigblieb: sich daran gewöhnt. Sich abgehärtet, indem er sich den unterschiedlichsten Reizen immer wieder aussetzte. Er hatte beharrlich geübt und sich nicht geschont. Aber an Tagen wie diesen wünschte er sich, aus etwas einfacherem Holz geschnitzt zu sein.
»… und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
Würgend ließ er den Löffel ins Stroh fallen. Zwei Vaterunser! Es war ihm zwei Vaterunser lang gelungen, den Brechreiz zu unterdrücken und stillzuhalten – auch wenn er ein wenig geschummelt hatte und durch das Gebet gerast war, als wäre der Teufel hinter ihm her. Sein Herz klopfte hart gegen seine Rippen, und seine Kehle fühlte sich an wie aufgescheuert, aber der Triumph wog das wieder auf. So lange hatte er noch nie durchgehalten.
Bis zum Frühstück war noch Zeit. Entschlossen griff er erneut nach dem Löffel. Ob er auch drei Vaterunser schaffte?
*
Es würde bald wieder regnen. Der Sonnenschein des Morgens war hinter dicken Wolken verschwunden, der Weg zu den Sträflingshütten war übersät mit tiefen Pfützen, es roch nach regenschwerer Luft. Duncan trug die Arzttasche und lief schweigend neben dem Doktor, der ihn heute zum Krankenbesuch bei den Sträflingen mitnehmen wollte – angeblich, damit Duncan demnächst selbst ein paar kleinere Aufgaben für ihn erledigen konnte.
Duncans Blick wanderte zu dem mit niedrigen Büschen und Bäumen bestandenen Waldrand, hinter dem dichtes Gestrüpp wuchs. Er machte sich Sorgen um das Eingeborenenmädchen. Große Sorgen. Seit dieser verrückte Major auf sie geschossen hatte, hatte er sie nicht mehr gesehen. Sobald die Soldaten abgezogen waren, hatte er auf Anordnung des Lagerverwalters zusammen mit einigen Aufsehern den angrenzenden Busch durchsucht. Sie hatten nichts gefunden. Das Mädchen war und blieb wie vom Erdboden verschluckt, und auch der Dingo tauchte nicht mehr auf. Ob sie schwer verletzt war? Hoffentlich ging es ihr gut.
July. So hatte Mrs McIntyre das Buschkind gerufen. Ein schöner Name. Mrs McIntyre teilte seine Sorgen. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, blickte sie ihn fragend und hoffend an, und jedes Mal musste er den Kopf schütteln.
Wenigstens eine, der das Mädchen etwas bedeutete. Der Doktor dagegen schien das alles schon vergessen zu haben. Bisher hatte McIntyre die Vorfälle mit dem Major mit keinem Wort erwähnt. Weder den Schuss auf July noch die Tatsache, dass er, Duncan, um ein Haar erschossen worden wäre. Mrs McIntyre war die Einzige gewesen, die sich für ihn eingesetzt hatte. In ihren Augen hatte er Angst gesehen. Angst um ihn? Dann war er ihr wohl nicht vollkommen gleichgültig …
»Die Woche ist fast um«, riss ihn McIntyre aus seinen Gedanken. »Wie kommst du voran?«
»Gut«, gab Duncan nicht ganz wahrheitsgemäß zurück. Seine Kehle war so rau, dass er jedes überflüssige Wort vermied.
McIntyre nickte. »Schön. In den nächsten Tagen werden wir es erneut versuchen.«
Jetzt verstand Duncan den Sinn dieses Krankenbesuchs. Es ging nicht nur darum, den Doktor zu entlasten. Duncan sollte sehen, was ihn erwartete, falls er den Doktor wieder enttäuschte. Als ob das nötig gewesen wäre.
Sie hatten die etwas abseits stehende Krankenhütte noch nicht ganz erreicht, als Duncan etwas Unerwartetes vernahm; jemand sang mit dunkler, volltönender Stimme. Er erkannte die Melodie: eine alte irische Weise, ein Liebeslied.
»… wie süß die Stunden doch verrannen mit dem Mädchen, das ich ließ zurück …«
Das war nicht die fiebrige Klage eines Kranken; das war reiner, klarer Gesang, tief und melodisch.
»Wer singen kann, ist bald wieder bereit zur Arbeit«, war McIntyres einziger Kommentar, als sie in das Zwielicht der Hütte traten.
Der Gesang brach ab, und Duncan sah, wem die klangvolle Stimme gehörte: Samuel Fitzgerald! Der Hüne saß gefesselt auf dem Boden und blickte den Eintretenden erwartungsvoll entgegen. Auf der anderen Seite lagen zwei weitere Sträflinge auf dem Bauch und ächzten.
»Guten Morgen, Doktor – Duncan!« In Samuels Stimme schwang freudige Überraschung mit.
So fröhlich hatte Duncan den Hünen noch nie erlebt, und das trotz der schweren Fuß- und Handfesseln. Duncan wusste erst seit kurzem, dass man Samuel nach seiner Flucht wieder eingefangen und hart bestraft hatte. Er hatte erwartet, einen gebrochenen, kranken Mann zu sehen, gepeinigt von Schmerzen und Fieber. Stattdessen sang er.
McIntyre machte sich daran, Samuels Verbände zu lösen. Man hatte den Hünen übel ausgepeitscht – einhundert Hiebe, hatte es geheißen –, und seine Wunden verheilten nur langsam, aber der große Mann schien sich kaum daran zu stören.
»Streich das hier dünn auf die Striemen.« McIntyre drückte Duncan einen Tiegel mit Salbe in die Hand und wandte sich dann den beiden anderen Sträflingen zu. Sie hatten gestern die Peitsche schmecken dürfen – vermutlich hatten sie in den Augen der Aufseher zu langsam gearbeitet oder gar gewagt, ihnen zu widersprechen.
»So fröhlich?«, fragte Duncan leise. Wenn er im Flüsterton sprach, tat sein Hals nicht gar so weh.
Samuel brummte zufrieden. Viel zufriedener, als es ein Mann in seiner Situation sein konnte; gefesselt, mit zerfetztem Rücken und der niederschmetternden Aussicht auf Verbannung auf die Teufelsinsel.
»Mir ist ein Engel erschienen«, murmelte Samuel.
»Ein Engel?« Duncan sah ihn besorgt an. Hatte der Hüne doch höheres Fieber als gedacht? »Ist schon gut. Du kommst schon wieder auf die Beine.«
Samuel hob den Kopf. »Ich habe Güte gesehen«, sagte er, geheimnisvoll lächelnd. »Ihr Name ist Anna.«
»Anna?« Phantasierte er jetzt?
»Sie war hier«, fuhr Samuel fort. »Hier in dieser armseligen Hütte. Anna. Anna King.«
»King?« Endlich begriff Duncan. »Die Frau des nächsten Gouverneurs?« Er öffnete den Salbentiegel.
Samuel nickte. »Mrs King. Mrs Anna King. Sie –«, er stöhnte auf, als Duncan Salbe auf seine Wunden strich, »sie ist ein Engel. Mein Engel. Sie … sie wird nicht zulassen, dass man mich fortbringt. Eines Tages werde ich sie wiedersehen. Und dann werde ich ihr meine Seele zu Füßen legen.«
Als sie die Hütte verließen, begann Samuel erneut zu singen, sein melodischer Bass schwebte ihnen hinterher. Noch jemand mit einem unerfüllbaren Traum.
*
»Hhm.« Der Wachtposten runzelte die Stirn. Regen lief dem Mann über die Hutkrempe. Wenn er noch länger auf die beiden Ausweise starrte, würde die Tinte verlaufen, befürchtete Duncan. Konnte der Mann überhaupt lesen? Wahrscheinlich schon. Um Soldat zu werden, musste man wohl lesen können.
Offenbar war es verdächtig, wenn zwei Sträflinge allein mit einem Karren unterwegs waren. Das fehlte noch, dass man Ann und ihn hier wegen unleserlicher Papiere festnahm. Seit einigen Wochen benötigte jeder Zivilist, der über Land reiste, sei es nun freier Siedler oder Sträfling, einen von offizieller Stelle ausgestellten Ausweis. Damit wollte man gegen die vielen Landstreicher und entflohenen Sträflinge vorgehen, die allmählich zur Plage wurden und Reisende überfielen. Wer sich nicht entsprechend ausweisen konnte, wurde festgenommen und musste einem Richter Rede und Antwort stehen.
»In Ordnung.« Der Soldat gab Duncan die beiden Ausweise zurück. »Ihr könnt weiterfahren.«
Die Tinte war etwas verlaufen, aber zum Glück noch leserlich. Duncan gab Ann die feuchten Schreiben, die sie unter ihren Umhang nahm, damit sie trocknen konnten, und trieb das Pferd an.
Sie waren einige Meilen vor Sydney, hinter der Steinbrücke über den Duck River, unter der das Wasser träge dahinfloss. Der Weg war schlammig, der Wagen kam nur schwer voran. Regen strömte wie ein feiner Schleier vom Himmel. Das also war der Winter in diesem Teil der Welt. Kaum anders als in Irland. Vielleicht etwas wärmer.
Duncan hob den Kopf und blinzelte in den Regen. Er mochte das Gefühl von Nässe auf seiner Haut, auch wenn ihm inzwischen das Wasser von den Haaren in den Kragen lief. Ann saß links neben ihm, so weit von ihm entfernt wie gerade noch möglich. Sie war in einen dunklen Umhang mit Kapuze gehüllt, den ihr Mrs McIntyre geliehen hatte. Für einen Augenblick versuchte er sich vorzustellen, es sei Mrs McIntyre selbst, die da neben ihm auf dem Kutschbock saß. Aber diese hätte nie so zusammengesunken dagesessen wie Ann, und sie wäre auch sicher nicht so weit von ihm abgerückt. Ann hatte nicht mitfahren wollen, aber ihr war nichts anderes übriggeblieben. Der Doktor hatte darauf bestanden. Seit sie aufgebrochen waren, hatte sie kaum ein Wort gesagt. Hatte sie etwa Angst vor ihm?
»Hoffentlich steht Toongabbie noch, wenn wir zurückkommen«, versuchte er einen schwachen Witz.
Ann blickte kurz auf und verzog ihr blasses Gesicht unter der Kapuze zu einem gequälten Lächeln. Mehr nicht. Na, da hatte man ihm ja eine reizende Begleitung mitgegeben.
Aber Duncan war weit davon entfernt, sich zu beschweren. Zum ersten Mal war er allein – nun ja, fast allein – unterwegs. Der Doktor schickte ihn nach Sydney, um dort eine Sendung Metall abzuholen. Duncan konnte verstehen, dass McIntyre nicht selbst den mühseligen Weg auf sich nahm, wenn er trocken und warm zu Hause in seinem Studierzimmer sitzen konnte. Ihm selbst machte das Wetter nichts aus. Er wäre jede Strecke gefahren, bedeutete das doch, endlich einmal aus Toongabbie herauszukommen.
Aber wieso hatte der Doktor gewollt, dass Ann mitkam? Eine große Hilfe war sie Duncan nicht gerade. Befürchtete McIntyre, dass sein Gehilfe sich absetzen könnte? Doch dafür gab es absolut keinen Grund, schließlich hätte es zurzeit nicht besser für Duncan laufen können. Zwar war der neuerliche Versuch vor wenigen Tagen trotz der vielen Übungsstunden eine ziemliche Tortur für ihn gewesen, die er nur durchgestanden hatte, weil er dabei stumm gebetet hatte. Aber es hatte sich gelohnt: Er hatte McIntyre von seiner grundsätzlichen Eignung überzeugen können. Der Doktor war seitdem regelrecht gut gelaunt, ja, er hatte ihn sogar gelobt. Und für Duncan bedeutete es einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Begnadigung.
Ein Geräusch wie ein schrilles Quieken kam aus dem Busch; Ann stieß einen erschreckten kleinen Schrei aus und rückte unwillkürlich etwas näher zu ihm. Sie zitterte am ganzen Körper und duckte sich noch mehr. »Was … was ist das?«
»Sicher bloß ein Tier. Ein Känguru oder ein Dingo.«
»Und … und wenn es ein Wilder ist?« Sie ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Sie … sie töten alle Weißen, habe ich gehört.«
»Wer hat dir denn das erzählt?«
»Weiß nicht.«
Immerhin sprach sie endlich. Vielleicht konnte er sie von ihrer Angst ablenken? »Du redest nicht gern, oder?«
»Mir hat nie jemand zugehört«, sagte sie in den Schatten ihrer Kapuze hinein.
»Was hast du angestellt?«
»Was?« Sie sah ihn erschreckt an.
»Weshalb bist du hier? Diebstahl?«
Ein kaum wahrnehmbares Nicken unter der Kapuze.
»Wie viel haben sie dir aufgebrummt? Auch sieben Jahre?«
Ein weiteres stummes Nicken. Dieses Gespräch gestaltete sich reichlich einsilbig. Und doch tat sie ihm leid. Wie alt sie wohl sein mochte?
»Weißt du, dass weibliche Sträflinge freikommen, wenn sie heiraten?«, versuchte er es ein letztes Mal. »Wer weiß, vielleicht findet sich ja schon bald ein Bewerber für dich, und –«
»Nein!«, stieß Ann aus. Sie wirkte dermaßen entsetzt, als hätte er ihr einen Mord vorgeschlagen. »Nein, ich werde nie heiraten! Lieber warte ich weitere sieben Jahre!«
Gut, dann eben nicht. Duncan hob die Schultern und schwieg nun seinerseits.
»Er hat sie immer geschlagen«, sagte Ann urplötzlich in den nachlassenden Regen hinein.
»Wer?«
»Mein … mein Vater.« Sie sprach so leise, dass Duncan sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Er … er hat meine Mutter geschlagen. Immer, wenn er getrunken hatte. Und mich auch. Ich hatte schreckliche Angst vor ihm. Als er starb, war ich dreizehn.« Sie zitterte leicht. »Ich habe dann Anstellung als Magd gefunden, bei einem reichen Mann.«
Der Regen ließ weiter nach. Der Weg erstreckte sich schnurgerade vor ihnen. Rechts vor ihnen lag ein Farmgebäude, umgeben von abgeernteten Getreidefeldern.
»Und dann – er, mein Dienstherr …« Ann stockte, holte Luft, dann fing sie wieder an, als sei es ihr ein tiefes Bedürfnis, davon zu erzählen. »Er … er ist eines Nachts zu mir gekommen. Aber ich … ich wollte das nicht.« Sie senkte den Kopf noch tiefer. »Ich habe angefangen zu schreien. Da … da ist er zum Glück gegangen. Aber am nächsten Tag … da hat er behauptet, ich … ich hätte ihn bestohlen. Ein Tischtuch. Und dann … dann kamen die Konstabler und haben mich mitgenommen.«
Duncan hatte schon viele solcher Geschichten gehört. Sobald ein Dienstmädchen die Gunst seiner Herrschaft verlor, war es ihr schutzlos ausgeliefert. Niemand zweifelte das Wort eines ehrenhaften Bürgers an.
In die regenfeuchte, von Eukalyptusduft durchzogene Luft mischte sich der Geruch von Salz und Fisch.
»Kannst du es riechen?«, fragte Duncan.
»Was?«
»Das Meer. Wir sind gleich da.«
Ann schüttelte den Kopf und versank wieder in brütendes Schweigen. Als ihnen kurze Zeit später ein weiterer Karrenwagen entgegenkam, rückte sie jedoch ein klein wenig näher zu ihm. Duncan verkniff sich ein Grinsen. Andere Menschen waren für sie offenbar noch schlechter zu ertragen als er.
*
»Ein Waisenhaus? Das ist ein wundervoller Plan, Mrs King.« Catherine Crowley bekam leuchtende Augen. »Die armen Kinder haben ja niemanden. Wenn ich mir vorstelle, dass meine drei Jungen ohne Eltern aufwachsen müssten – ein entsetzlicher Gedanke.«
Sie warf einen Blick zum Buffet, wo ihr Ältester, ein aufgeweckter Junge von zehn Jahren, mithalf, die Reste des Essens in große Schüsseln zu packen. Auf den Tellern und Platten türmten sich die Überbleibsel von Kängurubraten und Rinderfilet, von Brot, Kuchen und Früchten. Gerade klaubte die dicke Mrs Zuckerman eine mächtige Scheibe Braten von einem Tablett auf ihren Teller. Man hätte meinen können, dass sie zu Hause nichts zu essen bekam.
»Wir sollten sofort einen Spendenaufruf starten. Meinst du nicht auch, D’Arcy?« Catherine Crowley, ehemalige Strafgefangene und Mutter von Wentworths Kindern, blickte sich zu ihm um. Ihr stupsnasiges Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen war nicht wirklich hübsch zu nennen, aber in ihren blauen Augen blitzte der Schalk. Sie passte gut zu Wentworth, fand Moira.
»Eure Pläne in allen Ehren, Mrs King, aber der Wiederaufbau des Gefängnisses hat zurzeit oberste Priorität.« Der Lagerverwalter von Toongabbie, William Penrith, zog seinen etwas zu eng sitzenden roten Uniformrock gerade. »Und das nur, weil gewissenlose Schurken das Zuchthaus von Sydney niedergebrannt haben. Solange sich so viele Verbrecher auf freiem Fuß befinden, ist unser aller Sicherheit in Gefahr. Die meisten Herren hier sind dafür, zu diesem Zweck ein Komitee zu gründen.«
»Aber Sergeant, wer will denn an einem so schönen Abend über so garstige Dinge nachdenken?« Wentworth schüttelte in gespieltem Tadel den Kopf. Er verströmte einen schwachen Geruch von Pfeifenrauch.
Er hatte nicht zu viel versprochen: Die Dinnerparty, die er alljährlich Ende Juni zum Jahrestag seiner Ankunft in Neusüdwales veranstaltete, war ein gesellschaftliches Großereignis. Alle, die in der jungen Kolonie Rang und Namen hatten, waren hier versammelt, Militär wie Zivilisten, und hatten sich zu diesem Anlass entsprechend herausgeputzt. In einer Ecke des Raums stand Mr King, der künftige Gouverneur, im Gespräch mit einem schmalen, verkniffen wirkenden Männchen: Mr Zuckerman, der Ehemann der heute in helles Flieder gekleideten Steckrübe. Einige Schritte vom Buffet entfernt erblickte Moira ihren eigenen Mann mit Dr. Jamison, und im Hintergrund leider auch Major Penrith, zusammen mit Mr Macarthur und einigen anderen Offizieren.
Wentworths Farm in Parramatta war ein großer Holzbau inmitten eines Fleckens gerodeten Buschs und im Laufe der Zeit um verschiedene kleinere Anbauten erweitert worden. Als sie angekommen waren, hatte es bereits gedämmert. Hinter dem Haus breitete sich eine große Wiese aus, auf der im Sommer sicher Blumen wuchsen, davon abgeteilt ein Gemüsegarten. McIntyre hatte diese Einladung als unwillkommene Störung in seinem Tagesablauf betrachtet, aber selbst er war sich darüber im Klaren gewesen, dass sie nicht fernbleiben durften. Und so hatten sie sich am frühen Abend auf den Weg gemacht, zusammen mit O’Sullivan, der die Kutsche fuhr. Es war ein gewisses Risiko, ihn mitzunehmen, da sich auch Major Penrith angekündigt hatte, aber es war kaum zu befürchten, dass die beiden sich über den Weg laufen würden.
Stimmengewirr. Gelächter. Lichterglanz. Moira genoss es, wieder einmal unter Menschen zu kommen.
»Ist es wahr, Mrs McIntyre, dass man in Toongabbie einen Sträfling verhaftet hat, der katholischer Priester ist?«, wandte sich Catherine an sie.
Moira nickte. »Vater Harold. Er kam mit uns auf der Minerva. Angeblich soll er an einer Verschwörung der Sträflinge beteiligt gewesen sein.«
»Angeblich?« Wentworth sah sie aufmerksam an. »Dann glaubt Ihr wohl nicht recht an seine Schuld?«
»Das alles hat sich längst als haltlos herausgestellt«, gab Moira zurück. »Die vermeintlich hergestellten Piken waren nichts als die Erfindung eines verwirrten Sträflings.« Der Mann hatte die Soldaten bis nach Sydney geführt, wo die Piken im Hafenbecken versenkt worden sein sollten; als sich herausgestellt hatte, dass alles nur erfunden war, hatte man den Sträfling mit etlichen Peitschenhieben gezüchtigt.
»Oh, D’Arcy, ich suche Euch schon überall!« Mrs Zuckerman steuerte mit hoch beladenem Teller auf ihre Gruppe zu.
Wentworth zuckte fast unmerklich zusammen und stellte sein Glas ab. »Ich bin untröstlich, Mrs Zuckerman, aber ich muss weiter – die Pflichten des Gastgebers, Ihr versteht? Wir finden sicher später noch Zeit für einen kleinen Plausch.«
»Natürlich …« Moira musste ein Lachen zurückhalten, als Mrs Zuckerman enttäuscht ihr Gesicht unter der Spitzenhaube verzog und dem gutaussehenden Arzt hinterherschaute, der sich nun zu Mr King und zwei Offizieren gesellte.
Mrs Zuckerman balancierte ihren überladenen Teller mit erstaunlich viel Geschick. Sie maß Moiras Figur mit einem prüfenden Blick, dann beugte sie sich vertraulich vor. »Na, immer noch nichts Kleines unterwegs?«
Moira musste sich beherrschen, um ihr nicht den Teller aus der Hand zu schlagen. Elizabeth Macarthur, die zu Moiras großer Freude ebenfalls gekommen war, war wenigstens so taktvoll gewesen, nicht nach dem Erfolg ihres Tees zu fragen. Vorhin erst hatte Elizabeth ihr bestätigt, dass sie erneut ein Kind unter dem Herzen trage. Moira freute sich für sie, auch wenn sie selbst dadurch an ihr eigenes Versagen erinnert wurde. Elizabeths Tee wirkte bei ihr nicht – ganz abgesehen davon, dass McIntyre seine nächtlichen Bemühungen mittlerweile fast gänzlich aufgegeben hatte.
Moira überlegte gerade, wie sie Mrs Zuckerman entkommen konnte, ohne ungehörig zu wirken, als diese sich erneut an sie wandte. »Sagt, Mrs McIntyre, ist das Leben in Toongabbie nicht furchtbar gefährlich?«
Moira öffnete den Mund zu einer Antwort, aber bevor sie etwas erwidern konnte, sprach Mrs Zuckerman schon weiter. »Also, ich könnte das nicht, den ganzen Tag da draußen im Busch. Ich würde nirgendwo anders als in Sydney leben wollen. Dort geht es wenigstens gesittet zu. Aber mitten im Busch wie Ihr, liebe Mrs McIntyre, nein, das könnte ich nicht. Dieses unzivilisierte Land. Die vielen Sträflinge. Und dazu diese ständige Bedrohung durch die Wilden. Wie heißt der gefährlichste von ihnen? Pemboy oder so ähnlich. Diese Wilden habe ja alle unaussprechliche Namen.«
»Pemulwuy«, erklärte Catherine, die ein Lächeln nicht zurückhalten konnte.
»Habt Ihr bereits die Bekanntschaft dieses Menschen gemacht, Mrs Wentworth?«, schaltete sich Mrs King ein. Moira hatte den Eindruck, als wäre sie etwas besorgt.
»Miss Crowley«, berichtigte Catherine lächelnd. »D’Arcy und ich sind nicht verheiratet. Nein, Mrs King, ich kenne Pemulwuy nicht. Aber ihn zu treffen wäre sicher eine interessante Erfahrung.«
»Pemulwuy?« Eine helle Jungenstimme mischte sich in die Unterhaltung; sie gehörte dem jungen William, Catherines und Wentworths Sohn, der die gleichen wachen Augen aufwies wie seine Mutter. »Ich habe gehört, er soll magische Kräfte besitzen.«
»Willy!«, rügte ihn seine Mutter liebevoll.
»Nun ja«, wandte sein Namensvetter, der »nette Penrith«, ein, »das einfache Volk glaubt solche Gerüchte. Nach allem, was man so über ihn erzählt …«
»Was erzählt man denn?«, fragte Moira, neugierig geworden.
»Habt Ihr noch nicht die Geschichten über ihn gehört? Nein, das könnt Ihr ja nicht, Ihr seid ja erst seit kurzem hier.« William Penrith genoss es sichtlich, endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen. »Ein wirklich wilder Geselle, dieser Pemulwuy. Vor einigen Jahren wurde dieser Teufel in Menschengestalt bei einer Schlacht von sieben Kugeln getroffen. Man glaubte ihn tot, aber er war nur schwer verwundet. Soldaten brachten ihn ins Lazarett von Parramatta. Dort schwebte er viele Tage zwischen Leben und Tod, und dann, eines Tages – war er fort.«
»Fort?«
»Er floh. Kein Mensch weiß, wie. Er ließ sogar die schweren Fußketten zurück.«
»Die Wilden sagen, er habe sich in einen Vogel verwandelt!«, mischte sich der Junge wieder ins Gespräch. »Sie sagen, keine Ketten könnten ihn halten und keine Kugel ihn verletzen.«
»Papperlapapp, keine Kugel«, warf William Penrith ein. »Der Kerl ist einfach nur zäh. Er muss inzwischen an die acht oder zehn Unzen Blei in sich tragen. Aber früher oder später erwischen wir ihn, und dann ist es aus mit den Überfällen auf unsere braven Siedler!«
»Er verteidigt nur seine Rechte«, gab Catherine sanft zurück. »Entschuldigt mich.« Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge zu Wentworth.
Im nächsten Moment durchdrang ein helles Klingen das Stimmengewirr. Wentworth stand vor dem Buffet und klopfte mit einem Löffel an sein Glas.
»Meine Herrschaften!«, vernahm man seine Stimme. Er räusperte sich und fuhr dann fort. »Bitte, ich möchte einen Toast aussprechen.«
Er wartete, bis das Stimmengewirr erstarb und sich alle Blicke ihm zugewandt hatten. Catherine stand jetzt neben ihm. »Ladies und Gentlemen, verehrte Neuankömmlinge, liebe Alteingesessene, ich danke Euch, dass Ihr so zahlreich hier erschienen seid. Und dass Ihr meinem Buffet so reichlich zugesprochen habt.« Lachen pflanzte sich fort.
»Lasst uns dieses Land feiern, das mich so freundlich aufgenommen und so reich beschenkt hat.« Wentworth hob die Hand, als die Ersten ihm bereits zuprosten wollten. »Als ich heute vor zehn Jahren in Port Jackson landete, war ich ein knapp der Verurteilung entgangener Flüchtling. Und doch hatte ich an Bord der Neptune bereits das Glück meines Lebens gefunden.« Er wandte sich zu Catherine und verbeugte sich leicht in ihre Richtung. Eine leichte Röte überhauchte ihr stupsnasiges Gesicht.
»Dir, meine Liebste«, fuhr Wentworth an sie gewandt fort, »widme ich diesen Abend. Und jetzt, verehrte Gäste, lasst uns die Gläser heben und auf diese wundervolle Frau trinken!« Er zog sie an sich und gab ihr ungeniert einen herzhaften Kuss auf den Mund, sein Glas in der Rechten haltend.
»Nein, so etwas!«, hörte Moira Mrs Zuckerman neben sich murmeln. »Schamlos ist das!«
Moira drehte sich zu ihr um, Wut brandete plötzlich in ihr auf. »Was ist so falsch an der Liebe, Mrs Zuckerman?«, warf sie ihr ins Gesicht.
Mrs Zuckerman starrte sie sprachlos und mit offenem Mund an, ihr Doppelkinn wackelte vor Empörung. Dann fiel Moiras Blick auf McIntyre. Er stand schräg hinter der dicken Frau, ein Glas mit Saft in der Hand, und in diesem Moment hätte sie am liebsten geweint. Dort war ihr eigenes Unglück, verkörpert in einem hässlichen, lieblosen Doktor der Medizin, der sie nur als Zuchtstute betrachtete. Und nicht einmal dieser Aufgabe war sie gewachsen. Aber sie war jung! Sie wollte leben und glücklich sein! Sie wollte nicht an seiner Seite versauern.
Ein Gedanke durchfuhr sie wie ein Blitz: War es diese nicht enden wollende Trostlosigkeit, warum Victoria, McIntyres erste Frau, sich umgebracht hatte? Weil sie es an seiner Seite einfach nicht mehr ausgehalten hatte?
»Und jetzt«, Wentworth hob erneut die Stimme, »möchte ich diejenigen nach draußen bitten, die sich meine bescheidene Pferdezucht ansehen wollen.«
Das ließ sich niemand zweimal sagen. Während sich die Gesellschaft nach draußen begab, trugen einige von Wentworths Sträflingen die zusammengeräumten Essensreste nach draußen.
Wentworth war ein leidenschaftlicher Reiter und plante, demnächst eine eigene Pferderennbahn errichten zu lassen. Ein Gedränge und Geschiebe entstand, als jeder zuerst ins Freie wollte. Vor den Ställen erhellten Fackeln die Nacht. Wentworth nannte ein paar edle Pferde sein Eigen; im Feuerschein glänzten die schwarzen und kupferbraunen Tiere, die von je einem Sträfling gehalten wurden, wie Metall. Ob O’Sullivan auch dort war? In dem Wechselspiel zwischen hell und dunkel konnte Moira kaum Gesichter erkennen.
Ein seltsamer Laut war zu hören, etwas wie ein jammerndes Jaulen. Dann sah Moira, was den Ton verursachte: ein goldfarbener Dingo, ganz ähnlich dem, der July stets begleitete. Das Tier stand vor Major Penrith und benahm sich ausgesprochen merkwürdig. Es jaulte, legte sich auf den Boden, knurrte, sprang auf, legte sich erneut hin und winselte, als sei der Major eine Beute, die zu groß, aber unwiderstehlich war. Oder als wollte es ihn warnen.
Der Major wirkte irritiert. Er fuchtelte mit den Armen und versuchte, das Tier zu treten. »Verschwinde, verdammter Köter!«
Ein Aufschrei unterbrach ihn. »Wilde!«
Allgemeine Panik war die Folge. Die Geschichten über den scheinbar unverwundbaren Schwarzenhäuptling und seine Verbrechen kamen Moira sofort wieder ins Gedächtnis, und das Entsetzen kroch ihr mit Spinnenbeinen über den Rücken.
»Zurück ins Haus!«, ertönte es von irgendwo, und: »Waffen, zu den Waffen!«
Dann sah Moira den Grund des Schreckens, und die Erleichterung erfasste sie gleich doppelt. Einmal, weil es nur ein einzelner Mensch war, und zweitens, weil es sich dabei um July handelte. Sie lebte! Reglos stand sie vor dem Wald, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, und blickte die Gesellschaft stumm an. Diesmal erhellte kein Lächeln ihre dunklen Züge. Was tat sie hier, fern von Toongabbie?
»Beruhigt Euch! Ich kenne sie – sie ist harmlos!«, rief Moira. Die allgemeine Aufregung legte sich allmählich, dennoch zogen es die meisten vor, sich zurück ins sichere Haus zu begeben.
Moira wäre am liebsten zu dem Mädchen gegangen, aber irgendetwas hielt sie zurück. July wirkte so anders als sonst, so – unnahbar. Moiras Augen hatten sich an das flackernde Helldunkel gewöhnt; sie sah eine kaum verheilte Wunde wie von einem Streifschuss an Julys linkem Arm.
Auch der Major hatte July erblickt. »Du verdammte Satansbrut!«, schrie er. Seine Hand fuhr an den Degen an seiner Hüfte. »Noch einmal entkommst –«
Urplötzlich stöhnte er auf. Er öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei, dann stürzte er zu Boden. Für einige Sekunden blieb er liegen, steif wie ein Ladestock, mit verzerrtem Gesicht und verdrehten Augen. Dann fing sein ganzer Körper an zu zucken, seine Arme und Beine ruderten in Krämpfen. Moira bekam einen Fußtritt ab, der sie straucheln ließ, und bevor sie sichs versah, fiel sie mit dem Hinterteil auf die Erde.
»Einen Arzt!«, rief jemand. »Schnell, wir brauchen einen Arzt!«
»Verdammt!« William Penrith war neben ihr aufgetaucht, dahinter McIntyre.
»Habt Ihr Euch verletzt?« Auch O’Sullivan war plötzlich an ihrer Seite; er beachtete den wild um sich rudernden Major kaum.
»Nein.« Sie ließ sich von ihm aufhelfen. »Danke.«
Wentworth war ebenfalls herbeigeeilt. »Was ist passiert?«
»Ein Anfall. Haltet seine Arme und Beine fest!«, wies McIntyre die Männer an.
Das war gar nicht so einfach. Heftige Zuckungen schüttelten den Körper des Majors wie in einem absurden Tanz. Sein Kopf fuhr auf und schlug zurück auf den Boden. Aus seinem Mund kam schaumiges Blut, es sah zum Fürchten aus. Moira verfolgte das Ganze mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Was geschah hier?
William zog sich hastig seinen Uniformrock aus, knüllte ihn zusammen und legte ihn unter den Kopf seines Bruders. Offenbar geschah so etwas nicht zum ersten Mal. Zu viert gelang es ihnen schließlich, den Major festzuhalten; William und O’Sullivan an den Armen, die beiden Ärzte an den Fußgelenken. Das minderte die Zuckungen etwas.
Nach ein paar Minuten ließen die Krämpfe nach, erschlaffte der Körper. Der Major schnappte röchelnd nach Atem, dann schien er übergangslos in Schlaf zu fallen. William seufzte auf, lockerte seinem Bruder die Halsbinde und wischte ihm damit das Blut vom Kinn. Als Moira aufschaute, bemerkte sie, dass July und der Dingo verschwunden waren.
»Ist es das, was ich denke?«, fragte Wentworth leise.
William sah ihn erschöpft an, dann nickte er.
»Wie oft hat er diese Anfälle?«
»Das weiß ich nicht. Vermutlich nicht allzu häufig. Dr. Wentworth, ich … mein Bruder und ich wären Euch zu großem Dank verpflichtet, wenn Ihr über diese Krankheit Stillschweigen bewahren könntet. Ihr ebenfalls, Dr. McIntyre.«
McIntyre nickte wortlos.
»Selbstverständlich«, sagte Wentworth. »Das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht.« Er erhob sich. »Kein Grund zur Sorge, Ladies und Gentlemen«, rief er in die Runde, die sich spürbar verkleinert hatte. »Der Major ist von einer Schlange gebissen worden, was einen kurzen Krampfanfall auslöste. Es geht ihm schon wieder besser. Dr. McIntyre wird sich um ihn kümmern. Bitte, meine Damen, meine Herren, lasst Euch nicht von diesem kleinen Zwischenfall beunruhigen. Geht zurück ins Haus und vergnügt Euch.«
Spätestens bei der Erwähnung der angeblichen Schlange hatten sich auch die letzten Neugierigen entschlossen, in den Salon zurückzukehren.
»Bringen wir ihn ins Haus«, sagte William schließlich.
Als er und O’Sullivan den Major hochhoben, sah Moira, dass dieser sich eingenässt hatte; auf seiner ehemals blütenweißen, enganliegenden Uniformhose war ein großer feuchter Fleck zu sehen.
»Schlange, dass ich nicht lache!«, hörte sie Mrs Zuckerman sagen, als sie durch die Eingangshalle gingen. »Die kleine Wilde hat ihn verhext! Ich habe doch gesehen, wie sie ihn angestarrt hat!«
*
Moira hatte ihr Schultertuch über das feine hellblaue Kleid gelegt und war wieder nach draußen gegangen. Selbst jetzt war es noch frühlingshaft mild, obwohl es doch Winter war. Den Großteil der Fackeln hatte man weggeräumt, nur noch wenige brannten in den Halterungen vor den Schuppen. Die Pferde standen wieder in ihren Ställen, Männerlachen und Stimmen waren aus einer Ecke zu hören. Dort durften sich die Sträflinge über die Reste des Buffets hermachen.
Aus der geöffneten Verandatür drang Tanzmusik. Einige Gäste waren bereits schlafen gegangen; Wentworth hatte dafür Zimmer im Obergeschoss herrichten lassen. Moira hätte sich auch zurückziehen können, aber sie war kein bisschen müde. Nach Tanzen stand ihr allerdings auch nicht der Sinn, ganz abgesehen davon, dass sie nicht gewusst hätte, mit wem sie hätte tanzen können. McIntyre würde noch einige Zeit bei Major Penrith bleiben.
Ein leichter Wind bewegte die Baumwipfel. Ob July noch da war? Vielleicht wartete das Mädchen auf sie, versteckt im Dunkel der Bäume? Moira nahm sich eine der kleinen Laternen, die die Veranda säumten, und ging langsam auf den Waldrand zu.
»July?«, rief sie leise. »July, bist du hier?«
Sie lauschte, vermeinte ein Knacken zu hören.
»July?«
Sie hob den Saum ihres Kleides und ging weiter, hinein in den Wald. Hinter ihr schloss sich das Gebüsch. Kaum hatte sie den erleuchteten Platz vor Wentworths Haus hinter sich gelassen, spürte sie die Veränderung, als wäre sie in eine fremde Welt eingetreten. Der Lichtkegel ihrer Laterne erhellte nur einen kleinen Flecken, dahinter war Wildnis und Dunkelheit. Geräusche erfüllten die Nacht, wie in einem Märchenwald zirpte und raunte es von allen Seiten.
»July?«
Ein Rascheln. Seitlich neben ihr. Oder – nein, es kam von oben. Erschrocken ging sie ein paar Schritte vorwärts. Wie finster und fremd es hier war. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass nur wenige Schritte hinter ihr bewohntes Gebiet war, sie hätte glauben können, völlig allein auf der Welt zu sein.
Wieder ein Rascheln, diesmal hinter ihr. Allmählich wurde es ihr doch unheimlich. Vielleicht sollte sie lieber wieder umkehren, bevor sie sich verlief. Aber sie fühlte sich für das Mädchen verantwortlich, wollte sich vergewissern, dass es ihr gutging.
»July?«
»Sie ist nicht mehr da.«
Moira fuhr herum, als sie hinter sich eine Männerstimme hörte. Dann erkannte sie den Sprecher und seufzte erleichtert auf. Erleichtert und ein wenig aufgeregt. »Ihr seid es! Ich dachte schon, es wäre …«
»Ein Tiger?« Ein Lächeln huschte über O’Sullivans Züge.
»Natürlich nicht. Tiger leben in Indien und sprechen eher selten.« Sie leuchtete ihm ins Gesicht. »Was tut Ihr hier?«
»Ich bin Euch gefolgt.« Er hob geblendet die Hand.
»Das wird allmählich zu einer Angewohnheit von Euch«, gab Moira lächelnd zurück und senkte die Laterne. »Ich bin so froh, dass July wieder aufgetaucht ist. Als der Major auf sie geschossen hat …« Sie ließ offen, was sie sagen wollte.
»Der Major ist ein gefährlicher Mann. Selbst wenn er am Boden liegt. Tut es noch weh?«
»Was denn?«, fragte Moira verwirrt.
»Wo er Euch getreten hat. Es sah ziemlich schmerzhaft aus.«
»Oh, das … nein, nein … allerdings werde ich wohl einen blauen Fleck bekommen.« Sie lachte auf, etwas zu nervös, wie sie fand. »Mrs Zuckerman glaubt, July hätte den Major verhext.«
Er lachte nicht. »Glaubt Ihr das auch?«
»Nein, aber – nun, es sah doch wirklich so aus, als sei ein Dämon in den Major gefahren.«
»Ich hätte Euch nicht für so abergläubisch gehalten.«
So durfte kein Sträfling mit ihr sprechen. Absolut nicht. Aber hier, in dieser unwirklichen Umgebung, war alles anders, schienen diese Grenzen aufgehoben.
»Es ist die Krankheit des heiligen Paulus«, fuhr er fort. »Die Fallsucht. Erinnert Ihr Euch, wie eigenartig sich der Dingo verhalten hat?«
»Ja! Es schien fast, als wüsste er, was mit dem Major nicht stimmt. Als wollte er ihn warnen.«
»Manche Hunde können es spüren. Sie merken, wann ein Anfall droht.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Der Doktor hat es vorhin erwähnt«, gab er zu. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Moira atmete tief ein und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nur, dass sie schon viel zu lange hier im Wald war, allein mit ihm. Aber sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Sie spürte den leichten Wind in ihrem Haar. Im nächsten Moment schrie sie auf und ließ vor Schreck die Laterne fallen. Schlagartig erlosch das Licht.
»Was ist los?« O’Sullivans Stimme klang besorgt.
Moira keuchte, ihre Hände fuhren nach oben. »Ich … ich weiß nicht! Irgendetwas sitzt auf meinem Kopf! In meinem Haar!« Sie flüsterte, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. Aber das wagte sie nicht.
Spitze Krallen klammerten sich in ihr Haar, ganz nah an ihrem Ohr quiekte und zirpte es. Vor ihrem geistigen Auge erschienen die schrecklichsten Gestalten der Wildnis.
»Holt es runter! Bitte!« Ihre Stimme wurde schriller.
»Bleibt ganz ruhig stehen! Ihr dürft Euch nicht bewegen!«
»Schnell! Bitte!« Es fiel ihr schwer, seiner Anweisung nachzukommen. Mit angehaltenem Atem und fest geschlossenen Augen stand sie zitternd da. O’Sullivans Hände tasteten sich an ihren Schultern entlang, bis er ihren Kopf erreicht hatte. Seine Finger fassten in ihr Haar.
»Ich glaube nicht, dass es gefährlich ist«, hörte sie dann seine Stimme in der Dunkelheit. »Es fühlt sich ganz weich an. Wie ein … Aua … Aber es hat scharfe Krallen. Und es scheint sich bei Euch wohl zu fühlen.« Er lachte leise und tastete sich weiter in ihr Haar.
»Trotzdem«, bat sie, nun weitaus ruhiger. »Nehmt es fort.«
»Ich glaube, es ist etwas Ähnliches wie eine große Maus«, sagte er ganz nah bei ihr. »Oder eher wie ein Eichhörnchen. Es hat einen langen, buschigen Schwanz. Und – hier spüre ich ganz viel Haut. Behaarte Haut. Ein seltsames Kerlchen.«
Seine Nähe ließ ihr Herz schneller schlagen, aber ihre Angst war verschwunden. Tief sog sie seinen Geruch nach Stall, Rauch und frischem Schweiß ein und hielt mit geschlossenen Augen still, während er das Tierchen Pfote für Pfote aus ihrem Haar löste.
»Es ist fort«, sagte er schließlich. »Ich habe es in einen Baum gesetzt.«
»Danke«, murmelte Moira, ohne die Augen zu öffnen. Irgendwo über ihr stieß das kleine Geschöpf Töne aus, die entfernt an das Bellen eines Hundes erinnerten. »Aber … könnt Ihr vielleicht noch mal nachsehen? Ich habe das Gefühl, als wäre da noch etwas.«
Seine Finger strichen sanft über ihre Kopfhaut. Ein Kribbeln stieg ihren Rücken hoch und entfachte eine warme Flamme in ihrem Bauch. Unwillkürlich seufzte sie auf.
Sofort hielt er inne. »Tut Euch etwas weh?«
»Nein«, flüsterte sie. »Es … es fühlt sich nur so gut an.«
Das Streichen ging über in ein sanftes Kraulen, ein leichtes Kreisen mit den Fingerkuppen. Die Flamme in ihrem Bauch loderte heller. Moira biss sich auf die Lippen, um nicht aufzustöhnen, als er ihren Hals berührte. Sein Atem streifte ihre Wange. Seine Hand strich die Haare in ihrem Nacken zur Seite, dann spürte sie seine Lippen an ihrem Haaransatz. Ein weiterer wohliger Schauer durchlief sie, ihr war schwindelig. Träumte sie?
»Nicht«, wollte sie sagen, aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Sie drehte sich um, tastete im Dunkeln nach ihm und hob ihr Gesicht zu ihm empor.
War dies Wirklichkeit? Oder doch ein Traum? Sie konnte nichts sehen, konnte ihn nur spüren, seine Hände auf ihrem Gesicht, sein Körper so nah bei ihrem. Und wie im Traum ließ sie sich fallen in seinen Kuss, öffnete ihre Lippen, ließ ihn ein. Es war, als hätte sie ihr Leben lang darauf gewartet, so selbstverständlich war es. Und so – zwangsläufig. Dies war es, wonach sie so lange gehungert hatte, das wurde ihr in diesem Moment klar.
»Nein«, keuchte sie, als er sich von ihr lösen wollte. »Nicht aufhören!«
»Das … das dürfen wir nicht!«, stieß er ein wenig atemlos hervor, aber im nächsten Moment hielt er sie schon wieder in seinen Armen, entflammte ihren Körper erneut.
»Wir müssen zurück«, sagte er, als sie schließlich mit wunden Lippen voneinander ließen.
»Ich will nicht«, murmelte Moira. »Lass uns für immer hierbleiben. Halt mich einfach nur fest!«
Für eine Weile standen sie in stummer Umarmung da, selbstvergessen, dem Herzschlag des anderen lauschend. Dann schreckte Moira ein eigenartiges Geräusch auf, ein dunkles, dumpfes Grollen, weit entfernt und doch irgendwie nah.
»Hörst du das auch?«
»Ja.« Duncans Stimme klang eher amüsiert als besorgt.
»Was ist das?«
»Mein Magen«, bekannte er.
»Was?« Die kurzzeitige Anspannung fiel von Moira ab, sie lachte wie ein kleines Mädchen. »Das ist dein Magen, der da so knurrt? Hast du denn noch nichts gegessen?«
»Nein. Ich musste ja hinter jungen Frauen herschleichen, die nachts einen Ausflug in den Busch machen wollen.«
Erneut kicherte sie. Aber der Zauber war gebrochen, die Wirklichkeit hatte sie wieder. Sie räusperte sich. »Wir … Ich sollte jetzt gehen.«
Hand in Hand bahnten sie sich einen Weg durch die Finsternis, zurück in die Zivilisation, vorbei an wisperndem Nachtgetier und duftenden Büschen. Als sie die Laternen des Hauses durch das dichte Laub schimmern sahen, blieb Duncan stehen.
»Gute Nacht«, sagte er leise.
Er blieb im Schatten der Bäume zurück, während sie auf das Haus zuging, süßen Schmerz auf den Lippen.