17.
Der hohe Baum ragte drohend
vor Duncan auf. Seine Beine fühlten sich auf einmal ganz schwach
an, und daran war wohl nicht nur der Fußmarsch von heute Morgen
schuld, den er mit bloßen Füßen und gefesselten Händen hatte
bewältigen müssen. In der zurückliegenden, durchwachten Nacht hatte
er gebilligt, was heute geschehen würde. Er hatte gesündigt. Er
hatte die Ehe gebrochen. Dies war seine Sühne, auch wenn er nicht
dafür verurteilt worden war. Aber jetzt, am helllichten Tag und
angesichts des breiten Baumstamms, an den man ihn gleich binden
würde, überfiel ihn ein Anflug von Panik. Gott, steh mir
bei!
Er biss die Zähne zusammen, schöpfte Atem, ließ die Angst ein und wieder hinaus. Es war nicht verwerflich, sich zu fürchten. Christus hatte sich auch gefürchtet, als er im Garten von Gethsemane auf seine Gefangennahme wartete, und gebetet, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge.
Die beiden Männer, die ihn auspeitschen würden, standen bereit, ein rechts- und ein linkshändiger – dieselben, die im vorigen Monat seine Leidensgenossen Paddy und Maurice so erbarmungslos geschlagen hatten. Neben ihnen warteten ein Trommler und ein Soldat mit einer Schiefertafel auf ihren Einsatz.
Kurz blickte er über die Menge, die sich auf dem Platz um den großen Baum versammelt hatte. Alle Sträflinge waren gekommen. Hatten kommen müssen. Was ihm bevorstand, war ein öffentliches Ereignis, zur Abschreckung der anderen gedacht. Ganz vorne, nahe bei der Tanne, stand der Doktor. Und neben ihm, in einer rotweißen Uniform mit goldenen Tressen, Major Penrith. Ausgerechnet der Major! Als Duncan ihn vorhin gesehen hatte, war sein Mut noch mehr gesunken.
War Moira auch da? Er hoffte und fürchtete es gleichermaßen. Da! Da war sie! Sie stand direkt neben Ann, mitten in der Menge. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Der Schmerz in ihren Augen gab ihm einen Stich ins Herz, dennoch war es ihm ein eigentümlicher Trost, sie hier zu wissen. War sie freiwillig gekommen, oder hatte der Doktor sie dazu gezwungen?
Einer der Folterknechte trat vor ihn, so dass er Moira nicht mehr sehen konnte. Man öffnete Duncans Handfesseln, zog ihm das Hemd aus und band ihn mit ausgebreiteten Armen an den Baumstamm.
Er hörte Schritte neben sich und drehte den Kopf. Major Penrith stellte sich dicht hinter ihn. Duncan konnte sein Rasierwasser, mit einem Hauch von Nelke und Zitrone, wahrnehmen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich im Auge behalten werde.« Mit einer Reitgerte strich er an Duncans Seite entlang, bis hinauf unter sein Kinn. Das leichte Kitzeln ließ einen Schauer über Duncans Haut laufen.
»Die arme Mrs McIntyre«, sagte der Major leise. »Da dachte ich, du wärst ihr zugetan, nachdem sie sich so für dich eingesetzt hat, aber was tust du? Verschleppst sie zum Dank in die Wildnis. Oder war es vielleicht doch ganz anders?« Er trat noch näher an Duncan heran. »Sieh sie dir an, wie verloren sie dasteht. Man könnte meinen, sie habe Mitleid mit dir.«
Duncan antwortete nicht. Sein Herz schlug schmerzhaft laut gegen seine Rippen, aber das würde er den Major um alles in der Welt nicht merken lassen.
»Zeigt mir die Katze!«, wandte sich der Major an den Folterknecht zu seiner Rechten.
Man reichte ihm eine Neunschwänzige. Der Major schüttelte die Peitsche, um die neun Lederriemen zu entwirren, dann strich er darüber, als gehörten sie zu einem Tier, ließ sie fast zärtlich durch seine Finger gleiten.
»Knoten«, befahl er dann. »Macht in jeden der Riemen drei Knoten, mit drei Zoll Abstand. Ihr sollt ihn schließlich nicht streicheln.«
Duncan stockte für einen Moment der Atem. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen, dann klopfte es umso hastiger weiter. In seinem Magen breitete sich Übelkeit aus.
»Sir.« Der Doktor war neben den Major getreten. Er schwitzte. »Das … Eine solche Verschärfung ist gemeinhin nur für schwerere Vergehen vorgesehen.«
»McIntyre, was ist los mit Euch?« Der Major maß ihn mit einem durchdringenden Blick. »Dieser Bastard hat Eure Frau verschleppt und ihr wer weiß was angetan! Ihr solltet der Erste sein, der sich für eine Verschärfung ausspricht!« Er wandte sich an Duncan. »Möchtest du mir noch etwas sagen?«
Duncan hätte ihm am liebsten vor die Füße gespuckt, aber das ließ seine Fesselung nicht zu. Sein Mund war trocken wie die ägyptische Wüste, an seiner Wange spürte er die rissige Baumrinde.
»Fangt endlich an«, murmelte er.
»Oh, der irische Bastard kann es gar nicht abwarten!« Der Major lächelte spöttisch und trat einige Schritte zur Seite. »Nun denn. Deine Schreie werden Musik in meinen Ohren sein.«
Das Urteil wurde verlesen. Duncan hörte kaum hin. Er schloss die Augen und rief sich Moiras Gesicht ins Gedächtnis, versuchte, sich an ihren Duft zu erinnern, an jeden ihrer Düfte …
Der dumpfe Schlag der Trommel setzte ein. Der erste Hieb. Direkt zwischen die Schulterblätter. Es brannte wie Feuer. Er biss sich auf die Zunge. Der zweite, von der anderen Seite. Duncan spürte, wie die Haut an den Stellen aufplatzte, wo die Striemen sich kreuzten. Er wünschte, er hätte einen Knebel gehabt, irgendetwas, auf das er beißen konnte, um die Qual ein wenig erträglicher zu machen.
Moira. Sie …
Der nächste Schlag. Flüssiges Feuer.
Sie sollte ihn nicht so sehen müssen. Nicht so hilflos.
Durch den Schleier aus vernichtenden Schmerzen hörte er, wie zum stetigen Schlag der Trommel langsam jeder Schlag gezählt wurde.
»Achtundzwanzig!«
Das Blut lief heiß über seinen Rücken.
»Neunundzwanzig!«
»Dreißig!«
Wieder und wieder klatschten die neun Riemen auf sein Fleisch. Er konnte fühlen, wie die Knoten seine Haut aufrissen, und hielt die Luft an.
Er würde keinen Laut von sich geben. Keinen Laut.
»Sechsundfünfzig!«
Keinen.
»Siebenundfünfzig!«
Laut.
»Achtundfünfzig.«
Mit einem heiseren Keuchen entwich die Luft aus seinen Lungen.
»Neunundfünfzig!«
Er biss die Zähne erneut zusammen, ballte die Fäuste in den Stricken und griff in Gedanken hinaus nach einem Anker, an dem er sich festhalten konnte. Moiras geliebtes Gesicht vor seinen geschlossenen Augen. Ihr übermütiges Lächeln. Es veränderte sich, verschwamm, zerfloss. Bildete sich neu, formte ein Antlitz, das er früher bei Vater Mahoney oft gesehen hatte. Der Kopf einer schönen jungen Frau mit einem Kind auf dem Arm. Ein blauer Umhang umgab die zarte Gestalt. Maria mit dem Jesuskind.
Ein Schlag, und noch einer, und noch einer. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und ohne die Fesseln, die ihn fest an den Baumstamm pressten, wäre er sicher zusammengesackt. Jemand sagte etwas, aber er hatte Mühe, es zu verstehen. Dann kehrte sein Geist in die Wirklichkeit zurück.
»Fünfundsiebzig!«
Die Schläge hörten auf, der Trommler verstummte. Jemand – der Doktor? – kam zu ihm und legte einen Finger hinter sein Ohr, dort, wo er seinen eigenen Pulsschlag pochen spürte. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet, er schmeckte Blut.
»Wasser«, murmelte er.
»Er bekommt kein Wasser!«, hörte er eine herrische Stimme. »McIntyre, tretet zurück. Der Bastard kann noch eine ganze Menge vertragen!«
»Einen Augenblick, Major.«
Etwas wurde ihm zwischen die Zähne geschoben. Ein Taschentuch. Es roch schwach nach Parfüm. »Beiß drauf, das macht es leichter.«
War das der Doktor? Er war zu erschöpft, um sich darüber zu wundern.
»Nichts da, McIntyre!« Die Stimme des Majors. »Nehmt das verdammte Tuch wieder weg! Ich will ihn endlich winseln hören!«
»Ich muss aus medizinischer Sicht darauf bestehen!«, gab der Doktor zurück. »Es ist niemandem geholfen, wenn er sich die Zunge abbeißt.«
Duncan kaute auf dem Tuch herum und spannte seinen Körper gegen das, was noch kommen würde. Er würde stark sein, er würde standhalten, er würde – o gütiger Herrgott, hilf! Der nächste Hieb fuhr auf sein gemartertes Fleisch nieder. Und wieder. Und wieder. Sein Rücken kochte, fühlte sich an, als ob er mit einem rotglühenden Eisen versengt würde.
»Sechsundneunzig!«
»Siebenundneunzig!«
Alles schien sich um ihn zu drehen, ihm war übel. Das gemächliche Dröhnen des Trommlers und das Ausrufen der Schläge mischten sich zu einem wabernden Geräuschebrei. Allmählich verlor er jedes Gefühl für Zeit und Wirklichkeit. Wie in einem Traum stiegen Bilder in ihm auf, Bilder, die er annahm, ohne sie zu verstehen.
Ein Schlag. Ein Mann stürzt zu Boden.
Eine Geißel fährt auf einen entblößten Rücken nieder. Wieder. Und wieder. Blut tropft in den Sand.
Ein Mann in einem Purpurmantel. Der Körper darin geschunden, von Striemen bedeckt.
Ein männliches, bärtiges Gesicht, mit Augen von strahlender Güte. In seinem Haar ein dorniger Kranz. »Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt.«
Der Mann fällt in den Staub, ein schwerer Balken drückt ihn nieder. Ein anderer hilft ihm auf.
Ein langer Nagel, aufrecht in einer Handfläche. Ein Hammerschlag. Die Finger krümmen sich vor Schmerz. »Lamm, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.«
Eine Frau weint. Stumm, beinah lautlos. Tränen netzen ihr Gesicht. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.«
*
Ann weinte, ihre reizlosen Züge waren tränenüberströmt. Moira dagegen stand stumm daneben, mit kalkweißem Gesicht und riesigen Augen, und starrte auf das blutige Geschehen. Sie war unnatürlich ruhig, fast schon starr. Keine Träne war zu sehen.
Alistair hatte darauf bestanden, dass sie anwesend war. Sie sollte sehen, wie es dem Mann erging, der es gewagt hatte, ihm seine Frau abspenstig zu machen. Und als hätte sie gemerkt, dass er sie ansah, wandte sie den Kopf und erwiderte seinen Blick. Hass und Verachtung spiegelten sich in ihren Augen.
Ein sirrendes Geräusch, als die Peitsche zurückschwang, der Schlag der Trommel, dann das schwere Klatschen der neun Riemen.
»Hundertzwölf!«
Er hatte geglaubt, er würde Genugtuung verspüren, wenn man den Gefangenen bestrafte, der ihn gleich in doppelter Hinsicht betrogen hatte – schließlich hatte er jetzt auch keinen Gehilfen mehr. Er hatte gedacht, nichts mehr für O’Sullivan zu empfinden, jeden Funken Zuneigung gelöscht, aus sich herausgerissen zu haben, wie man ein Unkraut mitsamt der Wurzel entfernt. Aber so einfach war es nicht.
Ein Haufen widerstreitender Gefühle kämpfte in ihm. Bis auf den Tag, als O’Sullivan Moira gegen Oberaufseher Holligan beigestanden hatte, hatte Alistair den jungen Sträfling noch nie ohne Hemd gesehen. Und so hatte sich anfangs zu Hass und verletzter Ehre auch wieder schändliches Begehren gemischt, hatte der Anblick des geschmeidigen, bronzefarbenen Oberkörpers seine Fingerspitzen kribbeln lassen, als würden Ameisen darüber laufen, und einen Schauer der Erregung durch seine Lenden gejagt.
Inzwischen aber war aus der Lust Qual geworden. O’Sullivan in aller Öffentlichkeit gedemütigt und gefoltert zu sehen war fast mehr, als er ertragen konnte. Es half nichts, dass er sich ins Gedächtnis rief, was der Sträfling ihm angetan hatte. Bei jedem einzelnen Schlag zuckte Alistair innerlich zusammen, und er musste sich zwingen hinzusehen. Jeder neue Hieb ließ den schönen Körper erbeben, presste ein ersticktes Keuchen in das Tuch. Sein Tuch. Immer wieder hieb die Katze ihre neun Krallen ins Fleisch, schlugen die knotigen Riemen neue Wunden, rissen Fetzen aus der Haut.
»Hundertfünfzig!«
Die Trommel verstummte erneut zur vorgeschriebenen Pause. Blut tropfte auf den Boden, als die Schergen ihre Peitschen schüttelten, um sie zu entwirren. Dass es sich dabei um O’Sullivans Blut handelte, ließ ein beklemmendes Gefühl in Alistair aufsteigen. Auch der breite Baumstamm war blutbespritzt, genau wie der Boden darunter. O’Sullivan hatte die Augen geschlossen und die Zähne im Tuch vergraben, sein Puls war schwächer und schneller als vorhin. Alistairs Gedanken überschlugen sich. Konnte er, sollte er jetzt schon abbrechen? Es lag in seiner Hand. Der anwesende Arzt musste sicherstellen, dass der Verurteilte die Schläge bei vollem Bewusstsein erlitt – und natürlich auch Sorge tragen, dass niemand während der Bestrafung starb. Dennoch zögerte er. Herzschlag und Atmung waren noch kräftig. Bei einem vorzeitigen Abbruch würden die ausstehenden Schläge nachgeholt werden. Je mehr O’Sullivan jetzt ertrug, umso weniger würde er zu einem späteren Zeitpunkt erleiden müssen.
Stumm nickte Alistair den Schergen zu. Der freudlose Dreiklang setzte wieder ein.
Trommel, Schlag, Zahl.
Trommel, Schlag, Zahl.
Rufe und Gemurmel bei den Zuschauern ließen ihn den Kopf wenden. Eine kleine Gruppe hatte sich um jemanden geschart: Moira. Man half ihr eben wieder auf die Beine. War sie zusammengebrochen? Ann warf ihm einen tränenvollen Blick zu. Aber er konnte nicht weg, er durfte sich seiner Pflicht nicht entziehen, er musste bei O’Sullivan bleiben … Außerdem kümmerte man sich ja bereits um seine Frau. Fahrig gab er Ann ein Zeichen, das ihr erlaubte, sich mit Moira zu entfernen, dann wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu.
Von O’Sullivan kam kein Laut mehr. Sein Körper, der sich bislang bei jedem neuen Schlag angespannt hatte, verlor zusehends an Kraft. Nur die Stricke hielten ihn aufrecht. Er rührte sich kaum noch.
Alistair würde dieser widerlichen Veranstaltung jetzt ein Ende bereiten. Mit einem Ausruf gebot er den Schergen Einhalt. Seine Beine zitterten, als habe man auch ihn ausgepeitscht, und es dauerte, bis er O’Sullivans schwachen, jagenden Puls gefunden hatte. Als er eines der Augenlider hob, war die Pupille weit geöffnet, der Blick ins Leere gerichtet. Und obwohl O’Sullivan wirkte, als wäre er kaum bei Bewusstsein, biss er so fest auf das Tuch, dass Alistair Mühe hatte, es aus den verkrampften Kiefern herauszubekommen. Er steckte das feuchte, blutige Stück Stoff wieder ein.
»Die körperliche Züchtigung wird abgebrochen«, wandte er sich an Major Penrith. Ein leichtes Zittern wollte sich in seine Stimme einschleichen; er bemühte sich, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. »Weitere Schläge kann ich aus ärztlicher Sicht nicht verantworten.«
Zu seiner Überraschung nickte der Major. »Notiert, Sergeant«, sagte er zu dem Soldaten mit der Schiefertafel. »Auf Anweisung von Dr. McIntyre bei zweihundertsechsundzwanzig Schlägen abgebrochen.« Alistair glaubte ein boshaftes Lächeln zu sehen. »Damit stehen noch vierundsiebzig aus. Weg mit ihm!«
Die Menge begann sich zu zerstreuen. Die beiden Schergen banden O’Sullivan los, packten ihn unter den Armen und schleiften ihn zu einem Karren, der nicht weit entfernt stand. Alistair nahm O’Sullivans Hemd auf und folgte ihnen, sah zu, wie sie den blutigen Körper auf die Ladefläche warfen. Das Gefährt war von ähnlicher Bauart wie jenes, das die beiden Ehebrecher auf ihrer Flucht verloren hatten. Um den Karren war es ihm egal, aber er bedauerte den Verlust seiner Arzttasche, die sich darauf befunden hatte.
Er trat zu dem schmächtigen Sträfling, der abfahrbereit auf dem Kutschbock saß.
»Ich fahre«, sagte er knapp und schickte den Mann fort.
»Sieh an, sieh an«, hörte er dann die Stimme des Majors, als er gerade auf den Kutschbock stieg. »Lasst Ihr jedem dieser Bastarde solch eine Fürsorge angedeihen? Oder nur diesem hier?«
»Ich muss ohnehin ins Lazarett«, gab Alistair schmallippig zurück. »Entschuldigt mich, Major.« Er gab dem Pferd die Zügel und fuhr los, den Blick des Majors wie ein Pfeil in seinem Rücken.
Kurz hinter Toongabbie, wo die Straße nach Parramatta abbog, fuhr er einen kleinen Seitenweg hinein, wendete und hielt dann an. Unter dem Sitz holte er eine Wasserflasche hervor, stieg herunter und dachte gerade noch daran, das Pferd anzubinden, bevor er nach O’Sullivan sah.
Der junge Sträfling lag bäuchlings, den Kopf zur Seite, die Augen geschlossen, auf den hölzernen Bohlen des vierrädrigen Karrens. Alistair blickte auf den zerschundenen Rücken und versuchte, nur Arzt zu sein. Keine Gefühle zuzulassen, weder Genugtuung noch Mitleid. Oder gar etwas anderes.
Ein leichter Wind wehte und bog das hohe Gras am Straßenrand. Alistair kletterte auf den Karren und griff nach O’Sullivans Hemd. Als er den Stoff unter den Kopf des jungen Mannes schob, bewegte dieser sich und stöhnte. Nein, er murmelte etwas. Alistair beugte sich weiter vor.
»… Flügel … wie Tauben …«, konnte er jetzt verstehen. »dass ich wegflöge …«
War das nicht ein Psalm aus der Bibel? Hatte das Fieber ihn jetzt schon im Griff? Aber seine Haut war kühl, nur feucht von Schweiß und Blut.
Er öffnete die Wasserflasche und setzte sie O’Sullivan an die Lippen, doch das Wasser versickerte zwischen den Brettern. So würde es nicht gehen. Alistair formte seine rechte Hand zu einer Kuhle, ließ Wasser hineinlaufen und bot es O’Sullivan dar, so wie man einen Hund trinken ließ. Und fast wie ein Tier trank der junge Sträfling aus seiner Hand, durstig, gierig, bevor er wieder zusammensank. Noch immer wirkte er wie weggetreten. Ob dieser Zustand länger anhalten würde? Besser wäre es. Im Lazarett würden ihm noch genug Schmerzen bevorstehen.
Alistair blickte sich verstohlen um. Niemand war zu sehen, und von der Straße aus war er auch nicht zu entdecken. Langsam hob er die Hand und legte sie auf O’Sullivans Kopf, ging tiefer, dorthin, wo die dunkelbraunen Haare schweißnass im Nacken klebten. Eine Strähne hatte sich in einer blutigen Strieme verfangen. Alistair griff vorsichtig danach, befreite sie und legte seine Hand wieder auf die feuchte Haut.
Ein paar Augenblicke lang gönnte er sich die Wohltat dieser Berührung, überließ sich der Erregung, die dabei in ihm aufstieg, dann zog er seine Hand zurück. War da jemand? Erneut blickte er sich um, und diesmal war er sicher, dass ihn jemand beobachtete.
Dann sah er sie. Eine kleine dunkle Gestalt, halb verborgen vom Gebüsch. War das nicht die kleine Wilde, an der Moira so hing? Dann war der helle Fleck daneben sicher der räudige Dingo.
Alistair nahm die Wasserflasche wieder an sich. Er eilte nach vorne zum Kutschbock und wedelte dabei mit den Händen, um das Mädchen zu verscheuchen. Eine unbestimmte Furcht hatte ihn ergriffen. Wer konnte schon wissen, wie viele dieser Wilden sich noch im Gebüsch versteckten und was sie im Schilde führten?
Im nächsten Moment stieß das Mädchen einen durchdringenden Schrei aus, so schrill und klagend, dass es Alistair kalt den Rücken hinablief. Es hörte sich an wie ein fremdartiger Trauergesang, und für einen Moment überkam ihn die absurde Idee, sie würde O’Sullivans Schmerz hinausschreien.
Fluchtartig trieb er das Pferd an. Ihr Schrei folgte ihm wie ein Fluch.