11. 

 

blumeVom Leben in der Kolonie gab es fast täglich etwas Neues zu berichten, und Klatsch und Tratsch verbreiteten sich schnell. In Sydney und Parramatta wurden einige Schafdiebe und Straßenräuber gehängt. Am Hunter River im Süden hatte man Kohle gefunden. In der Nähe von Parramatta wurden eine Schule und ein botanischer Garten eröffnet. Eine Ladung illegal angelandeter Alkohol war beschlagnahmt worden. Und die Gerüchte, die Sträflinge von Toongabbie planten einen Aufstand, wollten nicht verstummen. 

All diese Ereignisse waren für Moira so weit entfernt, als fänden sie auf dem Mond statt. Die endlosen Stunden der Tage verbrachte sie in einem traumähnlichen Zustand mit Lesen, Briefeschreiben, Handarbeiten und dem kurzen Plausch mit den Nachbarn, um erst dann wieder aufzuwachen, wenn sie bei Duncan sein konnte. Sie wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, und konnte doch nicht davon lassen. Jede Nacht wartete sie ungeduldig, bis McIntyre endlich neben ihr eingeschlafen war, dann schlich sie sich hinüber in das Kutschenhaus. 

Sie wagte es selten, tagsüber zu Duncan zu gehen, schließlich konnte man nie wissen, wann McIntyre ihn brauchte. Stets trafen sie sich an Duncans Schlafplatz auf dem Heuboden, und fast immer kamen sie nur für ein paar atemlose, berauschende Minuten zusammen. Und viel zu schnell mussten sie sich danach wieder trennen. Das Risiko, entdeckt zu werden, war zu groß. Auch so war es alles andere als ungefährlich. Als Moira eines Nachts zurück in die Schlafkammer geschlüpft war, war McIntyre wach gewesen. Sie habe nicht schlafen können und sei auf der Veranda gewesen, hatte sie auf seine brummige Frage erklärt und die Decke über sich gezogen. 

Manchmal träumte sie von Duncan, von seiner federleichten Berührung auf ihrer Haut, von dem Gefühl, ihn in sich zu spüren. Einmal, als sie aus einem solchen Traum aufgewacht war, hätte sie sich fast verraten. Halb im Schlaf und von einer wilden Sehnsucht getrieben, hatte sie sich wollüstig an McIntyre gerieben. Zum Glück war auch er zu schlaftrunken gewesen, um es richtig zu bemerken, aber Moira hatte noch lange mit klopfendem Herzen in der Dunkelheit gelegen. 

Sie war eine lernbegierige Schülerin. Nie hätte sie gedacht, dass der Akt, den sie bei McIntyre stets nur mit Schmerz und Ekel verbunden hatte, solche Freude schenken konnte. McIntyre hatte sie nie an den Stellen berührt, an denen Duncan sie berührte. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr ihr Körper nach Zärtlichkeiten dürstete. 

Inzwischen kam ihr sogar McIntyre nicht mehr ganz so unerträglich vor. In der kurzen Zeit während der Mahlzeiten, die sie mit ihm zu tun hatte, war er von einer förmlichen Höflichkeit, mit der sie gut leben konnte. Er ließ sich jetzt noch seltener blicken und verbrachte Stunden um Stunden in seinem Studierzimmer. Der Einzige, der diesen Raum außer ihm selbst noch betreten durfte, war Duncan. Moira plagte die Neugier. Eines Tages, als sie beide Männer dort wusste, legte sie das Ohr an die Tür und lauschte. Sie konnte nicht viel hören, nur McIntyres leise Stimme und etwas wie ein Ächzen. Im nächsten Moment kam Ann mit einem Arm voll nasser Wäsche vorbei. Moira fühlte sich, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, und zog sich schuldbewusst zurück, um keinen Deut klüger. Sie hatte sogar schon im Kutschenhaus zwischen dem Werkzeug und den Sachen für die Pferde herumgestöbert und auch auf dem Heuboden nachgesehen, als sie Duncan dort nicht angetroffen hatte. Ohne Ergebnis. Was immer er für McIntyre hergestellt hatte, war nicht mehr dort. 

»Wieso willst du mir nicht verraten, was ihr beide da furchtbar Geheimes in seinem Zimmer tut?« Sie schmiegte sich an Duncan, der bäuchlings neben ihr im Stroh lag. Es war später Vormittag, einer der seltenen Momente, in denen sie mehr Zeit füreinander hatten, denn McIntyre war in Parramatta. 

Duncan öffnete schläfrig ein Auge. »Weil ich es versprochen habe.« 

In Moiras Unterleib pulsierte ein kleines, warmes Feuer. Langsam ließ sie ihre Finger über Duncans Rücken gleiten, von dessen Braun sich ihre weiße Hand abhob. Sie erfreute sich an seinem Anblick, genoss das Gefühl, ihn anfassen zu können, die warme Haut über festen Muskeln und Sehnen zu spüren. Die Peitschenspuren waren fast nicht mehr zu sehen. 

»Wieso konnten wir uns nicht kennenlernen, bevor ich diesen … diesen alten Bock heiraten musste?«, stieß sie plötzlich hervor. »Und bevor du verurteilt wurdest?« 

Duncan lachte leise und drehte sich zu ihr. »In Irland? Da hättest du mich doch nicht einmal angesehen!« 

»O doch, das hätte ich!« 

»Aber deine Familie hätte mich sicher nicht mit offenen Armen aufgenommen.« 

Moira konnte ein Grinsen nicht zurückhalten, als sie sich vorstellte, wie ihre Mutter auf Duncan reagiert hätte: »Ein Mann unter deinem Stand, und dann auch noch ein Papist!« Nein, das wäre ganz und gar nicht in Frage gekommen. 

»Ich wäre mit dir weggelaufen«, murmelte sie. Dann setzte sie sich auf, von einer plötzlichen Erregung gepackt. »Und das können wir immer noch! Irgendwohin, wo uns niemand kennt. Nur du und ich. Oder wir suchen uns ein Schiff und fahren nach … nach Amerika. Oder nach Batavia, in Niederländisch-Indien.« Sie konnte Duncans Gesicht nicht sehen, da er den Kopf zur anderen Seite gedreht hatte. »Was sagst du dazu?« 

Jetzt setzte auch er sich auf. »Du wirst nicht weglaufen. Du hast hier einen Mann, ein Heim, eine sichere Zukunft.« 

»Ich bin hier aber nicht glücklich. Ich bin nur mit dir –« 

»Und ich werde auch nicht weglaufen«, unterbrach er sie. Er nahm einen Strohhalm in die Hand und drehte ihn zwischen seinen Fingern. »Der Doktor hat mir zugesagt, sich für meine Begnadigung einzusetzen.« 

»Und das glaubst du ihm?« 

»Wieso sollte ich an ihm zweifeln?« 

Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so etwas tun würde.« 

»Der Doktor ist kein schlechter Mensch. Höchstens ein bisschen eigenartig.« 

»Du kennst ihn nicht so, wie ich ihn kenne.« 

Duncan sah sie ruhig an. »Kennst du ihn denn wirklich?« 

»Nein«, gab Moira achselzuckend zu. »Aber das will ich auch gar nicht. Und ich will jetzt auch nicht länger über ihn reden. Eigentlich«, sie nahm ihm den Strohhalm aus der Hand, »will ich gar nicht mehr reden.« 

»Ganz wie Ihr wünscht, Mrs McIntyre.« 

Duncans Hand glitt an ihrem Bein hinauf und legte sich auf die zarte Haut ihres Schenkels. Moira seufzte wohlig auf und ließ sich zurück ins Stroh sinken. Und dann war nur noch eines wichtig. 

* 

Die Schläge prasselten auf den entblößten Rücken des Sträflings. Man hatte ihn mit ausgebreiteten Armen an den breiten Stamm der großen Tanne gebunden, die auf dem Versammlungsplatz stand. Zwei Männer, der eine rechts, der andere links von ihm, schwangen abwechselnd die Peitsche. Wie zwei Drescher die Gerste, so schlugen sie im Wechsel auf ihr Opfer ein. Der Boden war rot von Blut. 

Der junge Mann – sein Name war Paddy Galwin, wie Alistair sich zu erinnern glaubte – war schon der zweite, der dieses Martyrium erdulden musste. Sein Leidensgenosse vor ihm hatte die dreihundert Schläge mit stoischem Gleichmut ertragen – eine bemerkenswerte Leistung angesichts des barbarischen Akts. Anschließend hatte er jede Hilfe abgelehnt und war allein in den Karren geklettert, der ihn ins Lazarett bringen würde. 

Alistair ließ seinen Blick über die Menge der Zuschauer schweifen. Alle waren sie hier versammelt: Reverend Marsden aus Parramatta, einige Konstabler, Lagerleiter Sergeant William Penrith, der sich sichtlich unwohl fühlte, und dessen Bruder, Major James Penrith, der die ganze Aktion angeordnet hatte. 

Alistair wäre der unerfreulichen Szene am liebsten ferngeblieben, aber bei Auspeitschungen mit mehr als fünfzig Schlägen musste ein Arzt anwesend sein. In diesem Augenblick bedauerte er zutiefst, nicht doch mit seiner Frau und den Wentworths nach Sydney gefahren zu sein. Wer hatte denn wissen können, dass an diesem Frühlingsvormittag das Militär in Toongabbie auftauchen würde? Alle männlichen Sträflinge hatten hier erscheinen müssen, um dem unschönen Spektakel beizuwohnen. Man hatte sogar den Papistenpriester Harold herbeigebracht und ihn gezwungen, seine Hand gleich neben die von Galwin an den Stamm zu legen. Er musste jeden einzelnen Schlag spüren. Und auch Joseph Holt, der Rebellengeneral, war anwesend und musste nah bei dem Verurteilten stehen. Wie Alistair gehört hatte, war er vor wenigen Tagen verhaftet worden, weil man ihm, genau wie dem Priester, vorwarf, mit den Rebellen gemeinsame Sache zu machen. 

Die ersten hundert Schläge hatte Galwin auf seine Schultern erhalten, bis man die hellen Knochen der Schulterblätter sehen konnte. Der Major hatte daraufhin angewiesen, tiefer zu schlagen. Inzwischen war auch dort rohes Fleisch zu sehen. Dennoch kam kaum ein Laut aus dem Mund des schmächtigen Gefangenen. Als Arzt war Alistair den Anblick von Blut gewöhnt, aber diese Demonstration militärischer Willkür widerte ihn an. 

Die Schergen hielten inne und schüttelten ihre Peitschen aus. Der starke Wind wehte dem Rebellengeneral Blut und Hautfetzen ins Gesicht. Holt holte ein Tuch aus seiner Tasche und wischte sich über das Gesicht, ohne eine Miene zu verziehen. 

James Penrith trat neben den Gefangenen, schneidig wie eh und je. Als Alistair den Major das letzte Mal gesehen hatte, hatte er in der tiefen Bewusstlosigkeit, die dem Grand Mal stets folgte, bei Wentworth auf einem Kanapee gelegen. Jetzt erinnerte nichts mehr an diese Schwäche. 

»Wirst du nun endlich reden?«, herrschte er den Gefangenen an. »Wo sind die Piken versteckt?« 

Galwin hob den Kopf und versuchte vergebens, sich in seinen Fesseln aufzurichten. »Ich weiß es nicht«, brachte er stoßweise hervor. »Und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht verraten. Ihr könnt mich hängen, wenn Ihr wollt. Aber aus meinem Mund werdet ihr nichts hören.« 

Der Major trat zurück und gab Alistair ein Zeichen. Dieser befand den Sträfling nach kurzer Prüfung für fähig, die letzten hundert Schläge zu erhalten. 

Während Galwin jetzt auf die Rückseite seiner Oberschenkel geschlagen wurde, versuchte Alistair, jedes Mitleid in sich zu ersticken. Es war gut und richtig, was hier geschah. Der in letzter Sekunde vereitelte Aufstand hätte sie alle das Leben kosten können. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er sich vor Augen hielt, was gerade noch verhindert worden war. Die papistische Rebellenbrut hatte geplant, nach Parramatta zu gehen, dort Reverend Marsden zu ermorden, die Soldaten in ihren Betten zu erstechen, deren Musketen zu nehmen und dann weiter nach Sydney zu marschieren. Und was hätten sie wohl in Toongabbie mit ihm, Alistair, angestellt? 

Sein Blick fiel auf O’Sullivan, der bei der Gruppe der Sträflinge stand und das blutige Schauspiel mit unbewegtem Gesichtsausdruck verfolgte. Ob er etwas über den Aufstand wusste? Nein, sicher nicht. Der junge Mann hatte sich in den vergangenen Wochen weiterhin als wertvoller Gehilfe erwiesen. Nicht nur, dass er sich bereitwillig für die Versuche zur Verfügung stellte, er kam sogar mit eigenen Ideen und hatte Alistair auf so manchen weiterführenden Gedanken gebracht. In solchen Momenten kam es ihm fast so vor, als wäre O’Sullivan der Sohn, den er sich immer gewünscht hatte. 

Das größte Problem mit dem oculus introspectans, dem »hineinblickenden Auge«, wie Alistair seine Erfindung genannt hatte, war nach wie vor die Beleuchtung. Auch eine Kerzenflamme gab zu wenig Licht. Er musste das Prinzip verändern. Wenn es nicht auf direktem Weg ging, dann eben indirekt. Wie bei der camera obscura. Dafür brauchte er eine konvex geschliffene Linse, die das Licht bündeln würde. Aber wie fast alles in dieser Kolonie war auch das nicht so einfach zu bekommen. Wahrscheinlich würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als nach England zu schreiben und auf eine entsprechende Lieferung zu warten. Aber das konnte über ein Jahr dauern. 

Plötzlich war Stille. Die Schläge waren vorüber. Der halb ohnmächtige Galwin wurde losgebunden und neben seinen Leidensgenossen in den Karren geschafft. Der kupfrige Geruch von Blut stach unangenehm in der Nase. 

»Man muss diesem Abschaum gegenüber Härte zeigen. Das kleinste bisschen Mitleid ist da zu viel«, sagte der Major, dann schlug er Alistair jovial auf die Schulter. »Und nun, McIntyre, was haltet Ihr von einem Glas Rum und einem Gespräch unter vier Augen bei Euch?« 

»Oh, gerne«, stammelte Alistair, der gehofft hatte, sich endlich wieder seinen Forschungen widmen zu können. 

»Sehr schön. Ich habe hier noch etwas zu erledigen. Geht schon vor, ich komme gleich zu Euch.« Der Major drehte sich um, ohne auf eine Antwort zu warten, und ging mit seinem Bruder und den Konstablern in Richtung der Verwaltungsgebäude. Auch den Sträflingen erlaubte man, sich zu zerstreuen. 

Alistair dachte nicht lange nach. Er musste verhindern, dass der Major und O’Sullivan sich begegneten. 

Der junge Sträfling sprach gerade mit einem hünenhaften Gefangenen, der schwere Ketten trug, die ihm nur ein paar schwerfällige Schritte erlaubten. Alistair erinnerte sich an ihn; er hatte den Mann bereits mehrmals versorgt, nachdem man ihn ausgepeitscht hatte. Als Alistair zu ihnen trat, verstummte ihr Gespräch. 

»O’Sullivan, du wirst ihn«, er deutete auf den Wagen mit den beiden Verletzten, auf dessen Kutschbock bereits ein Mann saß, »nach Parramatta ins Lazarett begleiten und dafür sorgen, dass man die Wunden gut behandelt.« 

Der junge Sträfling sah ihn kurz an, dann nickte er. »Ja, Sir.« 

Ob der unerwartete Befehl ihn überrascht hatte? Zumindest würde es ihn lange genug von Toongabbie fernhalten. Lange genug, bis der Major fort war. Alistair wartete, bis auch O’Sullivan auf den Kutschbock geklettert war. Als die beiden Männer aufbrachen, eilte er auf schnellstem Weg nach Hause. 

Dort rief er nach Ann. »Major Penrith kommt gleich. Lauf schnell hinüber zum Proviantmeister und besorge eine Flasche Rum.« 

Für einen Moment schien Ann vor Schreck zu erstarren. »Aber Sir … müsste das nicht Duncan, ich meine, O’Sullivan …« 

»O’Sullivan hat eine andere Aufgabe erhalten. Und jetzt schnell! Beeil dich!« 

Alistair blieb unschlüssig vor der Tür zu seinem Studierzimmer stehen, dann drehte er sich um, ging in die Schlafkammer und warf einen Blick in den kleinen Spiegel, der auf Moiras einfacher Frisierkommode stand. Ja, seine Halsbinde saß ordentlich. Er neigte dazu, seiner äußeren Erscheinung zu wenig Aufmerksamkeit beizumessen. Dann trat er einen Schritt näher und betrachtete sich genauer. 

Er wurde alt. Die tiefen Tränensäcke zeugten von zu wenig Schlaf und seine fahle Gesichtsfarbe von zu wenig frischer Luft. Er war jetzt siebenundvierzig Jahre alt und sah aus wie sein eigener Großvater. 

Entschlossen zog er seinen Rock stramm. Was konnte Major Penrith von ihm wollen? Ob es um O’Sullivans mögliche Beteiligung an dem Aufstand ging? Nein, dann hätte der Major sich anders verhalten. Vielleicht wollte er sicherstellen, dass Alistair nichts über jenen Vorfall bei Wentworth verlauten ließ. Aber als Arzt würde Alistair die ärztliche Schweigepflicht natürlich nicht verletzen. Oder wollte er sich nur über den Fortgang der Forschungen informieren? In diesem Fall würde Alistair ihm seine neuesten Zeichnungen zeigen und seine Überlegungen erläutern. Möglicherweise konnte er den Major sogar wegen einer geschliffenen Linse ansprechen. 

Es dauerte eine Weile, bis Ann zurückkehrte, atemlos vom Laufen, aber tatsächlich mit einer Flasche Rum unter dem Arm. 

»Wieso hat das so lange gedauert?«, fragte er, nicht ganz so ärgerlich, wie er sich anhören musste. Immerhin war der Major noch nicht eingetroffen. 

»Entschuldigung, Sir.« Anns Stimme war wie immer kaum zu hören. »Ich habe den Proviantmeister nicht gleich gefunden. Und dann –« 

»Ja, ja, schon gut. Du hast ja das Richtige mitgebracht.« 

Der Major ließ nicht mehr lange auf sich warten. Er war kaum eingetreten, als er sich auch schon schwungvoll auf einem Stuhl in der Wohnstube niederließ. Ann schenkte ihm mit sichtlich zitternden Fingern Rum ein und zog sich dann in eine Ecke der Stube zurück. 

»Nun, McIntyre«, der Major griff nach seinem Glas, »wie kommt Ihr voran mit Eurer bahnbrechenden Erfindung?« 

Alistair seufzte unhörbar auf. Ging es tatsächlich nur darum? »Oh, bestens, Sir.« 

Der Major nahm einen Schluck, dann lehnte er sich zurück und schlug ein Bein über das andere. Seine wohlgeformten Waden kamen in den eng geschnittenen Stiefeln bestens zur Geltung. »Zeigt es mir!« 

»Was?«, fragte Alistair irritiert. 

»Das Instrument oder wie immer Ihr das Ding nennt. Ich will es sehen. Und beeilt Euch, ich habe nicht viel Zeit!« 

Alistair erhob sich zögernd und deutete eine Verbeugung an. »Ich bin sofort zurück.« Er ging hinaus und nestelte an dem Band seiner Westentasche, an dem er die Schlüssel trug. Die Tür zu seinem Studierzimmer war schnell aufgeschlossen. Da, die Kiste. Herrgott, das Schloss klemmte schon wieder! 

»McIntyre!« Die Stimme des Majors. »Was dauert das so lange?« 

»Sofort, Sir, ich bin gleich zurück.« Er war doch kaum eine Minute fort! Der Major genoss es wahrhaftig, seine Macht herauszukehren und seine Untergebenen zu schikanieren. 

Endlich, das Schloss war offen. Alistair griff nach dem oculus introspectans, dann auch nach dem Futteral mit dem kurzen Röhrchen, seinem ersten Prototypen. Er ließ den Kistendeckel zurückfallen. Jetzt nur noch zuschließen – Herr im Himmel, der Schlüssel wollte sich einfach nicht drehen lassen. 

»Habt Ihr Euch in Luft aufgelöst, McIntyre?« 

»Ich komme, Sir!« Er würde sich später um das Schloss kümmern. Hastig eilte er aus dem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und war zurück in der Wohnstube. 

Der Major bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick und streckte die Hand aus. »Ah, na endlich! Und das ist Euer geheimnisvolles Gerät?« Er wiegte das oculus in der Hand. »Höchst interessant. Damit könnt Ihr also ins Innere des Körpers sehen?« 

»Leider noch nicht«, bekannte Alistair. »Es fehlt noch an einer geeigneten Technik zur Beleuchtung.« 

Der Major reichte ihm das Instrument. »Wie wäre es mit einer Vorführung?« 

»Sir?« 

»Wieso so begriffsstutzig, McIntyre? Ich will eine Demonstration, das habe ich Euch schon einmal gesagt.« 

Alistair schluckte. Er war noch nicht so weit. Und vor allem nicht vor dem Major. »Sicher, Sir, ich erinnere mich. Es ist nur so – ich habe niemanden, an dem ich es vorführen könnte.« 

Wenn er jetzt fragte, an wem er es sonst ausprobierte, hatte Alistair ein echtes Problem. Aber der Major hielt sich mit solchen Fragen gar nicht erst auf. Mit einer lässigen Handbewegung deutete er in die Zimmerecke, wo Ann stand. »Nehmt sie!« 

Alistairs Beine wurden weich. »Sir, das … das geht nicht.« 

»Wieso nicht?« 

»Weil … es ist eine schwierige Sache. Nicht jeder ist dafür geeignet. Ich könnte sie verletzen, wenn –« 

»McIntyre!«, unterbrach ihn der Major. »Das interessiert mich nicht! Ich versorge Euch mit allem, was Ihr für Eure medizinische Bastelei benötigt. Und jetzt will ich Ergebnisse sehen. Sofort!« 

Ann, die die Diskussion mit schreckgeweiteten Augen verfolgt hatte, stand stocksteif da. 

»Was muss sie tun?«, fragte der Major ungeduldig. »Sich hinlegen?« 

Alistair schluckte erneut, dann räusperte er sich. »Nein, hinsetzen«, sagte er mit belegter Stimme. 

Der Major ergriff einen Stuhl und stellte ihn in die Mitte des Raums. »Du da! Setz dich!« 

Ann sah die beiden Instrumente auf dem Tisch an. Ihr Blick flatterte, wie ein gefangenes Tier auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. 

»Ann, setz dich.« Alistair wich ihrem Blick aus. Schließlich gehorchte sie. 

Er atmete tief durch. Seine Hand verharrte über dem langen Rohr, dann griff er nach dem kurzen. »Ich werde dieses hier nehmen.« Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Das ist einfacher.« 

Der Major zuckte mit den Schultern. »Wie Ihr meint.« 

Alistair trat hinter Ann und erklärte dem Mädchen kurz, was sie tun sollte. Fast wünschte er sich, O’Sullivan wäre hier. 

Ann war ein einziges Bündel Angst. Als sie zitternd den Mund öffnete, schlug ihm fauliger Atem entgegen; bei Gelegenheit musste er einmal nach ihren Zähnen sehen. 

Er kam nicht einmal bis in die Nähe des Kehlkopfs. Ann wehrte sich sofort, würgte, hustete und schlug mit Armen und Beinen um sich. 

»Weiter, McIntyre, ich halte sie fest!« Der Major war aufgesprungen und packte Anns panisch um sich schlagende Hände. Mit einer Hand umklammerte er ihre Handgelenke, mit der anderen zwängte er ihren Kiefer auseinander. »Versucht es noch einmal!« 

Doch es blieb ein Ding der Unmöglichkeit. Anns Schlundmuskulatur war vollständig verkrampft, der Kehlkopf verengt. Sie bekam kaum Luft, ihr Gesicht war rot angelaufen und die Augen vor Angst geweitet. 

Alistair legte das Röhrchen zurück auf den Tisch. »Es geht nicht«, konstatierte er, schwankend zwischen Erleichterung und Furcht. Der Major war immerhin sein Vorgesetzter. »Sir, es tut mir leid, aber ich muss diesen Versuch abbrechen. Die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben des Mädchens sind sonst in Gefahr.« 

»Wen kümmert es?« Der Major hielt Ann noch immer fest. Sie wimmerte in seinem Griff, Tränen liefen ihr über das Gesicht und in den geöffneten Mund. »Wiederholt es. Ich will sehen, was Ihr da ausgeheckt habt.« 

Alistair nahm all seinen Mut zusammen. »Bedaure, Sir, das kann ich leider nicht tun. Der hippokratische Eid gebietet, niemandem zu schaden.« 

Der Major hob eine Augenbraue und ließ endlich Ann los, die schluchzend und keuchend vor dem Stuhl zusammensank. 

»Sieh an, sieh an, der Herr Doktor hat ein Gewissen. Ich hoffe nur, dass Ihr nicht vergessen habt, wer Euch das alles hier erst ermöglicht hat!« 

»Nein, Sir, das habe ich nicht vergessen.« 

Der Major setzte sich wieder. »An wem probiert Ihr es sonst aus? Und wo ist eigentlich Euer zweiter Sträfling, dieser O’Sullivan?« 

Bevor Alistair etwas sagen konnte, hob Ann den Kopf. »Sir, ich …« Sie hustete, schnappte nach Luft, aber zu Alistairs Erstaunen wandte sie sich nicht an ihn, sondern an den Major. »Darf ich … darf ich etwas sagen?« 

»Geht es um O’Sullivan?« 

Ann nickte scheu, noch immer auf dem Boden kniend. 

»Dann sprich.« 

Allmählich ließ Anns würgender Husten nach. »Ich … ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber …« 

»Was? Komm schon, Mädchen, du kannst offen sprechen.« 

»Ich … ich will niemanden anschwärzen, aber … ich glaube, ich habe etwas gesehen.« 

»Was denn, in drei Teufels Namen? Muss man dir denn jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?« 

»Sir, ich habe gesehen, wie O’Sullivan etwas im Kutschenhaus versteckt hat«, brach es aus Ann hervor. »Vielleicht Waffen. Oder … oder Proviant. Und wo Ihr doch nach Aufrührern sucht, da dachte ich …« Sie verstummte so plötzlich, wie sie begonnen hatte. 

Alistair war der kalte Schweiß ausgebrochen. Was erzählte Ann da bloß? Konnte es wirklich sein, dass O’Sullivan einer der Aufrührer war? 

»Das hast du gut gemacht, Mädchen.« Der Major fixierte sie prüfend, dann erhob er sich. »Und jetzt wirst du mich und den Doktor zum Kutschenhaus begleiten.« 

* 

Es hatte viel geregnet in den vergangenen Tagen, der Busch, der den Weg zwischen Parramatta und Toongabbie säumte, glänzte feucht. Dennoch kam die Kutsche mit den drei Insassen, die Moira nach Hause brachte, gut voran. Auch wenn es bedeutet hatte, eine Nacht lang Duncan nicht sehen zu können, war es eine schöne kleine Reise gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass McIntyre nicht mitgekommen war. Er hatte im letzten Moment mit einer fadenscheinigen Begründung abgesagt, und so war Moira alleine mit D’Arcy Wentworth und Catherine Crowley zu den Balmains nach Sydney gereist. Seine Kinder hatte Wentworth in der Obhut eines Kindermädchens gelassen. 

Dr. Balmain war Magistrat und oberster Arzt der Kolonie, ein Mann der ersten Stunde, der vor zwölf Jahren mit der Ersten Flotte nach Neuholland gekommen war. Genau wie Dr. Wentworth lebte auch Dr. Balmain unverheiratet mit einer ehemaligen Sträflingsfrau zusammen. Bei so vielen Gemeinsamkeiten war es nicht verwunderlich, dass die beiden Ärzte befreundet waren. 

Catherine Crowley, die Moira gegenübersaß, lächelte ihr verschwörerisch zu. Moira wusste, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte. Heute Morgen, im Haus der Balmains, hatte sie sich vor dem Frühstück heftig übergeben müssen. Kurz darauf war Catherine bei ihr erschienen – und das vielsagende Glitzern in ihren Augen hatte Bände gesprochen. Sie hatte nichts auf Moiras Beteuerungen gegeben, lediglich das üppige Abendessen nicht vertragen zu haben. »Ich habe drei Kinder geboren. Glaubt mir, ich sehe es, wenn eine Frau guter Hoffnung ist«, hatte sie gesagt. 

Ein widersprüchliches Gefühl, schwankend zwischen Furcht und Freude, regte sich in Moira. Aber nein, sie war nicht dafür geschaffen, Kinder zu empfangen, das hatte sie schließlich in den langen Monaten ihrer Ehe feststellen können. Und doch – falls es tatsächlich zutraf, dann gab es keinen Zweifel, wer der Vater des Kindes war, schließlich hatte McIntyre seine Aktivitäten im ehelichen Schlafgemach seit einiger Zeit vollkommen eingestellt. 

Als sie sich Toongabbie näherten, konnte Moira das ockerfarbene Band des Flusses erkennen. Durch die häufigen Regenfälle der vergangenen Wochen führte er viel Wasser. Dahinter erstreckte sich die Reihe gleichförmiger Sträflingshütten. Eine Kutsche kam ihnen entgegen, flankiert von berittenen Soldaten. Man grüßte sich mit kurzem Kopfnicken und fuhr aneinander vorbei. 

Moira wandte sich um. Sie kannte den Mann, der dort neben einem anderen in der Aufmachung eines katholischen Priesters saß, doch sie brauchte eine Weile, um ihn einordnen zu können. Dann fiel es ihr wieder ein. Holt! Joseph Holt, der Rebellengeneral, der mit ihnen auf der Minerva gereist war. Soweit sie wusste, war er von Zahlmeister Cox als Verwalter auf dessen Farm in Parramatta eingestellt worden. Es sah nicht so aus, als wäre er freiwillig in Toongabbie gewesen. Was hatte er dort gemacht? Ein ungutes Gefühl ergriff sie. 

Als die ersten Häuser auftauchten, verabschiedete sie sich von Wentworth und Catherine, die nach Parramatta zurückfuhren. Catherine drehte sich noch einmal um und winkte ihr aufmunternd zu, dann fuhren sie weiter. Moira wollte gerade den Weg zu ihrem Haus einschlagen, als sie verharrte. 

Etwas war anders als sonst. Über dem großen Platz, der für Versammlungen genutzt wurde, lag eine angespannte Stille, und bei den Verwaltungsgebäuden sah sie die rot-weißen Uniformen der Soldaten des New South Wales Corps. Der Boden unter dem Baum, an dem man die Sträflinge öffentlich züchtigte, war blutgetränkt, der Geruch von Blut und Schweiß hing in der Luft. Ihr Magen zog sich zusammen. Duncan … 

Sie hielt einen Soldaten an, der soeben aus einem der Gebäude kam. »Sir, könnt Ihr mir sagen, was hier vorgefallen ist?« 

Der Mann musterte sie und kam offenbar zu dem Schluss, dass sie vertrauenswürdig war. »Man hat in letzter Minute einen Aufstand verhindert, Madam. Einige Sträflinge wurden ausgepeitscht. Der Major hat eine Überprüfung angeordnet.« 

»Der Major?« Ihr Magen war ein eisiger Kloß. »Meint Ihr Major Penrith?« 

»So ist es, Madam.« Der Soldat grüßte kurz und ging davon. 

Sie wartete, bis er um eine Ecke verschwunden war, dann lenkte sie ihre Schritte in Richtung Kutschenhaus. Sie zwang sich dazu, nicht zu laufen, auch wenn ihr Herz vor Angst hart gegen ihre Rippen klopfte. Duncan. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen, hoffentlich hatte der Major ihn nicht gesehen, hoffentlich … 

Das Kutschenhaus war leer. Weder Tier noch Mensch war anwesend. Doch über den Ausdünstungen von Pferd und Stall lag noch etwas anderes. Ein Geruch nach Fleisch und Rauch, der ihr plötzlich Übelkeit verursachte. 

In einer der vorderen Unterstände summte es leise. Fliegen? Lag dort etwa eine Leiche …? 

Langsam trat sie näher, bereitete sich auf den Anblick vor, um nicht aufzuschreien. 

Ein Schwarm Fliegen stob auf, als sie näher trat. Zwischen Zaumzeug und Striegeln hing – ein halber Schinken. Keine Leiche. Für einen Moment fühlte sie sich so schwach, dass sie fast umgefallen wäre und sich an der Wand festhalten musste. 

Nach dem ersten Schock der Erleichterung begannen ihre Gedanken zu rasen. 

Was hatte ein Schinken hier zu suchen? Hier, bei Duncan im Kutschenhaus? Hatte er ihn hier versteckt? Was hatte er damit vor? Plante er eine Flucht und sammelte Verpflegung? Aber hatte er nicht gesagt, er würde nicht weglaufen wollen? Oder hing es mit dem vereitelten Aufstand zusammen, von dem der Soldat erzählt hatte? Dann schüttelte sie den Kopf. So dumm, einen Schinken ausgerechnet hier aufzuhängen, wo ihn jeder sofort entdecken würde, wäre wohl kaum jemand. Am allerwenigsten Duncan. 

Sie sah sich das Fleisch genauer an. Ein solches Stück Schinken hing auch in ihrer eigenen Speisekammer. Nein, es war genau dieser Schinken! 

Moira zögerte nicht länger. Für Fragen war später noch Zeit, jetzt war Handeln gefragt. Niemand durfte diesen Schinken hier, bei Duncan, entdecken.  

Kurzentschlossen holte sie einen kleinen Schemel, der ganz in der Nähe stand, und nahm das geräucherte Fleisch vom Haken. 

Sie war kaum aus dem Kutschenhaus getreten, als ihr Herz zum dritten Mal an diesem Tag wild zu schlagen begann. Der Major! Er kam mit McIntyre und Ann – wirklich Ann? – direkt auf sie zu. Moira atmete tief durch. Jetzt bloß keine Panik! Sie packte den Schinken fester und ging hocherhobenen Hauptes weiter. 

»Mrs McIntyre, welch unverhofftes Vergnügen!« Der Major blieb stehen und musterte den Schinken. »Und welch ungewöhnliches Gepäck.« 

»Das ist unser Abendessen«, würgte Moira mühsam hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Aus … Sydney.« 

»Tatsächlich? Hoffentlich habt Ihr ihn zu einem guten Preis bekommen.« 

»Das habe ich«, erklärte Moira kühl. Allmählich fühlte sie sich wieder sicherer. Ihr Blick fiel auf Ann, die abwechselnd rot und blass wurde. Sie sah aus, als wäre sie krank. »Ist dir nicht gut?« 

Ann schreckte auf. »Nein, Ma’am, alles in Ordnung«, flüsterte sie und schaute zu Boden. 

Was ging hier vor? Selbst McIntyre wirkte beunruhigt. 

Der Major blickte über ihren Kopf hinweg. »Ich sehe, Ihr seid in Eile, genau wie wir. Lasst Euch nicht aufhalten, Mrs McIntyre.« 

Moira sah dem seltsamen Dreiergespann nach, wie es in Richtung Kutschenhaus verschwand. Das war gerade noch gutgegangen. Sie fasste das Fleisch fester und eilte, so schnell es der Anstand erlaubte, zurück ins Wohnhaus. 

Der Haken in der Speisekammer war leer. Sie hängte den Schinken auf und ging in die Wohnstube. Wo war Duncan? 

Das Haus atmete noch die Gegenwart des Majors, sie konnte sein würziges Rasierwasser riechen. Auf dem Tisch in der Stube stand ein benutztes Glas und eine Flasche Rum, daneben lagen zwei Rohre, fast so dick wie ein Finger und von unterschiedlicher Länge. Für einen Moment vergaß Moira ihre Sorge und nahm das längere Rohr in die Hand. Hatte Duncan das hier hergestellt? Und wozu diente es? 

Wenn McIntyre schon so ungewöhnlich nachlässig mit seinen Sachen war, vielleicht konnte sie dann einen Blick … Sie ging zum Studierzimmer und drückte probeweise die Klinke hinunter. Die Tür öffnete sich. 

Sie war nur ein einziges Mal, am Tag ihrer Ankunft, hier drinnen gewesen. Neben dem Schreibtisch stand McIntyres Kiste. Das Schloss war offen. 

Moira schnappte nach Luft. Sollte es tatsächlich möglich sein, endlich einmal einen Blick in die geheime Kiste zu werfen, die McIntyre bislang gehütet hatte wie seinen Augapfel? Sie lehnte die Tür an, kniete sich vor die Kiste und klappte den Deckel auf. 

Papiere, Zeichnungen, medizinische Zeitschriften. Sie nahm einen Stapel Papiere in die Hand und blätterte sie durch. Blätter voller engbeschriebener Zeilen, dazwischen Skizzen. McIntyre war kein unbegabter Zeichner. Andeutungsweise war der Umriss eines Menschen abgebildet, mal in der Quersicht, mal von vorne. Und war das das Innere eines Organs? Sie sah Skizzen von dünnen Rohren in unterschiedlicher Länge und Ausführung, von Spiegeln, gläsernen Linsen in verschiedenen Formen und Größen, Kerzen in metallenen Umhüllungen. Die Zeichnung einer camera obscura mit Unmengen von gekritzelten Berechnungen. Wozu sollte das gut sein? Kurz horchte sie auf. Nein, niemand kam. Dann legte sie die Papiere beiseite und wühlte tiefer in der Kiste. Das Jagdfieber hatte sie gepackt. 

Da – unter einem Stapel Zeitschriften lag etwas verborgen, ein Brief. Sie zog ihn hervor. »Für Alistair«, stand in einer geschwungenen, leicht zittrigen Frauenhandschrift darauf. Er duftete ganz schwach nach Rosen. Hatte Victoria, McIntyres erste Frau, ihn geschrieben? Vor Aufregung schlug ihr Herz schneller, und für einen kurzen Moment überkamen sie Gewissensbisse. Durfte sie so einfach in den Sachen ihres Mannes wühlen, Victorias Briefe lesen? Dann schüttelte sie den Kopf. Die Neugierde war stärker. Eine solche Gelegenheit würde sich wahrscheinlich nie wieder ergeben. 

Das Siegel war erbrochen; hastig entfaltete sie den Brief. Es waren nur wenige Zeilen. 

»Verehrter Alistair«, entzifferte sie. »Wieso nur? Was du getan hast, hat mir das Herz gebrochen. So kann ich nicht mehr weiterleben. Aus dieser Schande kann mich nur –« 

»Was fällt dir ein? Leg das sofort wieder hin!« McIntyre stand in der Tür, seine Stimme drohte überzukippen. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und zerrte den Brief aus ihrer Hand. Er zerriss mit einem hässlichen Laut. »Wie kannst du es wagen? Das ist …« 

»Victorias Abschiedsbrief.« Moira erhob sich. Ihr Herz hämmerte, aber weniger aus Furcht als vor Schreck über sein plötzliches Erscheinen. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm, wurde ihr in diesem Moment bewusst. Anklagend hielt sie ihm die abgerissene Hälfte des Briefes entgegen. »Was habt Ihr getan? Was habt Ihr so Furchtbares getan, dass sie sich das Leben genommen hat?« 

McIntyres Gesicht verzog sich zu einer Grimasse aus Trauer und Wut. Sie sah seinen Schlag kommen, trotzdem war der Schmerz ein Schock. 

»Habt Ihr sie auch geschlagen?«, flüsterte sie, die Hand an der brennenden Wange. »Hat Victoria sich deshalb umgebracht?« 

»Ich habe sie nie geschlagen!«, keuchte McIntyre. »Ich habe sie geliebt!« 

Moira lachte auf. »Ihr könnt doch überhaupt nicht lieben!«, warf sie ihm entgegen, ließ den Papierfetzen fallen und stürmte aus dem Zimmer.