13. 

 

blumeIn dem strömenden Regen konnte Moira kaum ein paar Schritte weit sehen. Wenigstens schützten sie McIntyres Mantel und sein Dreispitz. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Duncan, der mittlerweile bis auf die Haut durchnässt sein musste, und bezwang den Wunsch, sich an ihn zu schmiegen. Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest umklammerte er die Zügel. Sie sprachen kaum miteinander. Zu ungeheuerlich war das, was vorgefallen war, als dass sie das Geschehene in Worte hätten fassen können. Und so saßen sie nur schweigend nebeneinander auf dem Kutschbock des einfachen Karrens und lauschten dem gleichförmigen Hufschlag des Pferdes und dem Reiben der Geschirrgurte. 

So schnell hatte sich alles geändert. Mit einem Schlag war sie herausgerissen worden aus der vermeintlichen Sicherheit ihres bisherigen Lebens. Was bislang nur ein abwegiger Wunschtraum gewesen war, war tatsächlich eingetroffen: Sie lief fort. Mit Duncan. 

Sie merkte erst, dass sie an den Fingernägeln knabberte, als sie rohes Fleisch spürte. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Die Panik nicht zuzulassen. Wie lange es wohl dauern würde, bis man den gefesselten McIntyre entdeckte? Hoffentlich erst in einigen Stunden, wenn jemand die Pferde von der Koppel ins Kutschenhaus brachte. Sie brauchten so viel Vorsprung wie möglich. 

Der Regen ließ allmählich nach, ging in ein schwaches Tröpfeln über und versiegte schließlich ganz. Als sie ein abgeerntetes Maisfeld passierten, riss Moira sich angewidert den Dreispitz vom Kopf, öffnete die Knopfleiste und begann, den schweren Mantel auszuziehen. 

Duncan beobachtete sie wortlos. Erst als sie den Mantel vom Karren schleudern wollte, fiel er ihr in den Arm. »Nicht! Was soll das?« 

»Ich stinke nach ihm!« 

»Wir werden den Mantel noch brauchen.« 

Im ersten Moment wollte Moira widersprechen, dann lenkte sie ein. Er hatte ja recht. Als sie den zusammengelegten Mantel unter den Kutschbock schob, entdeckte sie dort McIntyres Arzttasche. Noch etwas, das sie brauchen konnten? 

»Bist du sicher, dass Dr. Wentworth uns helfen wird?« Duncan strich sich mit einer Hand die nassen Haare aus dem Gesicht. 

Moira nickte. »Ganz sicher. Er hat mir seine Unterstützung mehrfach angeboten. Und Dr. Wentworth steht zu seinem Wort. Außerdem bin ich mit seiner Frau befreundet.« Sie lächelte schwach. »Catherine war selbst ein Sträfling, als sie hierherkam.« 

Möglicherweise wusste Wentworth ein Versteck, in dem sie für die nächste Zeit bleiben konnten und wo man sie nicht suchen würde. Und sicher würde er ihnen Geld geben – das sie natürlich zurückzahlen würden, sobald sie dazu in der Lage wären. 

Als sie sich Wentworths Anwesen näherten, kamen sie durch ein Waldstück. Beim Anblick der regennassen Bäume stiegen Erinnerungen in Moira auf. Nicht allzu weit von hier entfernt, mitten im stockdunklen Busch, hatten Duncan und sie sich zum ersten Mal geküsst. Das war jetzt drei Monate her. Inzwischen war es Frühling, und alles stand in voller Blütenpracht. 

Die Bäume öffneten sich und gaben den Blick auf Wentworths Farmhaus frei, vor dem orange und rot leuchtende Blumen in fantastischen Formen wuchsen. Duncan fuhr den Karren vor die Ställe und band das Pferd an einen Pfosten, dann stiegen sie vom Kutschbock. 

Alles war ruhig. Zu ruhig. Niemand fragte sie nach ihrem Begehr, niemand erbot sich, ihnen zu helfen. Kaum ein Laut war zu hören, kein Kinderlachen ertönte. Die Mittagszeit war bereits vorüber, es hätte reges Treiben herrschen müssen. Hatten Eingeborene die Farm überfallen? Nein, nirgends gab es Spuren von Gewalt, der Hof war sauber gefegt, und jetzt sah sie auch zwei Sträflinge, die mit der Reparatur eines Zauns beschäftigt waren. 

Was war hier los? Waren Wentworth und seine Familie womöglich gar nicht da? Aber wieso stand dann seine Kutsche neben den Ställen? Zögernd trat sie näher, ging auf die Veranda und öffnete die Tür. 

»Dr. Wentworth?«, rief sie ins Haus hinein. Und noch einmal, etwas lauter. 

Keine Antwort. Eine unbestimmte Furcht kroch in ihr hoch wie eine Schlange. Duncan trat neben sie. 

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte sie leise. »Komm.« 

Er zögerte. Als Sträfling durfte er das Haus nicht ohne weiteres betreten. Dann gab er sich einen Ruck und trat hinter ihr ein. 

Der Salon war leer. Sie hörte ein Geräusch, wie ein Scheppern von Gläsern. Duncan deutete nach rechts. 

»Dr. Wentworth? D’Arcy?« Moira spähte in den Raum zur Rechten. 

Er stand mit dem Rücken zu ihnen, vor einer Anrichte mit verschiedenen Getränkekaraffen, und goss sich gerade ein Glas ein. Moira fiel ein Stein vom Herzen. 

»Gott sei Dank! Dr. Wentworth, entschuldigt unser Eindringen, aber wir –« 

Er drehte sich langsam um. Sein Blick war so glasig, dass sie nicht sicher war, ob er sie überhaupt erkannte. Schwankend stützte er sich an der Kante der Anrichte ab. Dann begann er zu weinen. 

Erschrocken ging sie zu ihm. »D’Arcy! Was ist denn los?« 

»Catherine«, murmelte er. 

»Was ist passiert? So redet doch!« 

Wentworth ließ seinen Arm sinken. Das Glas fiel aus seiner Hand und zerschellte auf dem Boden. Er beachtete es nicht. 

»Sie ist vom … Pferd gefallen«, flüsterte er weinend. »Heute Morgen. Sie ist … tot. Catherine ist tot!« 

Moira stand da wie gelähmt. Das konnte, das durfte nicht sein! Nicht Catherine, nicht diese vor Leben sprühende Frau, die so gerne gelacht hatte. In diesem Moment war Moiras eigene Not vergessen, war sie nur erfüllt von Trauer und Mitgefühl. 

»O D’Arcy, das … das ist ja furchtbar! Es tut mir so leid.« Ob sie irgendetwas für ihn tun könne, hätte sie fast gefragt, schluckte es aber im letzten Moment herunter. Und jedes Wort des Trostes hätte hohl in ihren Ohren geklungen. Sie konnte gar nichts für ihn tun. Und er auch nichts für sie. 

Wentworths unsteter Blick richtete sich auf sie, glitt dann hinüber zu Duncan, der an ihre Seite getreten war. Er kniff die geröteten Augen zusammen. »Was … was macht Ihr hier, Mrs … McIntyre? Und wer … ist der Gentleman in Eurer Begleitung?« Er mochte betrunken sein, aber er hatte noch genug Verstand, um die ungewöhnliche Situation zu erkennen. 

Moira zögerte. »Das hat Zeit. Ich … ich komme ein anderes Mal wieder. Bitte, Dr. Wentworth«, sie ging ganz nah an sein Ohr. »Wir sind nie hier gewesen!« 

Er sah sie an. Sein verschleierter Blick ging erneut von ihr zu Duncan, und für einen Moment blitzte Verstehen in seinen Augen auf. Er nickte mehrmals kurz. 

»Möge Gott Euch in Seiner Hand halten«, flüsterte er einen irischen Segen, dann drehte er sich wieder zur Anrichte um. 

»Und Euch, Sir«, gab Duncan zurück und zog Moira aus dem Zimmer. Sie sah gerade noch, wie Wentworths Schultern wieder zu zucken begannen, als er mit brüchiger Stimme ein Trauerlied anstimmte. 

»Er hat Catherine sehr geliebt«, murmelte Moira, als sie Wentworths Farm verließen. »Was soll bloß aus seinen drei Kindern werden? Die Ärmsten müssen jetzt ohne Mutter aufwachsen!« Ein langgezogenes Schluchzen brach aus ihr heraus, sie schlug die Hände vors Gesicht. Catherine war ihre Freundin gewesen, der einzige Mensch neben Duncan, dem sie sich bedingungslos anvertraut hätte. Sie weinte hemmungslos. 

Wortlos lenkte Duncan den Karren, bis er in dem kleinen Waldstück hinter Wentworths Farm anhielt und sie in den Arm nahm. Ein Vogel mit grauem Gefieder und roter Brust beäugte sie von einem Ast herab. Allmählich versiegten Moiras Tränen, und die Tragweite des Todesfalls drang auch zu ihr durch. 

»Was sollen wir denn jetzt tun?« Schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. 

»Es ist nicht weit bis Toongabbie. Wenn du dort« – Duncan wies auf einen schmalen Pfad – »entlanggehst, wirst du bald auf eine Straße stoßen. Dann kannst du noch vor Einbruch der Dämmerung –« 

»Was soll das?«, unterbrach Moira ihn. »Ich gehe nicht wieder zurück!« 

Er sah sie traurig an. »Doch, das wirst du. Wenn du Glück hast, wird McIntyre sich nicht daran erinnern, was geschehen ist. Sag ihm einfach, ich hätte dich zu dieser … dieser Sache gezwungen.« Er wandte den Blick ab. »Es war ein schöner Traum. Aber jetzt musst du gehen.« 

»Wieso sagst du so etwas?«, fragte Moira fassungslos. »Willst du mich loswerden? Bin ich plötzlich zur Last für dich geworden?« 

Duncan blickte stur vor sich hin. »Ich bin ein Sträfling. Jetzt sogar ein entflohener Sträfling. Sie werden schon bald nach mir suchen. Und wenn sie mich erwischen –« 

»Das werden sie nicht!«, fiel Moira ihm ins Wort. 

Seine Finger verkrampften sich um die Zügel, dann öffneten sie sich wieder. Tief sog er die Luft ein, als hätte er vorher vergessen zu atmen. »Du bist also immer noch entschlossen mitzukommen?« 

Sie nickte wortlos, mit zusammengebissenen Zähnen. 

Endlich sah er sie an. »Ich liebe dich«, sagte er leise. 

Moira schluckte, ihre Augen brannten. Sie wollte etwas erwidern, aber sie fand keine Worte. Für einen kurzen, innigen Moment trafen sich ihre Finger, schlangen sich ineinander. Seine Finger waren genauso kalt wie ihre. Dann holte die Wirklichkeit sie wieder ein. 

»Kennst du noch jemanden, der uns helfen könnte?«, fragte er. 

Moira dachte nach. Elizabeth Macarthur? Nein. Für Elizabeth war die Ehe heilig. Sie würde nie gutheißen, dass Moira ihren Mann verlassen hatte und mit einem Sträfling durchgebrannt war. Mutlos schüttelte sie den Kopf und legte ihn an Duncans Schulter. »Hast du denn keine Idee?« 

»Doch«, sagte er, »zwei. Wir könnten nach Sydney fahren, zum Hafen, und dort versuchen, auf ein Schiff zu gelangen. Eines nach Europa. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie wir das anstellen sollen, ohne entdeckt zu werden. Und ohne Geld.« 

Moira hob den Kopf. »Nein!«, erwiderte sie bestimmt. »Das kommt überhaupt nicht in Frage. In Sydney und auf dem Weg dorthin wimmelt es von Rotröcken! Und was soll ich denn in Europa? Zurück zu meinen Eltern? Ganz sicher nicht! Was ist die zweite Möglichkeit?« 

»Es sind schon einige Sträflinge geflohen«, sagte er statt einer Antwort. »Und nicht alle von ihnen wurden wieder eingefangen.« 

»Soll das heißen, du weißt, wohin sie gegangen sind?« 

Duncan zögerte kurz. »Nach China.« 

»China? Marco Polos China? In Asien? Dann brauchen wir aber auch ein Schiff.« 

»Nein, nicht dieses China.« 

»Gibt es noch ein anderes?« 

»Samuel und die anderen nannten es so. Eine Siedlung weißer Menschen, im Westen, gleich hinter den Blue Mountains. Angeblich ist es nicht weit, nur wenige Tagesreisen, sobald man die Straße gefunden hat. Samuel wollte immer dorthin.« 

»Samuel? Dein riesenhafter Freund, der aussieht, als könnte er einen Schädel mit einer Hand zerquetschen?« 

Duncan nickte. »Er meinte, er hätte die Straße schon gesehen.« 

»Eine Siedlung weißer Menschen …« Wieso eigentlich nicht? Dies hier war neues, unerforschtes Land. Was sprach dagegen, dass hinter den Bergen solch ein Ort lag? Sie brauchten ein Ziel. Und diese vage Hoffnung war zumindest besser als nichts. 

»Gut«, sagte sie, neuen Mut schöpfend. »Auf nach Westen.« 

* 

Die Nacht verbrachten sie unter dem Karren, leidlich geschützt vor dem erneut einsetzenden Regen und eng aneinandergeschmiegt unter McIntyres Mantel. Trotzdem fror Moira entsetzlich. Sie hätte nicht erwartet, dass es im Frühling noch so kalt sein würde. Aber wenn das der Preis für ihrer beider Freiheit war, dann wollte sie ihn gern bezahlen. Es wäre schließlich nur eine vorübergehende Unannehmlichkeit. 

Sie kamen nicht so schnell voran, wie Moira gehofft hatte. Einmal mussten sie umdrehen und eine ganze Strecke zurückfahren, weil ihnen ein paar umgestürzte Bäume, auf denen dichtes Moos wuchs, den Weg versperrten. Dann tauchte ein breiter Fluss vor ihnen auf – der Hawkesbury, vermutete Moira. Den halben Tag fuhren sie auf der Suche nach einer möglichen Furt am Ufer entlang und mieden dabei die wenigen, weit voneinander entfernt liegenden Farmen, die in der Nähe des Flusses errichtet worden waren. Auf dem Flickwerk der abgeernteten Felder stand der Mais nur noch einen Fuß hoch in breiten, geraden Reihen. 

Der Weg war uneben und schlammig, und manches Mal mussten sie einen Umweg fahren, um überhaupt weiterzukommen. Nie verloren sie jedoch die Berge aus dem Blick, die sich im Westen erhoben, umhüllt von jenem dunstigen, blauen Schimmer, der ihnen den Namen gegeben hatte. Dahinter lag ihr Ziel. Sie mussten nur die Straße finden, die dorthin führte. 

Am Vortag hatten sie McIntyres bauchige Arzttasche durchsucht, aber außer einem kleinen Skalpell und Verbandmaterial nichts Brauchbares gefunden. Auch nichts zu essen oder wenigstens ein Zunderkästchen. Das Stück Kuchen, das Duncan mitgenommen hatte, war längst verzehrt. Dennoch fühlte Moira sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich frei. Und manchmal kam sie sich vor wie in der Kulisse eines Theaterstücks – als passiere das alles gar nicht ihr, sondern einer anderen Person, der sie nur dabei zusah. 

Die einzigen Menschen, die sie erblickten, waren Eingeborene. Einmal glaubte Moira, in einem Schatten zwischen den Bäumen Julys blonden Haarschopf erkannt zu haben, aber dann entpuppte es sich nur als bräunliches Blattwerk. Ob Julys Stamm hier irgendwo wohnte? Nein, das wohl nicht. July würde sich nicht so weit von den Ihren entfernen, die doch sicher irgendwo in der Nähe von Toongabbie ihr Lager hatten. 

* 

»Da hinüber sollen wir?« Moira blickte skeptisch auf die breite Wasserfläche, die sich vor ihnen erstreckte. Aber wenn sie in die Berge wollten, mussten sie den Fluss überqueren, das war auch ihr klar. Und hier, in dieser breiten Mulde, schien das Wasser niedrig genug zu sein, um den Übergang zu wagen. Der Regen hatte aufgehört, aber schon standen wieder dunkle Wolken am Himmel. Der Wasserpegel würde bald steigen. 

Sie saß auf dem Kutschbock, die Zügel in der Hand, und trotz des schweren Mantels überlief sie ein Schauer. Wie gerne hätte sie jetzt etwas Warmes gegessen oder wenigstens eine heiße Tasse Tee getrunken. Außer ein paar Schlucken kaltes Wasser aus einem der zahlreichen Bäche hatte sie nichts im Magen. Duncan, der abgestiegen war, drehte sich um und schickte ihr ein kurzes Lächeln, und sofort fühlte sie sich besser. Dann führte er das Pferd in den Fluss. Der Karren rumpelte schwerfällig hinterher. 

Schon nach wenigen Schritten reichte das Wasser dem Pferd bis zum Bauch, die Räder des Karrens verschwanden zur Hälfte in den Fluten. 

»Hier ist eine starke Strömung«, stellte Duncan kurz darauf fest, bis zur Taille im Wasser. 

Moira spürte es auch; das Wasser drückte gegen den Karren, als wollte es versuchen, die unwillkommenen Eindringlinge flussabwärts zu treiben. Sie griff die Zügel fester. Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch den Karren. Moira wurde fast vom Kutschbock geworfen und konnte sich im letzten Moment festhalten. 

»Wir stecken fest!«, rief sie. 

Duncan blickte zurück, dann trieb er das Pferd erneut an. Das Tier zog, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht ins Geschirr, bis die harten Muskelstränge an den Flanken hervortraten. Der Karren bewegte sich nicht. 

Schließlich gab Duncan auf, ließ das Pferd los und watete ein paar Schritte zurück. 

»Was hast du vor?« 

»Nachsehen.« Im nächsten Moment war er untergetaucht. 

Moira hatte nie schwimmen gelernt, aber das traf offenbar nicht auf Duncan zu. Die Sorge um ihn ließ sie ganz zappelig werden. Ob sie vom Karren klettern sollte? Nein, besser nicht. Und so blieb sie sitzen und zählte gegen die Angst an. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Wo blieb er nur? 

Sie hatte sich gerade entschieden, doch herunterzuklettern, als er lautlos wie ein Wassergeist wieder auftauchte. »Ich fürchte, wir müssen den Karren aufgeben. Die vordere Achse ist gebrochen.« 

»Kann man das nicht irgendwie reparieren?« 

»Wenn du mir verrätst, wie du den Karren ans Ufer bringen willst.« Duncan schüttelte das Wasser aus seinen dunklen Haaren, ein Schauer ging durch seinen Körper. »Komm. Wir müssen das Pferd ausschirren.« 

Er reichte ihr die Hand und half ihr vom Wagen. Sie schnappte nach Luft, als das kalte Wasser ihre Kleidung durchdrang und Beine und Bauch umspülte. Sich am Karren festhaltend, folgte sie Duncan zitternd nach vorne und hielt das Pferd fest, während er das Tier von seinem Geschirr befreite. Dann kämpften sie sich Schritt für Schritt gemeinsam weiter durch die eisigen Fluten. Die Strömung zerrte an ihr und ließ ihren langen Mantel wie Flügel treiben. 

Als sie endlich das andere Ufer erreicht hatten, ließen sie sich zu Boden sinken – erschöpft, mit nassen Kleidern und durchgefroren bis ins Mark. 

Moira warf einen Blick zurück auf den Karren in der Flussmitte. Die kräftige Strömung hatte ihn umgekippt und schwemmte ihn nun langsam davon. Sie hätte beinah geweint. Dieser Rückschlag war fast mehr, als sie ertragen konnte. Weiter hinten sah sie McIntyres Dreispitz davontreiben. 

Duncan zog sie an sich. »Geht es dir gut? Deine Lippen sind ganz blau.« 

Sie versuchte ein kleines, zittriges Lächeln und nickte. »Deine auch.« 

»Ein Gutes hat die Sache wenigstens. Die Strömung trägt den Karren flussabwärts. Niemand wird wissen, wo man nach uns suchen soll.« 

Moiras Zähne klapperten unkontrolliert. »Vielleicht werden … sie denken, wir … sind ertrunken.« 

»Aber das sind wir nicht.« Auch Duncan unterdrückte nur mit Mühe ein Zittern. »Und wir haben immer noch das Pferd.« 

* 

Ohne den Karren kamen sie nur langsam voran. Manchmal ritt Moira auf dem Pferd, das als Kutschpferd natürlich keinen Sattel hatte, aber die meiste Zeit mussten sie es führen, da das Gelände zum Reiten zu uneben war. Ihre nassen Sachen trockneten am Körper, in ihren Schuhen stand die Nässe, ihre Füße waren fast taub. Moira hatte ihren langen Rock minutenlang ausgewrungen, aber am Ende tropfte er immer noch und lag unangenehm feucht und kalt auf ihren Schenkeln. 

Je näher sie den Bergen kamen, umso felsiger wurde der Untergrund. Die Bäume standen dicht, der würzige Geruch von Eukalyptus mischte sich mit dem süßlichen Duft der Akazie, deren goldgelbe Köpfe aus Bündeln kleiner duftiger Blüten bestanden. Überall wuchsen Blumen. Moira hatte noch nie Pflanzen von solcher Form und Pracht gesehen – Sträucher mit schwertähnlichen Blättern und handtellergroßen, kugelförmigen Blüten von flammendem Scharlachrot. Doch so schön es war, so kalt war es auch. Und noch schlimmer als die Kälte war der Hunger. Seit zwei Tagen hatten sie kaum etwas gegessen. Immer wieder kehrten Moiras Gedanken sehnsüchtig zu ihrer gut gefüllten Speisekammer zurück. Zu dem Gemüse, den Eiern und dem Brot. Und zu dem Schinken. 

Am Abend machten sie unter einem kleinen Felsüberhang Rast. Das Pferd, das sie an einem Baum angebunden hatten, zupfte an etwas Gras, was Duncan darauf gebracht hatte, ebenfalls ein paar Gräser zu sammeln. Was für ein Pferd gut war, konnte dem Menschen wohl nicht schaden. Moira kaute vorsichtig. Es schmeckte scheußlich, aber zumindest vertrieb der bittere Pflanzensaft das nagende Hungergefühl aus ihren Eingeweiden. 

Als die Kälte des Abends vom Boden aufstieg, erfüllten fremdartige Laute die Luft, klangen aus den Wipfeln der Bäume; ein furchterregendes Schreien, dann Töne wie ein Schmatzen, Surren, Schnarren … 

Sie schmiegte sich dicht an Duncan. »Ob es hier gefährliche Tiere gibt?« 

»Nein«, gab er prompt zurück. 

»Woher willst du das wissen? Du kennst dieses Land doch genauso wenig wie ich.« 

»Warum fragst du mich dann?«, fragte er in mildem Vorwurf. »Hast du Angst?« 

»Nein. Nicht, wenn du bei mir bist.« 

Ein Schauer überrann sie. Die Nacht würde wieder kalt werden. Sie sehnte sich nach einem Feuer, aber sie hatten weder Feuerstein noch Zunder. Duncan hatte schon versucht, wie die Eingeborenen mit zwei Stöckchen Feuer zu machen, aber es war ihm nicht gelungen. 

»Morgen suchen wir nach neuen Ästen.« Er schien ihre Gedanken zu lesen. »Das Holz muss trockener sein. Und dann mache ich uns ein schönes Feuer. So.« Er griff von hinten über sie, nahm ihre Hände in seine und rieb sie. »Ich wüsste etwas, womit meiner kleinen Wildkatze warm wird«, flüsterte er in ihr Ohr und küsste die kleine Kuhle dahinter. Bartstoppeln kratzten über ihre Haut. 

Sie schüttelte den Kopf. Danach war ihr jetzt wirklich nicht zumute. Überhaupt fühlte sie sich nicht besonders gut. In ihrem Rücken zog es, und in ihren Gliedern saß ein Reißen. Ihre Kleidung war nach dem unfreiwilligen Bad noch immer klamm – wahrscheinlich bekam sie eine ausgewachsene Erkältung. 

»Lass mich einfach nur so bei dir sitzen.« Sie lehnte sich an ihn. 

Für eine Weile blickte sie in den Himmel, der wie mit Flammen gemalt war, mit Pinselstrichen in leuchtendem Rot, Orange und Safrangelb. In der Ferne konnte sie gerade noch den Fluss durch die Bäume schimmern sehen. Es war so schön friedlich hier; ein Moment, in dem die Zeit stillstand. Und plötzlich erschien ihr auch der Gedanke willkommen, womöglich ein Kind von Duncan in sich zu tragen. Aber noch wollte sie ihm nichts davon sagen. Erst dann, wenn sie in Sicherheit waren. 

»Woran denkst du?«, fragte sie, den Kopf an seiner Schulter. 

»An den Doktor.« 

Sie stieß ein Knurren aus. »Vergiss ihn doch endlich!« 

»Er muss furchtbar enttäuscht von mir sein. Hoffentlich hat er sich nicht schwer verletzt.« 

»Du machst dir Sorgen um ihn?« 

»Du nicht? Er war gut zu mir. Meistens jedenfalls. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn er … zu Schaden kommen würde. – Diese Schuld habe ich schon einmal auf mich geladen«, fügte er leise hinzu. 

»Schon einmal?« Moira drehte den Kopf und sah ihn von schräg unten an. »Was ist passiert?« 

Er gab lange Zeit keine Antwort. So lange, dass sie schon glaubte, er wolle nicht darüber sprechen. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Vater Mahoney, mein Ziehvater. Er … er ist gestorben, als sie mich verhaftet haben.« Duncan zog vorsichtig ein Bein an, ohne dass Moira ihre Position verändern musste. »Er hätte die Hand für mich ins Feuer gelegt. Immer wieder hat er die Rotröcke beschworen, seinem Wort zu trauen und mit der Durchsuchung aufzuhören. Er hat bis zuletzt geglaubt, dass ich unschuldig sei. Bis sie die Pikenspitzen bei mir entdeckten und mich verhafteten. Ich habe noch gesehen, wie er zusammengebrochen ist. Dann haben sie mich weggebracht.« 

»Aber dann kannst du doch gar nicht wissen, ob er tot ist.« 

»Doch. Emily, Vater Mahoneys Haushälterin, hat es mir erzählt. Nach Tagen, als die Wärter sie endlich zu mir ließen.« Er stockte kurz. »Vater Mahoney ist noch am selben Tag gestorben. Der Schlag hatte ihn getroffen.« 

»Das ist eine traurige Geschichte«, murmelte Moira. »Dein Ziehvater war also keiner von den Rebellen?« Sie wusste von Mr Curran, dem Freund ihres Vaters, dass auch viele Priester zu den Aufständischen gehört hatten, die sich vor zwei Jahren gegen die englische Herrschaft in Irland aufgelehnt hatten. 

Duncan schüttelte den Kopf. »Nein, davon wollte er nichts wissen. Er hielt nichts von Gewalt. Ich habe das etwas anders gesehen. Und das hat ihn schließlich umgebracht.« 

* 

Die Kühle des frühen Morgens weckte Duncan. Ohne Decke war es empfindlich kalt. Moira lag an seiner Seite. Sie hatte sich unter dem Mantel des Doktors zusammengekrümmt und schlief, ihr schwarzes Haar war genau wie seines struppig und zerzaust. Dennoch hatte sie sich kein einziges Mal beklagt. Er hätte ihr diese Strapazen gerne erspart, auch wenn es ihm manchmal vorkam, als würde sie das alles nur für ein großes Abenteuer halten. Vielleicht besaß sie aber auch lediglich die beneidenswerte Fähigkeit, für den Augenblick zu leben. 

Seine Blase drückte. So leise wie möglich stand er auf, ging einige Schritte und erleichterte sich hinter einem Strauch. In den gelben Blüten der Akazie summten Bienen. Eine von ihnen landete, die Hinterbeine beladen mit dicken gelben Pollenpaketen, neben ihm auf der Erde, putzte sich, vollführte eine kurzen wackelnden Tanz und flog wieder davon. 

Auf dem Rückweg fiel sein Blick auf einen kleinen Felsen, auf dem ein paar würfelförmige Gebilde lagen, dunkel wie Torf und mit einer Kantenlänge von vielleicht knapp über einem Zoll. Vorsichtig roch er daran. Das war nichts Essbares, sondern das genaue Gegenteil. Irgendein Tier musste hier seinen Kot hinterlassen haben. In eckiger Form. Damit er nicht herunterrollen konnte? Ein wahrhaft wundersames Land mit wundersamen Geschöpfen, das Gott hier geschaffen hatte. 

Ein Laut wie ein verärgertes Luftausstoßen ließ ihn innehalten. Ganz langsam sank er zu Boden, ging hinter einem Strauch in Deckung und verhielt sich still. Und wirklich; es dauerte keine Minute, bis der Verursacher des Geräuschs herangewackelt kam. Duncan hätte fast gelacht, als er das Tier erblickte. Es sah aus wie eine Mischung aus Dachs und Schwein, mit kurzen Stummelbeinen und platter Nase. Sein Fell war von dunklem Braun, und sein Gebiss zeigte kräftige Nagezähne. Dieses schwerfällige Geschöpf würde sich leicht fangen lassen. Vielleicht gelang es ihm heute sogar, Feuer zu machen? Vor seinem geistigen Auge tauchte bereits ein saftiger Braten auf, der ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. 

Duncan verharrte regungslos hinter dem Strauch. Erst als das Tier begann, an einem Grasbüschel zu rupfen, sprang er auf und stürzte sich auf seine Beute. 

Das Tier war keinesfalls so schwerfällig, wie sein Aussehen glauben ließ. Mit einem heiseren Quieken preschte es los, rannte gegen Duncans Beine und schoss dann durch die Büsche davon. Die Wucht des Aufpralls brachte Duncan zu Fall. Dieses kleine Vieh hatte ihn glatt umgerannt! Schnell kam er wieder auf die Füße und setzte ihm nach. 

Er war kein schlechter Läufer, aber für diese Jagd war er zu langsam. Das fremdartige Tier flüchtete schnell wie der Wind, rannte über das unebene Gelände und eine grasbewachsene Lichtung, bis es plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war. Duncan blieb stehen, wütend und keuchend, bis er etwas zu hören glaubte: ein leises, amüsiertes Lachen. Hatte ihn etwa jemand bei dieser unrühmlichen Hatz beobachtet? 

»Moira?« 

Niemand antwortete. Kein neues Lachen ertönte. Resigniert hob er die Schultern und machte sich auf den Weg zurück. 

* 

Die Berge waren gewaltig. Obwohl sie seit dem frühen Morgen unterwegs waren, schien es Duncan, als wären sie kaum vorangekommen. Über ihnen ragten steile Abhänge auf. Jeder Schritt war schwerer als der davor, die Füße fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Der Hunger nagte in ihnen. Während Duncan das Pferd führte, gaukelte ihm seine Phantasie Bilder von Tischen mit gebratenen Hühnern vor, Tellern voller Kartoffeln und Mais, Brot und Karotten. 

Wärme und Nahrung. Wie wichtig doch diese beiden Grundbedürfnisse werden konnten. Wovon ernährten sich eigentlich die Eingeborenen, die hier lebten? Irgendwie musste es ihm gelingen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Vielleicht kannten sie sogar diese geheimnisvolle Straße durch die Berge. 

Moira, die sich vor ihm herschleppte, blieb stehen. »Warte«, sagte sie erschöpft. Er konnte sehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. »Ich brauche eine kurze Pause.« 

Sie hatten kaum das Pferd angebunden und sich unter einem Baum niedergelassen, als Moira schon wieder aufstand. »Ich bin gleich zurück.« Eilig verschwand sie hinter einem Gebüsch. 

Duncan lehnte sich an einen Baum und ließ das Pferd grasen. Moira bereitete ihm zunehmend Sorgen. Die ungewohnte Anstrengung, vor allem aber Hunger und Kälte setzten ihr zu. Außerdem würde das Wetter bald wieder umschlagen. Über den Bergen hingen dunkle Regenwolken, und ein kalter Wind ging durch die Bäume. Wann würden sie endlich die Straße finden? Gab es diese Straße und das sagenhafte Land hinter den Bergen überhaupt, oder war das alles nicht doch nur Wunschdenken, erdacht von freiheitshungrigen Sträflingen? Zum ersten Mal erlaubte Duncan es sich, den Zweifeln nachzugeben. Sie würden es nicht schaffen. Nicht, wenn sie nicht bald etwas zu essen fanden und Feuer machen konnten. 

Dann hörte er Moira seinen Namen rufen. Voller Angst. Sofort stürzte er zu ihr. 

Moira kauerte hinter dem Strauch. Sie war leichenblass und hatte die Arme um den Leib geschlungen. 

»Eine Schlange? Oder Spinne?« Er begann, die Umgebung abzusuchen. 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich ganz komisch«, flüsterte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. 

»Das ist der Hunger.« Duncan ging neben ihr in die Hocke und legte einen Arm um sie. 

Moira beugte sich vor und erbrach einen kleinen Haufen Schleim. Als sie sich stöhnend zusammenkrümmte, rutschte ihr Rock hoch. Auf ihren ehemals weißen Strümpfen konnte Duncan rote Spuren erkennen. Und unter ihr, auf dem Boden, breitete sich langsam ein dunkler Fleck aus. Blut.