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Erst musste ich warten, bis Henk wieder von sich hören ließ. Ich erzählte ihm von dem Fischfutter auf meinem Schreibtisch und warnte ihn dringend davor, sich in der Öffentlichkeit sehen zu lassen.

Anstatt zu erbleichen, bekam er einen Lachanfall, dass der Qualm aus ihm herauspuffte. Es wurde mir klar, dass er genug hatte. Er war es leid, sich zu verstecken.

»Bevor ich ein Leben in Frauenkleidern führe«, sagte er bitter, »krepiere ich lieber.«

»Das ist doch nur für die erste Zeit«, munterte ich ihn auf. »Drei, vier Jahre vielleicht. Meinetwegen auch zehn. Danach rasierst du dir eine Glatze und lässt dir einen Bart stehen.«

»Hast du eigentlich mit Babsi gesprochen?«

»Sie denkt Tag und Nacht an dich. Falls die Typen dich erwischen sollten und du auf dem Obduktionstisch landest, dann will sie die Erste sein, die ein Skalpell in die Hand nimmt.«

»Spar dir deine schlechten Witze. Babsi ist in Ordnung. Absolut richtig, dass sie auf Tauchstation geht. Ich will ihr Leben nicht auch noch an den seidenen Faden hängen.«

 

 

Eines Abends tauchte er im La Mancha auf, ohne jede Tarnung. »Heh, Leute, ich bin wieder da!«, brüllte er. Und auf der Straße, als ich ihn in Schlangenlinien nach Hause geleitete: »Ihr Scheißkerle, kommt doch und holt mich! Ihr schlappschwänzigen, sizilianischen Pappnasen, ihr habt doch nur so lange eine große Klappe, wie einer vor euch zittert! Aber damit ist jetzt Schluss!«

Ich machte mir Sorgen um Henk.

Das Ultimatum aus der Dose mit dem Fischfutter verstrich, ohne dass etwas passierte. Henk glaubte allen Ernstes, die Typen eingeschüchtert zu haben, aber ich riet ihm, Kontakt zu Ariana di Maggi aufzunehmen, der Frau, die Babsi als ›Tussi‹ bezeichnete.

»Dann kann ich mir auch gleich selbst Betonfüße verpassen und in den Rhein springen«, kommentierte mein Partner diese Idee. »Sie braucht mein Ableben am dringendsten, glaub mir. Erst wenn sie mich erwischt haben, ist ihre Unbescholtenheit wieder hergestellt. Und Milanos Mannesehre. Capisce?«

Meine heimliche Hoffnung, dass man Gras über die Sache wachsen lassen konnte, zerschlug sich. Am Samstagmorgen fand ich ein völlig durchweichtes Paket vor meiner Tür. Vom Format her machte ich mich auf ein Buch gefasst, aber es enthielt ein saftiges Seelachsfilet, laut Aufschrift praktisch grätenfrei mit einer feinwürzigen Brokkoliauflage aus der Tiefkühltruhe. Auf dem beiliegenden Zettel stand: Die Zeit ist abgelaufen. Siehe Haltbarkeitsdatum. In den aufgeweichten Deckelboden war das heutige Datum eingestanzt.

Die Botschaft war unmissverständlich. Sie hatten sich nur um eine Woche vertan.

Ich packte das eklige Ding in eine Plastiktüte und nahm es mit zum Büro. Da traf ich Henk, gemütlich rauchend, die Füße auf dem Schreibtisch. Der Drehstuhl ächzte unter seinem Gewicht.

»Findest du das okay?«, fragte ich ihn.

»Du hast es nötig, Kittel, mich über Manieren belehren zu wollen.«

»Quatsch, das meine ich nicht. Dass du hier herumsitzt wie auf dem Präsentierteller. Du musst lebensmüde sein.«

Er gähnte ausgiebig. »Ein bisschen Schlaf könnte ich tatsächlich gebrauchen«, sagte er in einem Ton, dass es mir ganz anders ums Herz wurde.

Ich leerte die Tüte auf seinem Tisch aus. »Das lag im Briefkasten.«

Henk stach mit dem Zeigefinger vorsichtig nach dem Fisch, der inzwischen komplett aufgetaut war und auseinander fiel.

»Nee, du«, sagte er angewidert. »Das Zeug esse ich nicht. Das ist kein Fisch. Am Nordpol bauen sie damit Häuser.«

»Wenn du dich hier schon aufhältst, willst du dich nicht wenigstens tarnen?«

»Kittel, hör auf. Ich hab die Schnauze endgültig voll von Strapsen und künstlichem Busen.«

Inzwischen wusste ich, dass ich ihn nicht daran hindern konnte. Ich sah Henks erleichterten, verklärten Blick. Er freute sich darauf, dass es jetzt bald vorbei sein würde.

»Und wie lange willst du hier noch sitzen?«

Henk warf mir einen ernsten Blick zu. »Nett von dir, Kittel, dass du dich um mich sorgst. Aber es hat keinen Sinn, mein Leben lang davonzulaufen.«

»Du versuchst es ja nicht mal«, wandte ich ein.

 

 

Ich suchte Mattaus Privatadresse im Telefonbuch. Er wohnte einen Steinwurf vom Rhein entfernt, ganz in der Nähe der Bastei. Kein Wunder, dass er ständig in Tilos Wohnung vorbeigeschaut hatte.

»Können Sie ihn nicht wegen irgendwas verhaften?«, bat ich ihn. »Und wenn nicht, dann wenigstens wegen des Verdachts auf irgendwas? Dann hätte er sozusagen kostenlosen Polizeischutz.«

Mattau öffnete die Wohnungstür ganz und ich sah, dass er mit einem Bein in einer halb vollen Umzugskiste stand. »Tut mir Leid, Kittel«, sagte er. »Liebend gerne! Aber die Sache ist nun mal so, dass ich niemanden mehr verhafte. Dienstausweis, Dienstwaffe und Diensthandschellen habe ich schon abgegeben. Ich bin aus dem Spiel. Persona non grata.«

»So schnell?« Ich wunderte mich. »Gibt es denn nicht erst ein Amtsenthebungsverfahren?«

»Wenn ich der amerikanische Präsident wäre, ja.« Mattau grinste müde. »Aber bei mir gibt es nur ein Disziplinarverfahren. Und darauf scheiße ich.«

»Aber vielleicht können Sie mit jemandem reden.«

Der Exkommissar fegte einen Stapel Bücher von einem Regalbrett und ließ sie nacheinander in die Kiste purzeln. »Sie wissen ja, wie das ist, Kittel. Genauso wie im Kino: Bis morgen, fünf Uhr, haben Sie die Stadt zu verlassen… Kann ich Ihnen ein Butterbrot anbieten?«

»Nein, danke«, sagte ich.

 

 

Es war drei Minuten vor zwölf, als die Schlägertypen vor dem Haus vorfuhren, in dem unser Büro war. Der Schöne, Wortgewandte mit dem Seidenhemd entstieg dem Wagen wie ein Filmstar, nahm sich einen Augenblick, um Luft zu schnappen und seinen Mantelkragen zu richten. Die Kampfmaschine dagegen war schon vorgestürmt wie ein Bluthund, der von der Leine gelassen wurde. Vom Beifahrersitz des Autos, das gegenüber geparkt war, konnte man deutlich sehen, dass seine in der Manteltasche vergrabene rechte Hand einen Revolver mit aufgeschraubtem Schalldämpfer hielt.

Ich sprang aus dem Wagen, hastete über die Straße und war mit drei Schritten im Haus. Die beiden hatten schon den zweiten Treppenabsatz erreicht, ich hörte das stilvolle Tippeln des Kleinen und das martialische Stampfen des Großen. Ich nahm fünf Stufen auf einmal, stolperte und rappelte mich auf. Gar nicht leicht, die beiden einzuholen. Milanos Killer waren schnell und professionell. Sie funktionierten wie ein Uhrwerk und verloren keine unnötige Zeit damit, auf Zehenspitzen zu schleichen oder mehr als einmal die Umgebung auf ungebetene Zeugen zu checken.

Als sie die Glastür mit der Aufschrift Kittel & Voß, Private Ermittlungen erreichten, fanden sie sie angelehnt vor.

Das ließ sie einen Moment zögern, nicht mehr. Nachdem sie einen kurzen Blick getauscht hatten, schob sich der Große durch den Türspalt. Das heißt, er wollte es, aber genau in diesem Moment stieß jemand von innen die Tür auf.

Der Mann, der es so eilig hatte hinauszukommen, dass er Milanos Kampfhund rüde beiseite schob, war von beeindruckender Statur. Er war ganz in Schwarz gekleidet und glich Wild Bill Hickhock, dem todbringenden Revolvermann mit der leisen und immer etwas heiseren Stimme. Vor allem glich er ihm deshalb, weil er seine Kanone nicht unter dem Mantel versteckte, sondern offen in der Hand hielt. Er stürmte aus dem Detektivbüro und rannte die Treppe hinunter. Hätte ich mich nicht an die Wand gedrückt, er hätte mich niedergetrampelt wie ein flüchtender Elefant.

Dumpfbacke wollte dem Schwarzen hinterher, aber Schönhemd hielt ihn zurück. Er deutete auf die Tür. Eine Sekunde später verschwanden sie in Kittels und Voß’ Büro.

Endlich löste ich mich aus meiner Erstarrung und nahm die letzten Stufen. Als ich die Bürotür erreichte, kamen die beiden schon wieder zurück. Sie sahen verunsichert aus, irgendwie ratlos. Sie tuschelten und raunten sich gegenseitig auf Italienisch etwas zu.

Dann entdeckten sie mich.

Ich starrte sie an.

Schönhemd kam langsam näher. Ich presste mich an die Wand und hielt die Luft an.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sein sorgfältig manikürter Zeigefinger mich berührte.

»Das kriegt jeder, der versucht, Milano reinzulegen«, zischte er. »Capisce?«

Ich beeilte mich zu nicken, aber sie nahmen das nicht mehr zur Kenntnis. Ohne Zeit zu verlieren, wandten sie sich zur Treppe und verschwanden wie die Heinzelmännchen, größer zwar und böser, aber in Sekundenschnelle. Auftrag ausgeführt. Sie hatten hier nichts mehr verloren.

Ich stürzte in unser Büro. Aber ich kam zu spät. Der Schwarze hatte ganze Arbeit geleistet.

Henk Voß lag in einer Blutlache in der Nähe des Fensters. Hemd und Haar waren blutverschmiert. Mindestens zehn Kugeln hatten ihn durchbohrt. Die ersten hatten ihn wohl schon erwischt, als er an seinem Schreibtisch gesessen hatte. Dann war er gestürzt und hatte sich bis zum Fenster geschleppt, vielleicht hatte er um Hilfe schreien wollen. Mit letzter Kraft hatte er sich am Fenstergriff hochgezogen. Und in diesem Moment hatte der Killer gnadenlos den Rest seines Magazins auf ihn ausgeleert.

Nebenan, in meinem Zimmer, das zur Straße hinausging, riss ich das Fenster auf. Milanos Leute hatten sich bei der Telefonzelle eingefunden, die wenige Schritte die Straße hinauf lag. Der Kleine telefonierte, während der Große draußen wartete.

Ich holte so viel Luft, wie ich konnte. Dann beugte ich mich aus dem Fenster. »Ihr verdammten Schweine!«, schrie ich so laut und wütend, wie ich konnte. Dann noch mal. Die da unten taten, als hätten sie nichts gehört.

Ich schloss das Fenster und kehrte zurück in das Zimmer meines Partners.

Dort berührte ich den Leichnam mit der Fußspitze, worauf der Tote sich bewegte.

»Verdammt, wie lange dauert das noch!«, ächzte er. »Dieser Sirup ist widerlich.«

»Na schön, Henk«, sagte ich aufatmend und warf ihm den Tabak hin. »Dann komm wieder hoch. Sieht ganz so aus, als ob die die Show gekauft haben.«