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Das klare, sonnige Herbstwetter, das als Kulisse für den martensschen Familienkrach gedient hatte, war nicht von Dauer. Am Donnerstag kehrte das Einheitsgrau zurück. Und mit ihm die schwarze Gestalt.

Diesmal stand sie mitten in der Stadt, im Innenhof des alten, schlecht gepflegten Hauses, in dem ich wohnte. Sie stand keine drei Meter von den Müllcontainern entfernt. Ich wollte nicht mit ihr tauschen.

Von dritten Stock aus sah der Schwarze kleiner aus als sonst. Er wirkte fast zierlich, verletzlich, gar nicht wie die düstere Anklage des Weltgewissens.

Ich lief die Treppen hinunter in den Hof. Der Mann war kleiner. Denn es war nicht Mannie Gerresheim.

»Tag, Kittel«, sagte Tilo.

»Was macht die Therapie?«, erkundigte ich mich kühl. »Kommst du voran?«

»Tut mir Leid, das neulich«, sagte er zerknirscht. »Aber ich dachte eben, ich müsste…«

»Schon okay. Das ist dein Leben. – Also, ich muss los.«

»Kittel!« Er hielt mir einen Umschlag hin. »Das wollte ich dir bringen.«

»Was ist das?« Ich nahm ihn. Er war nicht verschlossen. Ein hübscher Stapel brauner Scheine mit vielen Ziffern darauf. »Was soll ich dafür tun?«

»Du hast schon etwas getan. Es ist dein Honorar.«

Ich grinste böse. »Ach, Quatsch! Von dir nehme ich doch kein Geld. Wovon willst du denn deinen Porsche bezahlen?«

»Also gut.« Tilo verzog das Gesicht, atmete durch und fasste sich wieder. »Du sollst etwas dafür tun. Ich will wissen, was mit diesen Toten in meiner Wohnung war.«

Ich zuckte die Schultern, so gleichgültig es nur ging. »Halluzinationen, verstehst du? Gar nicht leicht zu erklären, am besten, du fragst einfach mal deinen behandelnden Psychoklempner bei der nächsten Sitzung.«

Jetzt war Tilo beleidigt. Er streckte die Hand nach dem Umschlag aus. »Na gut. Her damit. War eine blöde Idee.«

Der Umschlag mit dem Geld war nicht besonders schwer. Trotzdem war es mir praktisch unmöglich, ihn wieder aus der Hand zu geben. »Anders ausgedrückt, sie haben dich zum Trottel gemacht. Und es ist ihnen gelungen.«

»Aber warum?«

»Weil du zufällig reingeplatzt bist, als Heino gerade diesen Mölling fertig gemacht hatte. Der wollte bei ihm absahnen. Eine kleine Unterstützung, damit er Heinos unrühmliche Vergangenheit nicht ausplaudern musste.«

»Und dann?«

»Dann haben sie es mit den Morden übertrieben, bis du kein anderes Thema mehr kanntest. Bei der Kripo machte das Grinsen die Runde, wenn du nur angerufen hast. Die perfekte Tarnung.«

Tilo öffnete den Mund, verzog ihn zu einem verständnislosen Lächeln und schüttelte den Kopf. »Du meinst…«

»Über weitere Details solltest du dich mit deiner Schwester unterhalten. Vielleicht kommt ja mal ein Tag, wo sie nicht auf dem Tennisplatz übernachtet.«

»Kim ist im Krankenhaus. Nach dem Streit mit unserem Vater hatte sie einen Nervenzusammenbruch.«

»Sie ist eben zart besaitet.«

»Es war nicht der Streit, sondern dass sie durch den Stress ein wichtiges Spiel verloren hat.«

»Klar, hätte ich mir denken können. Wer hat denn eigentlich gewonnen beim großen Showdown. Ich hab ja nur den Anfang mitgekriegt.«

»Ach, das ist alles wieder bereinigt. Ina hat Kim einen riesigen Blumenstrauß ins Krankenhaus geschickt. Und jetzt geht sie selbst jeden Tag hin. Zusammen mit ihrem Mann.«

»Tja, dann ist ja alles wieder in Butter«, brummte ich. Musterfamilien wie die Martens waren nicht kleinzukriegen. Obwohl es mir schwer fiel, musste ich zugeben, dass Guido Martens seinen Job verstand.

»Also, mach’s gut. Büffle ordentlich für dein Examen, damit dein Daddy nicht enttäuscht ist und dich feuert.«

Tilo winkte mir zu. »Das war mal«, sagte er.

»Was?«

»Das mit dem Studium. Der Familie. Die denken ja doch nur, ich bin der Obertrottel.«

»Und jetzt?«

»Ich werde jetzt büffeln, aber für die Schauspielschule. Du hattest Recht, Kittel.«

Ich war verblüfft. »Womit?«

»Ich hab’s endlich kapiert, dass man aus seinem Leben was machen sollte. Bis bald mal…« Er wandte sich zum Gehen. Man musste sorgfältig einen Schritt vor den anderen setzen, denn der Hof war übersät mit Pfützen, von denen man nicht wusste, was sie enthielten. »Solltest du auch machen.«

»Heh, was ist mit dem Geld?«, rief ich ihm hinterher und wedelte mit dem Umschlag.

Tilo winkte noch einmal, aber drehte sich nicht mehr um.

Solltest du auch machen. Was bildete er sich ein! Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich das längst getan hatte.

Da mir das keine Ruhe ließ, beschloss ich, im La Mancha ein wenig darüber nachzudenken. Um diese Zeit war es wie ausgestorben. Jiorgos hatte sogar den Bouzouki abgedreht. Wenn man sich an Zwiebel- und Knoblauchgeruch nicht störte, konnte man hier geradezu meditieren.

Sobald ich eingetreten war, zupfte mich jemand am Ärmel und eine beeindruckende Alkoholfahne flatterte mir um die Nase.

»Heh, du Turmes!« Es war die alte Dame, die neulich nachts Jiorgos einziger Gast gewesen war. »So sieht man sich wieder. Jetz sach ens, der Typ, der letztens mit dir hier war, wo ist der?«

»Der Typ ist Kommissar.«

»Ach, nee. Wat du nich sachst.«

»Und um diese Zeit ist er im Dienst.«

»Quatsch.«

»Kein Quatsch.«

Mattau hockte an einem der seitlichen Tische, zusammengesunken in seiner zweiten Haut. Vor ihm auf dem Tisch standen drei Biergläser, von denen eins noch halb voll war.

Es war mir neu, dass er zu den Leuten gehörte, die das Lokal als Stätte der Kontemplation nutzten. Mattau sah gedankenverloren an die Wand, auf die der endlos weite, knallblaue Horizont der Ägäis aufgepinselt war.

Er brauchte nicht lange, um die Alte in aller Freundlichkeit abzuwimmeln. Dann trat ich an seinen Tisch.

»Kittel!«, freute er sich und zog einen Stuhl vom Tisch weg. »Setzen Sie sich. Trinken Sie eins mit mir.«

»Ich mag ja nichts davon verstehen«, sagte ich, »aber arbeiten Sie nicht normalerweise um diese Zeit?«

Mattau winkte ab. »Genau. Sie verstehen nichts davon. Seien Sie froh.«

»Keine Besprechung heute? Oder eine Fortbildung?«

Mattau nahm sein fast leeres Glas und hielt es gegen das Licht. Dann drehte er es langsam und betrachtete es ausgiebig.

»Mein Vater«, erklärte er dem Glas, »hat mir eingetrichtert: Bevor du einen Schritt in eine bestimmte Richtung machst, frage dich vorher, ob du ihn nicht hinterher bereuen musst. Daran habe ich mich immer gehalten. Auch diesmal habe ich mich das brav gefragt. Und die Antwort lautet: Ja, ich muss ihn bereuen. Oder sagen wir, ich müsste es.« Er rülpste. »Aber ich schaffe es nicht.«

»Herr Kommissar«, sagte ich höflich. »Mir ist völlig schleierhaft, wovon Sie reden.«

»Mein Bruder hat ein Gehöft irgendwo im Münsterland. Kühe, grüne Wiesen und morgens kräht der Hahn. Wissen Sie, wann ich so was zuletzt gesehen habe? Als Kind, da war das eine Seite im Bilderbuch.« Mattau seufzte der verlorenen Zeit hinterher. »Und da er jetzt nach Spanien zieht, überlässt er es mir für einen Spottpreis.«

»Das Bilderbuch?«

»Blödsinn! Den Bauernhof.«

Gemeinsam sahen wir eine Weile aufs Meer hinaus.

»Ehrlich gesagt«, unterbrach ich das Schweigen, »verstehe ich immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich hab Ihnen doch neulich von Thorsten erzählt und Guido. Nun, das ist eine alte Geschichte und bald wird sich keiner mehr daran erinnern. Für die meisten ist sie regelrecht uninteressant. Guido allerdings hat sich, wie ich finde, ein bisschen zu sehr beeilt damit.« Wieder entfuhr ihm ein Rülpser. »Sie zu vergessen, mein ich.«

Auf einmal sah ich Martens vor mir, sein blaues Auge und die Nase, die so sehr angeschwollen war, dass eine Pappnase dagegen schlank erschien. »Wollen Sie etwa damit andeuten, Sie waren derjenige, der…«

»Wie gesagt, es hat keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Außerdem war ja alles gesagt.«

»Und deshalb haben Sie ihm eins auf die Nase gegeben.«

»Direkt neben seiner Garage führt ein Feldweg ins Nichts. Wenn es dunkel ist, ein idealer Ort für Unterredungen dieser Art. Guido nimmt ihn für seinen Verdauungsspaziergang.« Mattau beendete seine Glas-Betrachtung. »Tja, blöderweise hat er mir die Maske vom Gesicht gerissen. Und das war’s dann.«

»Und wie ging es dann weiter?«

Mattau erhob sich. »Mein Bruder behauptet, im Münsterland gibt es jede Menge Kühe und noch mehr Fahrräder. Und manchmal sieht man sogar eine Kuh auf dem Fahrrad.« Er winkte mir zu. »Deshalb habe ich zugeschlagen und den Hof gekauft. Weil ich mir den Anblick nicht entgehen lassen will.«