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Es war ein unansehnlicher Freitagnachmittag, der einem die Vorfreude auf das Wochenende gründlich verdarb. Zwar war der Regen, den es laut Vorhersage reichlich geben sollte, ausgeblieben, aber nichts war an seine Stelle getreten. Es sah so aus, als sei das ganze Wetter ausgeblieben. Über dem tristen, endlosen Ackerland war kein Himmel, nur weißes, konturloses Nichts. Ohne Sonne, ohne Regen, ohne Wind. Es lohnte sich eigentlich nicht, aus dem Fenster zu schauen.

Wenn nicht die schwarze Gestalt da draußen gewesen wäre, die sich wie ein Scherenschnitt vor dem weißen Nichts abhob. Ein großer Mann, locker über zwei Meter, in einem schwarzen Anzug, als sei er zu einer Beerdigung verabredet. Er stützte sich auf einen schwarzen Regenschirm und trug einen schwarzen Hut, der für eine Beerdigung eine Spur zu modisch war. Durch den Hut bekam sein Aussehen etwas Mafiosohaftes.

Der Mann stand praktisch reglos am Rand des weitläufigen Grundstücks. Man musste schon eine Weile hinstarren, um mitzubekommen, wie er sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte.

»Ich möchte, dass er da verschwindet«, verlangte Ina Martens. Sie trat neben mich ans Fenster und machte ein angewidertes Gesicht. »Sorgen Sie dafür.«

Sie hatte eine Figur wie ein Tennisprofi und roch nach Duschgel. Zu frisch für diesen wetterlosen Tag.

Guido Martens, ihr Mann, kam dazu und legte den Arm um ihre Hüfte.

»Genau das bezweckt er doch«, belehrte er sie sanft, »dass du dich unwohl fühlst. Versuche, ihn zu ignorieren. Das Schlimmste für ihn ist Missachtung. Wenn es nach mir geht, kann er bis zum Jüngsten Tag da unten stehen.«

Darüber wunderte ich mich. »Wozu brauchen Sie dann einen Detektiv?«

Ich schätzte Martens auf Mitte fünfzig. Vielleicht hatte er, als er Mitte zwanzig gewesen war, das Haar lang getragen und gegen den Schah-Besuch demonstriert. Seitdem hatte er sich gut gehalten, auch beruflich, und er konnte es sich heute erlauben, nachsichtig zu sein. Er trug immer noch die Haarmähne als Zeichen, dass er sich treu geblieben war. Bei Frauen schien sie jedenfalls anzukommen, sonst hätte er sich nicht jemanden wie Ina leisten können, die mindestens zwanzig Jahre jünger war als er und den Schah für eine inzwischen ausgestorbene Vogelart halten musste.

Der Blick, mit dem er sich mir zuwandte, ließ mich eine ebenso sanfte Antwort erwarten. Ich hoffte nur, dass er nicht den anderen Arm um meine Hüfte legte.

»Nun, ganz einfach. Ich…«

Die Zimmertür öffnete sich. Ein junger Mann trat ein, dessen Aussehen an den späten Elvis im Alter von zwanzig erinnerte, allerdings ohne Koteletten. Das weiße Jackett betonte seine rundliche Figur und ließ ihn fülliger aussehen, als er tatsächlich war. Wenigstens trug er keine Hosen mit Fransen. »Kim ist am Telefon«, sagte er mit einer hohen Stimme und musterte mich mit einem leicht strafenden Blick, als sei ich unerwünschter Zeuge einer intimen Angelegenheit der Familie. »Sie will wissen, ob du noch zum Tennis kommst.«

Ina verließ wortlos den Raum.

»Tilo, mein Sohn«, informierte mich Martens, ohne Elvis eines Blickes zu würdigen.

Tilo schloss die Tür. Die Klinke hielt er weiterhin fest, als gäbe er sie ungern aus der Hand.

»Was denn noch?«, wollte sein Vater wissen.

Der Junge nahm die Hand von der Klinke und verschränkte die Arme zum Zeichen seiner Entschlossenheit. »Die Sache geht mich genauso an wie dich. Also, was willst du? Ich…«

Martens streckte einen Arm gebieterisch aus und Tilo verstummte. Wären beide Arme ausgestreckt gewesen, dann hätte es eine einladende Geste sein können. So sah Martens aus wie Moses, der das rote Meer teilte.

»Bitte, mach die Sache nicht komplizierter, als sie ist, ja? Wir reden später darüber.«

Sein Sohn hielt stand und für einen Moment hätte ich geschworen, dass er sich einen Dreck um die Anweisung des Vaters scherte. Dann, plötzlich, sackten die verschränkten Arme nach unten, hingen schlaff herab wie leere Schläuche und hüpften ein letztes Mal auf und nieder, als Tilo die Schultern zuckte zum Zeichen der Kapitulation. Er verließ das Zimmer und knallte nicht einmal wütend die Tür hinter sich zu.

Vergeblich versuchte ich mich in jemanden hineinzuversetzen, der die Aussicht genießen konnte. Das Fenster ging über die ganze Breite des Raumes und bot einen Panoramablick. Auf einer griechischen Insel hätte das Sinn gemacht, aber hier, wo nur Ackerland war, so weit das Auge reichte, war es eine schlichte Zumutung. Man entkam dem Anblick nicht, er konnte einen an jedem Punkt in diesem Raum belästigen und gab einem das Gefühl, der ganze Planet werde landwirtschaftlich genutzt. Eine Art rheinischer Wilder Westen. Statt riesiger Büffelherden grasten hier und da kleine Trupps schwarzweißer Kühe und vereinzelte Traktoren erinnerten an Fliegen, die auf einem riesigen Kuhfladen krabbelten. Statt Forts gab es Autohäuser und Teppichzentren in Autobahnnähe. Und statt Goldgräber-Siedlungen ehemalige Dörfer, zu Kleinstädten aufgedunsen, mit Fußgängerzone und Mega-Disco hinter dem Ort.

»Wenn Sie wollen, dass er einfach verschwindet«, fragte ich, »wieso wenden Sie sich dann nicht an die Polizei?«

Martens schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. »Ich muss mich ein wenig über Sie wundern, Kittel. Wissen Sie nicht, dass dieser Mann nichts Verbotenes tut? Er kann sich kleiden, wie er will. Er kann stehen, wo er will, so lange er niemandem im Weg steht.«

»Und wieso steht er da?«

»Tja, da sind wir bei der Frage, wieso ich Sie eingeschaltet habe.«

Er goss sich Tee nach, nahm einen Schluck und behielt ihn für ein paar Sekunden im Mund, bevor ihn die Speiseröhre geräuschvoll abwärts pumpte.

»Ich brauche einen Detektiv, keinen Schnüffler. Einen, der diskret und zuverlässig arbeitet. Henning Schmickler hat Sie empfohlen. Er sagte, dass Sie nicht billig sind. Achthundert am Tag. Ich mag gute Arbeit und weiß sie zu schätzen. Wenn Sie gut sind, zahle ich gerne tausend.«

Am Telefon hatte er einen Henning erwähnt, der mich angeblich empfohlen hatte. Ich kannte keinen Henning. Ganz offensichtlich handelte es sich hier um eine Verwechslung, aber angesichts der tausend hatte ich es nicht gerade eilig, die Sache richtig zu stellen.

»Es gibt Inkasso-Unternehmen, die ihr Geld mit solchen schwarzen Figuren eintreiben«, sagte ich. »So genannte seriöse Firmen, die nicht mit zwei Gorillas auftauchen und einem die Bude kurz und klein schlagen. Sie haben Sinn für Stil und stellen ihren Schuldner an den Pranger, versuchen ihn vor der Nachbarschaft bloßzustellen. Eine Methode, die sich als ausgesprochen wirksam…«

»Schuldner?« Der Junggebliebene musterte mich abschätzig.

»Ich habe nicht gesagt, dass Sie gemeint sind. Vielleicht geht es auch gar nicht um Geld. Wenn es in Ihrer Familie irgendwo einen – dunklen Punkt gibt. Eine Schwachstelle…«

Martens winkte ab. »Mein Sohn«, erklärte er. »Sie haben ihn gerade kennen gelernt.«

»Er ist der dunkle Punkt?«

»Tilo«, erklärte er, während er den Kopf schüttelte, »schlägt nicht nach seinem Vater. Eher nach seiner Mutter.«

Er machte eine Pause, während der ich mich fragte, ob er das Schlagen im wörtlichen Sinn meinte. Aber dann hätte er keinen Detektiv gebraucht, sondern einen Ringrichter.

»Ich meine damit meine erste Frau. Mit Ina bin ich erst seit fünf Jahren verheiratet.«

Ina Martens konnte ohne weiteres als Tilos Schwester durchgehen, vielleicht sogar als jüngere. Sie strahlte eine geballte Jugendlichkeit aus, die nicht natürlich wirkte, sondern wie das Ergebnis harter Arbeit. Ein so perfektes Aussehen schaffte man nicht von heute auf morgen. Es brauchte Zeit. Und wenn sie die zur Verfügung hatte, war sie vielleicht doch älter, als sie aussah.

»Schon früher hat er sich gerne hinter dem Rockzipfel seiner Mutter versteckt. Bildlich gesprochen. Unbildlich gesprochen heißt das, dass er in der Illusion lebt, er könne es zu etwas bringen, indem er es allen recht macht. Nirgendwo aneckt. Sich anpasst.«

»Und damit eckt er bei Ihnen an?«

Sein Blick tauchte aus der Teetasse hoch und wandte sich an mir vorbei in eine unbestimmte Ferne. »Natürlich hat man als Vater immer gewisse Vorstellungen von seinen Kindern. Wünsche, wie sie werden sollen. Und was aus ihnen werden soll. Egoistische Wünsche. Niemand will das wirklich, aber niemand kann sich wirklich davon freimachen. Man will, dass sie aus dem gleichen Holz sind, verstehen Sie?« Martens’ Blick war der des enttäuschten Vaters. »Aber man darf das nicht erwarten. Ich habe immer dafür gestanden, dass es das Wichtigste im Leben ist, seinen Weg zu gehen, ganz egal, ob man damit aneckt. Dass man sich in dem Moment aufgibt, wo man sich anpasst.«

Martens starrte wieder in seine Teetasse. Ich stand neben ihm, aber nicht nahe genug, um auch einen Blick hineinwerfen und mich vergewissern zu können, ob er seine kleine Rede vielleicht ablas.

»Kim, seine Schwester, ist völlig anders. Die lässt so schnell keinen Narren aus sich machen. Die weiß, was sie will, und gibt nicht aus Ängstlichkeit gleich die Hälfte wieder ab.«

»So wie ihr Bruder.«

»Um sich interessant zu machen, flüchtet er sich in eine Traumwelt. Denkt sich Sensationen aus, schreckliche Ereignisse. Das tut er heute noch und hier fängt unser Problem an.«

»Das hört sich aber an, als sei er ein Fall für einen Psychologen.«

Martens verzog das Gesicht. »Psychologen. Die nageln seinen linken Fuß fest und lassen ihn so lange um sich selbst kreisen, bis er das Gefühl hat, viel herumgekommen zu sein.« Er grinste. »Weil ich keinen Psychodoktor will, habe ich mich an Sie gewandt. Sie sollen Licht in seinen Schlamassel bringen.«

»Und worin besteht der Schlamassel?«

Martens winkte mit dem Daumen zu der einzigen Sehenswürdigkeit, die das Panoramafenster zu bieten hatte: dem Mann in Schwarz. »Das sollen Sie herausbekommen. Der da unten hat wahrscheinlich damit zu tun. Tilo ist mir gegenüber verschlossen, er sagt nicht, was er so treibt in seiner Freizeit. Und wenn doch, dann kommt er mit diesen Mordgeschichten.«

»Mordgeschichten?«

Er trat an den Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Dann hielt er einen Revolver in der Hand. »Wenn Tilo im Berufsverkehr stecken bleibt, redet er von einer Massenkarambolage. Ein Regenschauer ist für ihn eine Naturkatastrophe. Er dramatisiert alles.«

»Dann hält er das also für eine Maschinenpistole?«

Martens schüttelte den Kopf. Wie zufällig hielt er die Waffe auf mich gerichtet. »Er behauptete, Zeuge eines Mordes gewesen zu sein. Beziehungsweise mehrerer Morde. Dann stellte sich heraus, dass die angeblichen Opfer quicklebendig waren. Es hat nie einen Mord gegeben. Alles Einbildung. Wichtigtuerei.«

»Und das?«, fragte ich und deutete auf den Lauf, der auf mich gerichtet war. »Kommt mir nicht wie Einbildung vor.«

»Tilo behauptet, man will ihm etwas anhängen.« Guido Martens senkte die Waffe und überreichte sie mir. Ein hässlicher, kleiner Revolver.

Ich deutete auf den zerschrammten Griff. »Nicht gerade neu, das Ding.«

»Tilo behauptet, es in seiner Wohnung gefunden zu haben. Am Tatort, sozusagen.«

»Seine Wohnung ist…?«

»Alle Morde passieren in seiner Wohnung. Dort liegen alle Toten, die dann auf wundersame Weise mit dem Leben davonkommen.«

»Und was glauben Sie, woher die Waffe stammt?«

Martens schwenkte seine Tasse in meine Richtung. »Durchaus möglich, dass er sie sich besorgt hat, nur um seine Umwelt dazu zu zwingen, ihm die Horrorgeschichten abzukaufen. Ein Psychiater würde das wahrscheinlich so sehen. Aber ich möchte sichergehen, dass nicht doch etwas anderes dahinter steckt.«

»Sie meinen, ob Ihr Sohn vielleicht doch nicht spinnt? – Entschuldigung, ich meine: sich das nur einbildet.«

»Vielleicht bildet er sich alles nur ein. Aber das heißt nicht, dass nicht trotzdem jemand ein übles kleines Spiel mit ihm spielen kann. Zum Beispiel der da draußen.«

Wieder hatte der Mann das Gewicht auf das andere Bein verlagert. Ansonsten stand er unbeweglich da wie eine Statue. Ich mochte wetten, dass man sich von hinten an ihn heranschleichen und ihm lässig die Hand auf die Schulter legen konnte.

»Und wenn Sie ihn einfach fragen, was er will?«

Martens machte ein amüsiertes Gesicht. Er griff nach seiner Tasse und schlürfte Tee, ohne den Schwarzen aus den Augen zu lassen. »Sie meinen, ihn schnappen, so reglos, wie er ist?«

»Genau. Es kann eigentlich nicht schwieriger sein, als eine Vogelscheuche zu jagen.«

»Probieren Sie’s. Es sieht einfacher aus, als man denkt.«

Er konnte das beurteilen. Wenn ich morgens missmutig und verschlafen an meinem Toast knabberte, hatte er vermutlich schon einen Waldlauf und zweihundert Liegestützen hinter sich. Wenn er den Kerl nicht gekriegt hatte, brauchte ich das erst gar nicht zu versuchen.

»Henning sagte, dass Sie der Richtige für so eine Sache sind.«

In meinem Job konnte man es nicht hoch genug einschätzen, von einem zufriedenen Klienten weiterempfohlen zu werden. Auch wenn einem dieser Klient völlig unbekannt und wohl der Letzte war, der beurteilen konnte, ob ich für eine Sache der Richtige war.

»Grüßen Sie ihn von mir«, sagte ich.

»Wir haben es schon x-mal versucht«, erklärte Martens, der meinen Blick aus dem Fenster richtig deutete. »Er verdrückt sich in Windeseile und verschwindet, als sei er tatsächlich ein böser Geist.«

Ich versuchte es trotzdem, so viel war ich jemandem schuldig, der ein fürstliches Honorar zahlen würde. Aber schon als ich den ersten vorsichtigen Schritt in den Garten machte, war der Typ verschwunden. Hinter dem Panoramafenster stand Martens und deutete mit ausholender Geste nach links. Ich rannte los.

Mein Sprint war nicht umsonst. Kaum eine Minute brauchte ich bis zum Ortseingang und schon entdeckte ich den vermeintlichen bösen Geist, wie er vor einer aschgrau getünchten Fassade eines Einfamilienhauses Tarnung suchte. Leider war an Anschleichen nicht mehr zu denken. Der Mann hatte mich schon bemerkt, schob sich an der Mauer entlang und verschwand um die Ecke Richtung Haustür. Durch die Gardinen warf ich einen Blick ins Halbdunkel des Wohnzimmers. Düstere, dunkelbraune Möbel, auf der Fensterbank ein Kanarienvogel in seinem Bauer und auf der kitschigen Tapete das Porträt eines Greises mit einem seltsam starren Blick. Nicht gerade die Art, wie ich mir einen Unterschlupf eines Inkasso-Terroristen vorstellte. In dem Moment, in dem ich meinen Blick abwandte, weil ich plötzlich erkannte, dass das starrende Gesicht gar kein Porträt war, sondern ein Bewohner des Hauses, sah ich den Schwarzen, wie er hinter der Garage hervorsprang und die Straße hinunterjagte.

Ich verfolgte ihn bis in die Fußgängerzone, aber lange hielt ich nicht mehr durch. Wieder einmal zeigte sich, dass Nichtrauchen allein zu wenig ist, um fit zu bleiben. Als ich über ein Kinderfahrrad stolperte und in einer Pfütze aus Pommes und Majo ausrutschte, gab ich auf. Von Seitenstichen geplagt, schleppte ich mich zurück.

Martens erwartete mich vor dem Haus. Er stand genau da, wo bis eben noch die Gestalt verharrt hatte, und zog besserwisserisch die Stirn in Falten. »Wie ich Ihnen gesagt hatte, nicht wahr? Er verdrückt sich einfach.«