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Die Wohnung, zu der Tilo Martens mich bestellte, lag in jenem Viertel südlich der Innenstadt, das Einheimische in aller Regel mit leisem, andächtigem Stolz in der Stimme erwähnten. Viele führten das auf die Rocklegende zurück, die hier aufgewachsen war und die die knallharte linke Szene weitgehend in eine weinerliche Gemeinde fromm gestimmter Lokalpatrioten verwandelt hatte. Ihr Geburtshaus lockte immer noch Massen von ehrfürchtigen Wallfahrern her.

Vielleicht rührte der Stolz aber auch daher, dass die Welt hier auf eine krumme, urtümliche Art und Weise noch in Ordnung zu sein schien. Es gab altbackene Kneipen, echte Milchmänner, urige Kioske und Läden, deren Inhaberin Tante Emma höchstpersönlich war und die sonst wo auf der Welt längst gefräßigen, anonymen Supermärkten zum Opfer gefallen waren. In den Ecken roch es gemütlich und ein bisschen muffig und die Leute begegneten einander nicht mit der überall sonst üblichen kalten Gleichgültigkeit. Sollte es vorkommen, dass einer den anderen ermordete, so war das meist nicht persönlich gemeint. Überhaupt gab es nichts, das sich nicht in der Kneipe um die Ecke in aller Freundschaft klären ließ.

Da die Leute sich in der für diese Stadt typischen Selbstbewunderung hauptsächlich mit ihrem Viertel beschäftigten, fehlte ihnen der Vergleichsmaßstab. Es entging ihnen, dass die Welt hier genauso wenig heil geblieben war wie anderswo, dass die Menschheit nicht nur aus guten Kumpeln bestand, die auch nicht alle Mitglieder des Karnevalsvereins waren. Und dass es Tante Emma schon lange heimlich mit dem echten Milchmann trieb.

Tilo Martens erwartete mich auf der Straße vor dem Haus und sah ungeduldig zu, wie ich den Wagen in die enge Parklücke manövrierte. Mit seinen schlotternden Armen, den unbeholfenen Bewegungen und dem Gesicht, das genauso fahl war wie der Himmel über dem Nieselregen, glich er einem Patient, der höchstpersönlich das Eintreffen des Notarztes überwachte. Wahrscheinlich hatte er sich unmittelbar vorher übergeben.

»Ich habe einen nervösen Magen«, erklärte er, als hätte er meine Gedanken gelesen, während er vor mir die Stufen hinaufkeuchte. »Der reagiert prompt auf den Schreck.«

Ab dem zweiten Stockwerk verjüngte sich das Treppenhaus zusehends. Hässliche, graugrüne Tünche und abgetretene Steinstufen wichen Teppichboden und glänzenden Kacheln mit frischem, farbenfrohem Design.

Tilo Martens verjüngte sich nicht, sondern wirkte von Stufe zu Stufe angestrengter. Er schien nicht hierher zu gehören, jedenfalls nicht als Bewohner, sondern wenn überhaupt, dann als ein Hausmeister mit Schlüsselbund und Maßband in der Tasche. Tilo hatte Ähnlichkeit mit seinem Vater, aber nicht, weil er wie dieser eine Jogginghose trug. Die Hose machte eher den Unterschied zwischen den beiden deutlich. An Tilo wirkte sie wie eine Schlafanzughose, sie machte ihn älter, während sie seinen Vater jünger und dynamischer aussehen ließ. Sportlichkeit war heutzutage das, was in der wilhelminischen Zeit militärischer Schneid gewesen war, und die Uniform von heute war der Jogginganzug. Kein Wunder, dass Martens senior sein Söhnchen nicht ernst nahm.

Wir hatten die Wohnung betreten und standen in einem breiten, mit edlem Parkett ausgelegten Flur, dessen Ende man nicht absehen konnte, weil er nach circa zehn Metern eine sanfte Biegung machte. In den riesigen, trotz des trüben Wetters hellen Räumen schien es kaum Möbel zu geben, aber das sah nur so aus, weil die meisten der teueren Stücke Raum brauchten, um ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten. In diesem Domizil konnten eine griechische und eine türkische Großfamilie ohne Probleme in friedlicher Koexistenz nebeneinander leben, wenn sie es sich hätten leisten können. Aber das konnten nur Leute vom Schlage der Martens, die mehr Geld hatten, als sie brauchten, um davon Wohnungen zu kaufen mit mehr Platz, als sie brauchten.

»Schickes Teil«, staunte ich.

Tilo war schon vorausgeeilt und stand wartend bei der zweiten Tür, die vom Flur abzweigte.

»Es ist hier drin…«

Offenbar war er entschlossen, draußen zu bleiben, um sich und seinem nervösen Magen nicht ein zweites Mal den grausigen Anblick zuzumuten.

Also schob ich mich an ihm vorbei. Die schwere Eichenholztür öffnete sich fast geräuschlos.

Der Raum lag im Halbdunkel, weil die wild schwarzweiß gemusterten Vorhänge zugezogen waren. Ihr harter Kontrast beherrschte den ganzen Raum. Weiß gekalkte Wände, schwarzer Teppich mit weißen Mustern auf dem Holzboden. Linker Hand gab eine offene Tür den Blick in ein Badezimmer frei. Auch dort ein Schachbrett auf dem Boden: Weißer Marmor und schwarzer Stein wechselten sich ab. Es gab weiße Becken mit goldenen Armaturen, und schwarze mit silbernen. Feminines und maskulines Design kämpften um die Vorherrschaft.

Das einzige Bett in dem Schlafsaal war wie ein Stück Kuchen geformt und schmiegte sich mit der Spitze in die rechte hintere Zimmerecke. Ein weißes Laken unter einem schwarzen Bezug. Das Bett war ordentlich gemacht, nur am Fußende ragten seidene rote Hosenbeine eines Schlafanzuges hervor.

Immer noch verblüfften mich die Ausmaße dieser Wohnung. Nur inzwischen begann ich mich auch zu fragen, wo der Tote lag.

Die in direkter Nähe am Rheinufer entlangfahrende S-Bahn ließ den Boden leicht erzittern. Ich durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür und sah in Tilos ängstliches Gesicht.

»Was ist jetzt mit der Leiche?«, erkundigte ich mich ungeduldig.

»Haben Sie sie…« Wie ein Fisch an Land schnappte er mit dem Mund nach Luft.

»Ich meine, wo ist sie?«

»Sie ist drüben, in meinem Bett.«

»Im Bett ist niemand.«

Tilos Gesicht zuckte. »Sie scherzen!« Er drängte sich an mir vorbei in sein Schlafzimmer.

»Absolut nicht«, widersprach ich sauer. »Aber ehrlich gesagt, frage ich mich, ob Sie das vielleicht tun. Und wenn ja, warum?«

Sekunden später stand Tilo Martens fassungslos vor seinem großen, ordentlich gemachten Bett. Er glotzte es an, als sähe er es zum ersten Mal in seinem Leben. Vielleicht hoffte er, die Leiche doch noch zu entdecken, wenn er nur genau genug hinschaute. Sein Gesicht verzerrte sich in Enttäuschung und echtem Schrecken, als sei da nicht kein Toter, sondern mindestens zehn. Sah er wirklich dasselbe wie ich? Wenn nicht, dann war er ein Fall für einen Arzt.

»Ich schwöre«, stammelte er mit bebender Stimme, »dass hier eben noch eine Leiche war. Ein unbekannter, toter Mann. Der Mörder hat ein ganzes Magazin Kugeln auf ihn abgefeuert…«

»Eben?«, unterbrach ich ihn. »Was heißt das genau?«

Damit verstärkte ich nur seine Hilflosigkeit. »Was das heißt? Vor ein paar Minuten. Eben. Zehn Minuten oder zwanzig. Was weiß ich?«

»Wieso haben Sie nicht am Tatort gewartet, wie ich Ihnen gesagt habe?«

»Sie haben gesagt, ich sollte nichts anrühren!« Er ruderte mit den Armen. »Und das habe ich auch nicht getan!«

»Sie haben die Wohnung verlassen und unten auf der Straße auf mich gewartet.«

»Ja!« Er holte Luft, um mir einen Vortrag zu halten. Aber es kam nichts. Also holte er noch mehr. »Ich… ich konnte einfach nicht da drinbleiben! Dieser Mann – er sah grässlich aus. Das blutdurchtränkte Laken! Und seine Hand, die schlaff aus dem Bett hing…«

»Schon gut!« Offenbar war Tilo Martens der Situation nicht gewachsen. »Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Kein Grund, sich aufzuregen. Immerhin ist es doch glimpflich abgelaufen. Niemand ist zu Schaden gekommen…«

»Niemand zu Schaden gekommen?!« Tilos Gesicht hörte auf zu zucken und seine Augen wurden schmal. »Verdammt noch mal, hören Sie denn nicht zu, was ich Ihnen sage? In diesem Bett da, habe ich Ihnen gesagt, hat eine Leiche gelegen. Und das bedeutet für mich ziemlich klar, dass hier jemand zu Schaden gekommen ist! Und jetzt ist der Tote auch noch weg!«

»Ich habe ihn nicht weggeschafft.«

»Ha, sehr witzig!«, schnaufte er. »Sie haben ihn nicht weggebracht! Denken Sie denn, ich war das?«

In diesem Moment klopfte jemand an die Wohnungstür, die wir nicht geschlossen hatten. Martens erstarrte.

»Jemand zu Hause?«, erkundigte sich eine Stimme, die mir bekannt vorkam.

»Was will der denn hier?«, flüsterte ich.

Mein Gegenüber atmete auf. »Ich dachte schon, die kommen überhaupt nicht mehr.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, Sie haben die Polizei angerufen?«

»Wenn Sie das auch nicht glauben wollen«, belehrte er mich. »Hier ist ein Mord geschehen. Also habe ich die Polizei angerufen.«

»Aber was mache ich dann hier?«

»Gute Frage!« Mattau betrat das Zimmer. »Was machen Sie hier, Kittel?«

Kommissar Mattau war ein Dinosaurier der Kriminalistik. Seine Vorliebe für abgetragene Klamotten entsprach einer Abneigung für ausgelatschte Dienstwege und Vorschriften. Längst war er von jungen, smarten Kollegen umgeben, die ständig Fortbildungen machten und viel Zeit mit Teambesprechungen verbrachten, während er Mördern schon mal ein Bier spendierte, bevor er sie verhaftete. In der Zeit der computergestützten Ermittlung wirkte Mattau wie ein ausgedienter US-Marshall, der sich in einem drittklassigen Western darüber beschwerte, dass in dieser Welt kein Platz mehr war für Leute seines Schlages. Ein US-Marshall in einem fleckigen, grünen Parka.

»Sagen Sie nichts, Martens«, brummte er. »Lassen Sie mich raten: ein blutiger, von Kugeln durchsiebter Leichnam, das Hirn über den Boden verspritzt. Ein Anblick, der selbst Hartgesottene zu Boden streckt. Aber das Schlimmste von allem ist: Kaum, dass Sie ihm den Rücken zukehrten, war er verschwunden.«

Tilo Martens’ Gesicht lief rot an. »Herr Kommissar, Sie müssen mir glauben…«

»Was würde Ihnen das schon helfen? – Seien Sie froh, dass ich zufällig in der Nähe war. Wenn die Kollegen mit der gesamten Spurensicherung aufgekreuzt wären und Sie hätten ihnen dieses frisch bezogene Bett präsentiert, ich weiß nicht, was die mit Ihnen gemacht hätten.« Er wandte sich mir zu. »Und Sie, Kittel, werden mir jetzt sagen, dass dieser nette junge Mann Ihr Klient ist.«

»Nicht er, sondern sein Vater.«

»Na, dann herzlichen Glückwunsch.« Mattaus Gesicht verfinsterte sich. »Ich will Ihnen nicht in Ihren Job hineinreden. Aber es gibt Fälle, da sollte sich selbst ein Privatdetektiv mit chronischen Geldsorgen nicht zu schade sein, seine Klienten an die richtige Adresse zu überweisen. Zum Beispiel an einen Psychologen oder einen Spukexperten.«

Ich stand nicht gerne als Trottel da. »Immerhin wäre es möglich«, wehrte ich mich, »dass…«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, Kittel«, stoppte mich Mattau. »Ich weiß, dass Sie eine Vorliebe für Verbrechen dieser Art haben. – Also dann, Sie sind nicht zufällig mit dem Wagen hier?«

»Dass die Polizei mir nicht glaubt, hatte ich schon erwartet. Aber Sie, Kittel…« Tilos Stimme bekam etwas Beschwörendes. Ich mochte der Trottel sein, aber er war ein Spinner mit einem gut sichtbaren Dachschaden. »Ich hatte gedacht, dass wenigstens Sie genauer hinsehen.«

Ich trat an das Bett und schlug die Decke zurück. Der Seidenschlafanzug war nicht zusammengelegt, wie es sich gehörte. Das Oberteil hatte die Arme ausgestreckt, das Unterteil die Beine. Der Schlafanzug sah aus wie eine Gestalt, die sich dunkelrot vom weißen Laken abhob…

»Also, ich finde, Sie hätten das tun sollen«, stellte ich fest. »Und zwar, bevor Sie mich angerufen haben. Es tut mir Leid.«

 

 

Wir stiegen aus der gediegenen Sphäre mit den blitzblanken Kacheln wieder in die normalen Gefilde des Treppenhauses ab. Mattaus Parka hatte den gleichen Farbton wie die abblätternde Tünche.

»Was haben Sie gegen seinen Vater?«, wollte ich wissen.

Der Kommissar schnaufte. »Sehe ich so aus, als ob ich ihn kenne?«

»Das nicht«, musste ich zugeben. »Aber als Sie mir zu ihm gratulierten, hörte es sich danach an.«

»Sagen wir, ich kannte ihn früher.«

»Also kennen Sie ihn doch.«

Mattau blieb stehen, nur um ausgiebig den Kopf zu schütteln. »Früher, habe ich gesagt. Das bedeutet, Kittel, dass ich ihn kannte und dann, eines Tages, nicht mehr.«

Offenbar war er heute zu Haarspaltereien aufgelegt.

Wir waren unten angekommen und traten auf die Straße. Inzwischen regnete es in dünnen, kaum sichtbaren Fäden. Die urigen Kneipen und Kioske sahen trostlos aus. Zum Glück hatte ich direkt vor dem Haus geparkt.

»Ein Wetter, in das man einen Hund hinausjagen möchte«, sinnierte der Kommissar.

»Sie meinen, keinen Hund. Man möchte keinen Hund hinausjagen.«

»Oh doch«, setzte er seine Haarspalterei fort. »Anders macht die Redensart keinen Sinn. Im Grunde will jeder jemanden hinausjagen und das hier ist das ideale Wetter dafür. Nur will es keiner zugeben.« Irgendetwas schien ihm heute die Laune verdorben zu haben. »Von Ihnen, Kittel, hatte ich übrigens mehr Professionalität erwartet«, brummte er, während er sich auf den Beifahrersitz zwängte und am Sicherheitsgurt zu schaffen machte. »Wenn so ein grüner Jüngling wie der da oben einem Mordgeschichten auftischt, die er aus irgendeinem Psychothriller hat, dann merkt man das doch.«

»Sie haben es natürlich sofort gemerkt«, gab ich gereizt zurück.

»Also gut, Kittel, nicht sofort.« Mattau grinste versöhnlich. »Beim ersten Mal bin ich ihm auch auf den Leim gegangen.« Er angelte mit den Fingern ein Kaugummi aus dem Mund und griff nach dem Aschenbecher. »Kann man das hier irgendwo…«

»Nicht den Aschenbecher öffnen, bitte!«, warnte ich ihn, so dass er zurückzuckte. »Der Wagen gehört meinem Partner. Wenn Sie die Klappe öffnen, ersticken wir beide.«

Enttäuscht und ratlos drehte er das klebrige Etwas zwischen den Fingern.

»Wie war das beim ersten Mal?«, wollte ich wissen.

»Der gleiche Schauplatz«, grinste er. »Nur nicht im Schlafzimmer, sondern im Flur. Damals hatte man angeblich den Freund seiner Schwester ermordet.«

»In seiner Wohnung?«

»Es ist nicht nur seine. Die Schwester wohnt auch da.«

»Die Tennisspielerin?«

»Genau. Eine Klassefrau, wenn man Sinn für so was hat. Schon in der Schule hat sie immer nur Einsen geschrieben. Und ihr Typ ist Schriftsteller. So einer, den jeder kennt.«

»Wer?«

»Außer mir. Sie wissen doch, Kittel, wann soll ich denn zum Lesen kommen? – Da drüben an der Ecke können Sie mich rauslassen.«

Ich bremste und hielt in zweiter Reihe. »Und was war passiert?«

»Nichts. Martens junior wollte den Mord beobachtet haben. Und dann war er sogar im Flur über die Leiche gestolpert. Ehrlich, so wie er das geschildert hat, hat es mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Aber dann stellte sich heraus, dass der Schreiberling quicklebendig war!«

Hinter uns hupte es. Mattau winkte mir zu und ließ die Tür ins Schloss fallen.

In der winkenden Hand konnte ich kein Kaugummi entdecken, weshalb ich davon ausging, dass er es in seiner Manteltasche hatte verschwinden lassen. Erst als ich an der nächsten Ampel wartete, sah ich, dass er es auf die Ablage geklebt hatte.