7

 

 

 

»Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?«

Er war schon der Zweite, der mich danach fragte.

»Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen«, sagte ich, »und finde, wir sollten noch mal drüber reden.«

Tilos unerwartetes Niesen ließ mich zusammenzucken. Wahrscheinlich hatte er den Hörer nicht vom Mund weggehalten.

»Und warum jetzt und nicht heute Vormittag?«

»Von mir aus auch heute Vormittag. Aber das ist ja wohl lange vorbei oder nicht?«

Er hörte sich verschnupft an. Unser Telefongespräch dauerte länger als nötig, weil er alle zwei Sekunden eine Pause einlegte, um sich ausgiebig zu schnäuzen. Dabei machte er ein Geräusch, das sich nach Großwild in der afrikanischen Savanne anhörte. Bevor er einwilligte, betonte er mehrmals, dass er das Haus nicht verlassen wollte, um sich eine Lungenentzündung zu ersparen, die für ihn den Tod bedeuten würde.

Wir trafen uns in einer Kneipe um die Ecke. Um diese Zeit gab es nur noch ein paar Nachtschwärmer, und die übliche gehirnzerstäubende Musik war auf ein erträgliches Maß gesenkt.

Es war düster in dem Lokal. Der Zigarettenqualm einer ganzen Nacht machte die Luft stickig und nahezu undurchsichtig. Trotzdem brauchte ich nicht lange nach Martens zu suchen. Sein Schnäuzen, das die Musik mühelos übertönte, lotste mich an seinen Tisch wie ein akustisches Leuchtfeuer.

Martens hatte den Kragen seines schweren Mantels hochgeschlagen und einen endlos langen Schal um den Hals gewickelt. Er sah aus, als sei er gerade von einer Polarexpedition zurück und noch nicht dazu gekommen, sich umzuziehen.

»Sie glauben mir doch immer noch nicht«, brummte er mich an.

»Okay, machen wir einen Handel«, schlug ich vor. »Ich tue so, als glaubte ich Ihnen, und Sie tun so, als hätten Sie mir nur eine Geschichte erzählt.«

Er schüttelte den Kopf. »Jemand will mich reinlegen.«

»Aber Sie haben keinen Verdacht, wer das sein könnte.«

»Natürlich nicht.«

»Der Kommissar erwähnte, dass Sie ihm einen Mord gemeldet haben, bei dem Sie Zeuge waren.«

»Ich war nicht Zeuge. Als ich kam, war es bereits passiert. Aber der Täter war noch in der Wohnung.«

»Sie hatten ihn vorher natürlich noch nie gesehen.«

»Ich habe ihn überhaupt nicht gesehen. Ich habe ihn gehört.«

»Aber den Toten kannten Sie. Es war der Freund Ihrer Schwester.«

Er nickte. »Heino Hendrix. Ich habe seine Leiche im Flur entdeckt. Bin geradezu drüber gestolpert, als ich reinkam.«

»Und dann war er plötzlich wieder am Leben. Hat Sie das nicht stutzig gemacht?«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, dass Sie der Polizei kaum verdenken können, dass sie in einem solchen Fall misstrauisch wird. Wenn der Ermordete darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten, können sie eben nichts machen.«

»Schon gut.« Er machte Anstalten aufzubrechen.

»Sie wollen schon wieder gehen?«

»Es war ein Fehler herzukommen. Als Sie anriefen, wollte ich mich gerade mit einer Wärmflasche ins Bett legen. Das habe ich jetzt davon. Sie halten mich für verrückt, und wenn ich nach Hause komme, ist die Flasche kalt.«

»Dann bleiben Sie eben noch und erzählen Sie mir der Reihe nach, was ich Ihnen nicht glaube.«

»Kann ich euch was zu trinken bringen?«, fragte die Kellnerin, die skeptisch mitverfolgte, wie sich Tilos Taschentücher auf dem Tisch auftürmten.

»Für mich noch ein Bier«, bat ich.

»Und Sie?« Die Frau wartete, bis Tilos Gesicht aus dem Taschentuch auftauchte.

Es sah zerknirscht und vorwurfsvoll aus. »Ich habe meine Nasentropfen nicht dabei«, gab Tilo zu bedenken.

»Sie können hier auch was anderes trinken«, erklärte ich.

»Na gut. Einen heißen Tee, bitte. Kamillentee.«

»Tut mir Leid.« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Wir sind hier nicht die Uniklinik.«

»Dann einen Zitronentee. Aber ohne Zucker, bitte.«

»Also wie war das mit dem ersten Mord?«, wollte ich wissen.

»Es ist drei Wochen her. Ich kam abends nach Hause. In Kims Teil der Wohnung war Licht, also glaubte ich, dass sie zu Hause sei.«

»Ihre Schwester.«

»Mit ihr wohne ich zusammen. Weil mein Vater meint, sie könne auf mich aufpassen.« Er grinste selbstmitleidig und zog die Nase hoch. »Im Flur war kein Licht. Ich trat ein, und noch bevor ich den Lichtschalter gefunden hatte, stolperte ich über etwas Weiches. Es waren zwei Beine, die Beine eines Mannes, der in einen gelben Sack eingeschnürt war.«

»Also haben Sie das Gesicht des Mannes gar nicht sehen können.«

»Ich habe nur seine Beine gesehen, weil die Plane aufging, als ich darüber fiel. Und dann hörte ich Schritte – ich habe gemacht, dass ich wegkam. Eine Woche später habe ich Blutflecken im Bad entdeckt und einen Revolver gefunden.«

»Den haben Sie dann Ihrem Vater anvertraut.«

»Weil er mir nicht glauben wollte! Mit dem Ding hatte ich etwas Handfestes. Aber er wollte das Blut sehen und das war plötzlich nicht mehr da.«

»Wieso glaubten Sie, der Tote sei Hendrix?«

»Ich dachte, er ist es… wer sollte es denn sonst sein? Ich hatte seinen Wagen auf der Straße gesehen, direkt vor dem Haus geparkt. Und dann das Licht in der Wohnung. Er besaß einen Schlüssel. Es war nicht das erste Mal, dass er eine Nacht dort verbrachte, auch wenn Kim nicht da war.«

»Was hat Ihre Schwester dazu gesagt?«

»Nichts. Sie hat mich ausgelacht. Aber das tut sie immer. ›Das hättest du wohl gerne‹, hat sie gemeint.«

»Und, hätten Sie’s gerne?«

»Er ist mir nicht gerade sympathisch. Ein Angeber. Genau das Richtige für Kim.«

»Mit ihr verstehen Sie sich also auch nicht besonders.«

Tilo schniefte. »Im Grunde ist sie ein netter Kerl. Sie zeigt es nur nicht so.«

»Nehmen wir also an, jemand will Sie reinlegen. Dann stellt sich die Frage, wem es etwas bringen würde, wenn Sie als Idiot dastehen. Bedenken wir auch, dass es Hunderte von Möglichkeiten gibt, einen Mann lächerlich zu machen.«

Tilo nickte bestätigend und entfaltete eins von seinen bereits benutzten Taschentüchern. Zu spät bemerkte er, dass er die falsche Seite angefasst hatte.

Ich reichte ihm ein unbenutztes. »Was dich angeht«, dachte ich, »gibt es Tausende.«

»Wieso versucht er das ausgerechnet mit eingebildeten Leichen?«

Er nahm einen Schluck aus der Tasse, die inzwischen vor ihm stand, und verzog den Mund. »Der Tee ist sauer.«

»Kein Wunder«, sagte ich. »Ist ja auch kein Zucker drin.«

»Ich habe sie mir nicht eingebildet«, widersprach Martens. »Mit meinen eigenen Augen habe ich die Toten gesehen. Damals den im Flur und heute den in meinem Bett.«

»Also gut, stellen wir das zurück.« Ich hob beschwichtigend die Hände. »Können Sie sich irgendjemanden denken, der Ihnen was anhängen will? Sind Sie einem auf die Füße getreten?«

Tilo Martens hatte sich den Rotz von den Fingern gewischt und nahm einen davon, um auf mich zu zeigen. »Heißt das, dass Sie mir jetzt glauben?«

In seinen vom Schnupfen geröteten Augen lag Erwartung, aber ich bemerkte auch einen Anflug leichter Enttäuschung, wie bei einem leidenschaftlich Leidenden, der sich auf die ärztliche Nachricht vorbereitete, dass ihm jetzt nichts mehr fehlte.

»Ob ich Ihnen glaube, ist nicht die Frage«, wich ich aus. »Ihr Vater hat mich beauftragt, herauszufinden, wieso ihn eine seltsame schwarze Gestalt terrorisiert, und dabei die Vermutung geäußert, dass diese Gestalt etwas mit Ihnen zu tun hat. Also versuche ich…«

»Die Vermutung geäußert!«, äffte er mich nach. »Die Vermu-« Er holte ausgiebig Luft, ließ langsam den Mund aufklappen, dass ich Sorge hatte, er würde ersticken. Dann, völlig unvorbereitet wie ein atomarer Erstschlag, traf mich sein gewaltiger Nieser. Der Boden vibrierte, der Kellnerin, die am mindestens fünf Meter entfernten Tresen stand, fiel ein Glas aus der Hand und in den Tabakschwaden hingen noch für ein paar Augenblicke Kondenströpfchen.

»Dann unterhalten Sie sich doch mit meinem Vater«, stieß er mit nasaler Stimme hervor. »Der kann Ihnen immer alles ganz genau sagen.«

Wenigstens brauchte man sich nach einer Unterhaltung mit ihm anschließend das Gesicht nicht zu waschen.

»Hören Sie doch endlich damit auf, sich selbst Leid zu tun«, bat ich ihn unfreundlich, denn ich hatte das vage Gefühl, dass er den Inhalt seiner Nase nicht unabsichtlich auf mich abgefeuert hatte. »Wenn Ihnen niemand einfällt, dem Sie auf die Füße getreten haben oder der sauer auf Sie ist, dann fällt mir niemand ein, der Ihnen was anhängen könnte. Vielleicht sollten Sie es ja mal mit was anderem als mit Wärmflaschen versuchen.«

Tilo zuckte zusammen und warf mir einen vernichtenden Blick zu. So sah die Grippe in Menschengestalt aus, die sich ihr Opfer suchte. »Was mache ich eigentlich hier?«, fragte er sich. »Ich sollte längst weg sein.«

Dieser Gedanke war mir auch schon gekommen. Aber mir fiel der Vorschuss über dreitausend Mark ein, den ich nicht aufs Spiel setzen konnte, weil mein Partner möglicherweise in einer Lage war, in der ich ihm mit Geld aushelfen musste.

»Immerhin bezahlt mich Ihr Vater dafür«, hielt ich ihn auf, »dass ich Ihnen glaube.«

Tilo war noch nicht ganz aufgestanden, als er zum zweiten Mal ausholte. Ich schaffte es gerade noch, hinter meinen Ärmeln in Deckung zu gehen.

»Tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »Aber mein Abwehrsystem spielt verrückt.«

»Also, wie ich das sehe, funktioniert es hervorragend.« Ich wollte mir eins von seinen Taschentüchern borgen, aber es waren nur noch gebrauchte darunter. »Nur verstehe ich nicht, wieso es sich gegen mich richtet.«

Martens setzte sich wieder. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wer dahinter stecken könnte.«

»Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass der Schauplatz in beiden Fällen derselbe war«, überlegte ich. »Wäre es möglich, dass Ihre Schwester etwas damit zu tun hat?«

Tilo schnaufte. »Nur, weil ich zugegeben habe, dass wir uns nicht so besonders gut verstehen?«

»Nur, weil sie genau wie Sie in dieser Wohnung lebt.«

»Kim hat nur ihre Karriere im Kopf. Nichts als Tennis. Außerdem würde die sich schon bei dem bloßen Gedanken an Blut übergeben. Warum sollte ausgerechnet sie…« Er grinste ungläubig. »Nein, wenn Sie sie kennen würden, dann würden Sie das auch sagen.«

»Vielleicht.«

»Dazu kommt, dass sie fast nie da ist. Ständig ist sie auf irgendwelchen Turnieren. Eigentlich sehen wir uns kaum. Wir…«

Er begann zu husten. Erst trocken und stoßweise, fast rhythmisch. Es klang wie ein Außenbordmotor mit Startschwierigkeiten. Aber innerhalb weniger Sekunden hatte ihn das Keuchen im Griff, zerrte ihn hin und her wie eine willenlose Marionette. Tilos Augen traten hervor, er begann zu röcheln und dann grollte und detonierte es in seinem Brustkasten.

Zwei Typen näherten sich unserem Tisch in dem verräucherten Halbdunkel und mir stockte der Atem, weil sie italienisch und auf gepflegte Weise brutal aussahen. Der eine nuckelte an einem Zigarillo und der andere kaute auf einem Kaugummi herum.

»Hör mit der Husterei auf, verdammt noch mal, du lockst sie nur her!«, bettelte ich im Stillen. Aber Tilo hatte längst die Kontrolle über sich verloren, der Husten war zum heiseren Brüllen geworden und hatte sich in seinem Hals verschanzt, um von dort aus blind um sich zu feuern.

Erst als die beiden neben unserem Tisch standen, legte er eine Pause ein. Tilo japste erschöpft. Sein Gesicht leuchtete wie eine Tomate.

»So ‘n Husten, eh, da kann dich richtich fertich machen«, sagte der eine.

Der andere nickte mitfühlend. »Ehrlich, nä, dat is kein Spaß.«

Ich atmete auf. Die Jungs hatten so wenig mit Italien gemein wie Sophia Loren mit einem Funkenmariechen.

»Wenn de mich frags«, riet sein Kumpel, »da hilft nur heißes Kölsch mit Honig. Abends vorm Schlafenjehen. Hört sich jräßlich an un et schmeckt auch jräßlich. Aber ein Glas und du bis wie neu.«

»Das ist kein normaler Husten«, erklärte Tilo. »Der kommt immer aus heiterem Himmel und geht nach ein paar Stunden wieder weg.«

»Kenn ich«, sagte der eine. »Hatte ich auch schon.«

»Schmeckt jräßlich, aber hilft«, kam der andere auf sein Rezept zurück.

»Janz sicher.«

»Ich hab das mal mit heißer Milch versucht«, gab Tilo zu. »Heiße Milch mit Honig. Aber das war leider kein Erfolg.«

»Antibiotika jedenfalls kannse komplett verjessen. Da wird alles nur schlimmer von.«

»Zahlen!«, rief ich der Kellnerin zu. Aber sie nahm mich nicht zur Kenntnis. Also ging ich zum Tresen und zählte ihr das Geld hin.

»Wenn et jräßlich schmeckt, dann muss et ja irj’nzwie helfen, sach ich immer.«

Tilo Martens bekam gar nicht mit, dass ich mich auf den Weg machte. Als ich in die Nacht hinaustrat, nahmen er und seine neuen Kumpels sich gerade das Thema Sodbrennen vor.