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Als ich aufwachte, duftete es anders, also wusste ich sofort, ich war nicht im Paradies.

Es roch stark nach Orange, und sobald ich die Augen aufschlug, bemerkte ich eine ziemlich dicke Orange, die leuchtete und von einer niedrigen, schiefen Decke herunterhing und ein orangefarbenes Licht verbreitete.

Die Orange war eine Papierlampe mit chinesischen Schriftzeichen darauf. Auf der Fensterbank schmorte eine Räucherkerze.

Ein kleiner Mann näherte sich. Er hatte langes, weißes Haar und trug ein indianisch anmutendes Stirnband. »Da sind Sie ja wieder«, sagte er.

Mülltonnen. Plötzlich hatte ich die Bilder wieder vor Augen: ein schwarzer, böser Schatten, gegen den ich keine Chance hatte, Unrat auf meinem Gesicht. Ein Geruch, der direkt aus der Hölle kam, genauer gesagt, aus den Socken der armen Sünder, die vor dem Jüngsten Gericht geschwitzt hatten und die man jetzt dazu verdonnerte, vor dem Betreten der ewigen Verdammnis die Schuhe auszuziehen…

»Rudi Kasolasko«, stellte sich der Weißhaarige vor. »Ich habe Sie unten aus dem Müll gefischt.«

»Sie haben mich…?«

»Kein Thema, Mann. Ich wohne direkt über dem Laden. Und Maren hat mit angefasst.«

»Wo sind die anderen? Die Schauspieler, meine ich.«

»Die sind schon lange zu Hause. Ich war der Letzte, der gegangen ist. Ich und Maren. Wir haben das Licht gelöscht und Abfall vor die Tür gestellt. Bei dieser Gelegenheit haben wir Sie gefunden. – Also, jetzt erzählen Sie mal. Wer hat Sie verprügelt?«

»Einer Ihrer Leute.«

Kasolasko zog die hohe Stirn in Falten, die tief und unergründlich waren wie Gletscherspalten, und schüttelte so lange den Kopf, bis ich bereit war, ihm zu glauben, wenn er dann nur endlich mit dem Schütteln aufhörte.

»Unmöglich«, sagte er. »Ich kenne jeden Einzelnen. Für die lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Ich habe ihn aber wieder erkannt«, beharrte ich. »Am Abend während der Probe. In so etwas irre ich mich nicht.«

Der Regisseur winkte ab. »Kann man nie wissen. Manchmal ist man auch abgelenkt. Man starrt lieber die Frau an, die keinen Slip trägt, und hat keine Zeit dazu, seine Beobachtungen zu hinterfragen.«

»Und wie erklären Sie sich dann, dass er mich von hinten angegriffen hat? Er hat mitgekriegt, dass ich ihn wieder erkannt habe. Deshalb hat er mir diese unmissverständliche Warnung zukommen lassen.«

»Ich brauche mir das nicht zu erklären. Weil ich nicht glaube, dass er’s war.«

»Jedenfalls vielen Dank, dass Sie mich da rausgeholt haben.«

»Keine Ursache. Ich musste eine Räucherkerze anzünden, anders war dem Gestank nicht beizukommen.«

»Tut mir Leid.«

»Was Sie nicht davon abhält, einen meiner Leute zu verdächtigen.«

»Genau das.«

»Und wenn, was soll er ausgefressen haben? Hat er Ihnen die Brieftasche geklaut, während Sie damit beschäftigt waren, unter Röcke zu schielen?«

»Er spielt in einem anderen Stück mit. Allerdings hat er die gleiche Rolle. Ein düsteres, bedrohliches Element.«

Kasolasko grinste. »Wie habe ich mir das vorzustellen?«

»Er steht bei jemandem vor der Tür und versucht, ihm damit Angst einzujagen.«

»Wie spannend! Um wessen Tür handelt es sich?«

»Um die von Tilo Martens’ Eltern.«

»Wie kommt er nur auf diese Idee?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das würde ich gerne herausfinden. Ich bin Privatdetektiv.«

»Ach nee.« Der Regisseur kicherte.

»Was ist daran komisch?«

»Nichts, überhaupt nichts.« Er unterdrückte sein Prusten, aber das breite Grinsen hielt sich noch eine Weile. »Wusste nur nicht, dass es die in Wirklichkeit gibt.«

Ich zog es vor, das Thema zu wechseln. »Was halten Sie von Tilo Martens?«

»Eine echte Begabung, wenn Sie mich fragen. Allerdings eine verhinderte.«

Ich nickte. »Dabei hat er einen so überaus erfolgreichen Vater und einen Star als Schwester.«

»Kim«, bestätigte der Regisseur und bekam einen schwärmerischen Gesichtsausdruck. »Die ideale Besetzung für meine Sharon Stone. Ich habe sie angefleht, aber sie wollte nicht.«

»Kennen Sie sie näher?«

»Nicht nahe genug.« Er seufzte. »Vor einem Jahr habe ich Tilo zu Hause besucht, da habe ich ihr sofort einen Vertrag unter die Nase gehalten. Damals noch für Psycho. Aber sie wollte ihren Tennisschläger nicht aus der Hand legen. Da kann man nichts machen. Eine Schande.«

»Vielleicht sollten Sie sie zusammen mit ihrem Lover unter Vertrag nehmen. Der kann Ihnen dann die Reißer exklusiv für Ihre Bühne liefern.«

»Der berühmte Heino Hendrix«, sagte er in gespielter Bewunderung. »Der ist doch nichts weiter als ein Trendartikel. Literaturkritiker zu begeistern, das ist leicht. Aber echte Reißer zu machen, dazu braucht es schon etwas mehr.«

»Deshalb holen Sie sich die lieber aus Hollywood?«

Rudi Kasolasko zündete sich eine Zigarette an, die nach Pfefferminz und Frischhaltetüchern roch und mit der Räucherkerze sofort Streit anfing. Mit dem qualmenden Stängel deutete er auf mich und sein Gesicht wurde ernst. »Der Thriller, mein Lieber, ist das Einzige, was überleben wird.«

»Überleben? Wen?«

»Shakespeare hat nichts anderes als Thriller geschrieben. Sehen Sie sich seine Stücke an. Sehen Sie genau hin. Was glauben Sie denn, was Macbeth ist?«

Da er in seinem Element war, war ich vorsichtig. »Ein Thriller«, schlug ich vor.

»Bei Macbeth ist bei mir der Groschen gefallen. Das war wie eine Offenbarung. Der Mord an König Duncan, Hexen, dunkle, böse Gestalten, der blutige Dolch – das ist der Stoff, aus dem die Thriller sind! Damals habe ich mir gesagt: ›Wenn man Theater im Film zum Thriller machen kann, wieso nicht Thriller vom Film auf die Bühne bringen?‹ Also habe ich mir erst mal ein paar Hitchcock-Klassiker vorgenommen. Psycho schlug ein wie eine Bombe. Dann kam – Moment mal…«

»Zu Weihnachten Die Rückkehr der reitenden Leichen. Wegen der enorm großen Nachfrage.«

»Genau. Dann Alien und Terminator II. Der ist nicht ganz so gut gelaufen. Für nächstes Jahr habe ich mir Das Schweigen der Lämmer vorgenommen.«

»Dann sind Sie also so etwas wie ein Pionier auf Ihrem Gebiet.«

Kasolasko grinste siegessicher. »Immerhin sind wir eine brauchbare Alternative zur endlos gackernden Comedy und in Plastikfolie verpackten Musicals von der Stange. Diese Sachen laufen doch nur weiter, weil sie keinen Abstellknopf haben.«

»Noch nie daran gedacht, etwas weniger Blutrünstiges zu machen als reitende Leichen?«

»Wissen Sie, was mir neulich noch gekommen ist?« Kasolasko sah träumerisch dem Qualm seiner Zigarette nach. Dann malte er mit seinem Arm etwas in die Luft. »Man könnte Schimanski oder Derrick als Oper bringen. So richtig getragen, in Versform und mit viel Herzschmerz. Ich kenne einen, der mit Musik in dieser Richtung experimentiert. Das könnte den Spielplan der Weinstube sensationell bereichern.«

»Endlich eine Weinstube, in der wirklich geweint wird.«

»Aber mein Ding ist das nicht. Mein Anliegen ist der Special Effect. Da kannst du alles auf der Bühne machen. Du fühlst dich wie Michelangelo. Die Duschszene in Psycho, das ist für den Thriller dasselbe wie die Sixtinische Kapelle für die Kunstgeschichte.«

»Tja, das ist echt interessant. Aber ich glaube, ich werde dann jetzt…«

»Die meisten denken nur an Blut, zerschmetterte Schädel und Hirnflüssigkeit. Igitt! Damit wollen sie nichts zu tun haben. Aber ich sage Ihnen, auf diesem Gebiet kann man eine Menge machen. Ein glaubwürdiges Gemetzel auf der Bühne, das ist eine Kunst, die es in sich hat…«

Wenn ich ihn ließ, würde er bis morgen weiterreden. Ich wusste nicht so recht, wie ich ihn stoppen sollte.

Gerade in diesem Moment öffnete sich die Tür.

»Sag mal, willst du eigentlich die ganze Nacht weiterquatschen? Ich dachte, du kommst irgendwann ins Bett.«

Das also war Maren. Die Rothaarige aus dem Theatercafé. Jetzt hatte sie winzige verschlafene Augen und trug nichts weiter als ein Handtuch, das von den Ausmaßen her eher zum Taschentuch als zum Kleidungsstück taugte.

»Wir reden gerade«, erklärte Kasolasko vorwurfsvoll.

Ich lächelte Maren an. »Er kommt jetzt. Ich bin so gut wie weg.«

Sie wartete.

»Also gut«, motzte Kasolasko. »Okay, ich komme.«

Die Rothaarige ließ ihr Handtuch fallen und verzog sich wieder ins Bett.

»Also dann«, grinste Kasolasko. »Ich sehe gerade, ich habe Ihnen noch gar nichts zu trinken angeboten…«

 

 

Es war längst nach drei Uhr, als ich in meine Wohnung stolperte. Den Wagen hatte ich nicht wieder gefunden und zu dieser späten Stunde waren selbst die ausgetretenen Gässchen der Altstadt wie ausgestorben, so dass ich niemanden nach dem Weg hatte fragen können.

Kasolasko, den ich jetzt Rudi nannte, hatte mir irgendein portugiesisches Gesöff aufgedrängt, das einen außer Stande setzte, den eigenen Flur entlang zum Schlafzimmer und ins Bett zu tappen. Glücklicherweise hatte ich einen Anrufbeantworter, dessen freundliches Blinken mir als Leuchtfeuer diente. Zum Dank rief ich den Anruf ab, den er auf dem Herzen hatte.

»Das ist mal wieder typisch«, beschwerte sich eine Stimme, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. »Du treibst dich rum und bist nicht zu erreichen, wenn man dich braucht. Also hör zu: Ich bin ein Riesenidiot, auf deinen Anrufbeantworter zu sprechen, aber ich habe keine andere Wahl. Die Sache ist die: Es gibt da eine Frau, der ich voll vertraut habe. Selber schuld. Jetzt hat sie mich reingelegt und ich sitze ziemlich in der Scheiße. Tja, das war’s eigentlich schon. Ich melde mich wieder und dann gehen wir einen trinken, versprochen? Das heißt, wenn ich dazu dann noch in der Lage bin.«