8

 

 

 

Bis kurz nach Mittag wartete ich darauf, dass Henk sich meldete. Es dauerte lange bis dahin, viel länger als sonst, denn das Warten ließ die Zeit, die einem sonst durch die Finger rann, dickflüssig werden und klebrig. Man sah bis zu fünfzigmal in der Minute auf die Uhr und hatte nicht selten den Eindruck, dass sich seit dem letzten Mal der Sekundenzeiger nicht bewegt hatte. Außerdem hatte ich mir den falschen Tag zum Warten ausgesucht. Der Sonntag hatte schon genug Freizeit zu bewältigen, die planlos vertrödelt werden musste.

Gegen drei Uhr hielt ich es nicht mehr aus und fuhr in die Südstadt hinunter, um Tilo einen Krankenbesuch abzustatten. Seit einer halben Stunde hatte sogar die Sonne einen freien Platz am Himmel gefunden und lockte die nach Beschäftigung dürstenden Bewohner aus ihren Behausungen. Die Straßen hallten wider vom Klingeln der Fahrräder, die die Fußgänger von der Straße jagten.

Auf mein Klingeln dagegen geschah nichts. Entweder hatte Tilo Martens mit seinem Leiden so schamlos übertrieben, dass er jetzt auf einer Parkbank herumlungerte und sich eine Portion Pommes zu Gemüte führte, oder die Sache war wesentlich ernster, als ich gedacht hatte. Da die Haustür nur angelehnt war, lief ich hinauf in die noblen Gefilde des Hauses und versuchte es an der Wohnungstür noch einmal.

Mein Fuß berührte gerade wieder die erste Treppenstufe, als sich die Tür hinter mir öffnete. Sie öffnete sich gerade so weit, dass ein Kopf hindurchpasste. Es war der Kopf einer Frau, die mit einer Hand einen gelben, flauschigen Morgenmantel direkt unter dem Kinn zusammenhielt, als sei der Hals ihr intimstes Körperteil.

»Frau Martens?«, fragte ich.

Sie musterte mich unfreundlich. »Was wollen Sie?«

»Mein Name ist Kittel. Ich wollte eigentlich zu Ihrem Bruder…«

Die Tür gab ein wenig nach und den Blick auf den Rest des Morgenmantels frei, der Kim Martens gerade über die Oberschenkel reichte. Es war wohl eher eine Morgenjacke.

»Sie sind der Privatdetektiv. Mein Vater hat von Ihnen gesprochen.« Diese Tatsache schien sie nicht freundlicher zu stimmen.

»Darf ich…«

»Meinem Bruder geht es leider nicht gut. Er liegt mit einer Grippe im Bett.«

Ich zeigte ein Lächeln. »Genau deswegen wollte ich ihn ja besuchen.«

So viel Anständigkeit konnte sie nicht die kalte Schulter zeigen. Sie öffnete und geleitete mich den langen Flur entlang zu Tilos Schlafzimmer. Nachdem sich nach dreimaligen Klopfen nichts gerührt hatte, schüttelte sie den Kopf. »Tut mir Leid. Aber Sie sehen ja, er schläft.«

Offenbar hielt sie es nicht für nötig nachzuprüfen, ob Tilo seiner Krankheit möglicherweise erlegen war.

»Könnte ich vielleicht kurz mit Ihnen sprechen?«

»Mit mir?«

Kim hatte sich schon zu ihrem Teil der Wohnung aufgemacht. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Jetzt gleich? – Ich hatte mich gerade etwas hingelegt…«

In der Tat machte sie einen verschlafenen Eindruck. Die Wangen waren blass und einige Strähnen ihres langen, blonden Haars hingen ihr ins Gesicht. Das letzte Tennisturnier hatte Spuren hinterlassen. »Also gut, kommen Sie.«

Ich folgte ihr eine kleine Weltreise den Flur entlang. Schon wenige Schritte hinter der Biegung traten wir nach links in einen großen, lichtdurchfluteten Wohnraum, dessen fünf Fenster einen beeindruckenden Ausblick auf den Rhein boten.

»Bitte, warten Sie einen Moment hier«, sagte Kim.

Gegenüber auf dem Flur öffnete sich eine Tür und ein älterer Mann schaute heraus. Er machte einen abgehetzten Eindruck.

»Wo bleibst du denn…?«, wollte er wissen. Dann bemerkte er mich und nickte mir mit einem dünnen Lächeln zu. Auch er hatte sich wohl etwas hingelegt und ich war nicht gerade im passenden Moment aufgekreuzt.

Fast zwanzig Minuten verbrachte ich damit, Schiffe zu zählen und auf der Eisenbahnbrücke die Wagen der Züge. Beinahe wollte ich damit aufhören, denn die Wagen nahmen kein Ende und es schien so, als sei der letzte Wagen mit dem ersten verkoppelt. Aber das Zählen lohnte sich.

Denn als ich fertig war, betraten zwei völlig andere Menschen den Raum. In dem üppigen, schwarz-weiß eingerichteten Badezimmer musste es einen Brunnen mit einer Wunderquelle geben, in der die beiden gebadet hatten, nachdem sie nicht nur ihre Kleidung, sondern auch ihre Alltagskörper abgelegt und sich in ihre eigenen Wunschbilder verwandelt hatten. Keine Falten mehr, keine blassen Wangen, keine Strähnen, die in ein abgehetztes Gesicht hingen.

Kim Martens Outfit verriet auf den ersten Blick, dass sie nichts dem Zufall überließ. Ihr blondes, perfekt frisiertes Haar kontrastierte hervorragend mit einem leicht gebräunten Teint, der wiederum genau abgestimmt war auf den brombeerfarbenen Lippenstift. Kim entsprach in allem den gängigen Modelstandards. Die Maße ihrer Taille, der Brustumfang, die durchschnittliche Wimpernanzahl – mit Sicherheit stimmte alles millimetergenau. Aber genau deshalb war sie nicht Aufsehen erregend. Perfekten Frauen begegnete man täglich hundertfach im Kiosk an der Ecke, in jedem Fernsehkanal, in jeder erdenklichen Werbung.

Der ältere Herr, der eben noch müde den Kopf aus ihrem Schlafzimmer gesteckt hatte, existierte nicht mehr.

Stattdessen machte ich die Bekanntschaft Heinos, Kims Lebensgefährten.

Hätte ich nicht inzwischen gewusst, dass Heino Hendrix mit dem Bücherschreiben Geld machte, hätte ich ihn für einen Immobilienmakler gehalten oder für einen Kollegen von Martens, dem Betriebsberater. Aber das lag wohl daran, dass in meinem Kopf verstaubte Bilder herumspukten, die schon seit meiner Kindheit dort hingen. Der Nikolaus war ein Mann mit langem, weißem Bart, und wenn er parfümiert und in Bermudashorts daherkam, dann war er für mich kein Nikolaus mehr. Ein Schriftsteller trug eine dicke, wenig kleidsame Brille, kaute mit einem skeptisch nachdenklichen Gesichtsausdruck auf einer Pfeife herum und hatte einen verwaschenen Hemdkragen und fettiges Haar. Wenn er überhaupt in den Spiegel sah, dann nur, um einen Pickel auszudrücken.

Hendrix war nicht mehr der Jüngste, möglicherweise der gleiche Jahrgang wie Kims Vater. Aber wie alle, die heutzutage mithalten wollten, bemühte er sich redlich, den Anschein zu erwecken, die Uhr laufe für ihn rückwärts. Komme, was wolle, er war immer gut drauf wie ein US-Präsident, der selbst im fortgeschrittenen Alter gezwungen war, seinen Wählern zuliebe in kurzen Hosen auf dem Sportplatz zu trainieren.

Während ich seine weiche Hand schüttelte, sprach er das Wort ›Privatdetektiv‹ vor sich hin, als stamme es aus einem längst vergessenen Märchen. Sonst hielt er sich zurück und schien nur dazu gut zu sein, dass sich Kim Martens an ihn schmiegte, während sie sich mit mir unterhielt.

»Ich wüsste gerne«, sagte ich, »was Sie von den – Schwierigkeiten halten, in denen Ihr Bruder steckt.«

Mit einer ruckartigen Kopfbewegung beförderte sie ihr Haar nach hinten. »Mein Bruder ist sehr sensibel«, erklärte sie kühl. »Er reagiert oft panisch, wenn ihm eine Situation entgleitet. Und das passiert leider häufiger.

Wäre ich gestern nicht gewesen, er wäre völlig hilflos gewesen.«

Ich wunderte mich. »Ich war gestern da. Aber Sie habe ich nicht gesehen.«

»Ich war in Hamburg, da hatte ich ein wichtiges Match. Aber er hat mich angerufen, noch bevor er die Polizei verständigte. Und ich habe gesagt, er soll ruhig bleiben. Ich habe ihm die Nummer der Polizei gegeben. In seiner Panik war er unfähig, sie herauszusuchen.«

»Und was sagen Sie dazu, dass alles nur Spaß war?«

»Es war kein Spaß. Für ihn war es blutiger Ernst.«

»Aber wo ist das Blut?«

Sie ließ den Kopf zur Seite sinken und strich das Haar mit einem leichten Kopfschütteln aus der Stirn. Ihre Augen verschwanden für eine Weile unter den langen Wimpern, ohne sich zu verabschieden.

»Halten Sie ihn nicht für einen Idioten«, warnte sie mich mit ihrer hohen Stimme.

»Das tue ich ja nicht.«

»Ich finde doch. Er hat eine blühende Phantasie, und deshalb hat mein Vater Sie gemietet, damit Sie ihm bestätigen, dass er nicht richtig im Kopf ist.«

»Man mietet Detektive nicht.«

Hendrix mischte sich ein. »Er hat Recht, mein lieber Schatz. Man engagiert sie, heuert sie an. Oder setzt sie auf einen Fall an.«

»Danke«, sagte ich.

Wieder schenkte er mir ein gnädiges Nicken. »In einem meiner nächsten Bücher wird es einen Detektiv geben«, erklärte er generös. »Sie wissen schon, so einen ungepflegten mit alten Klamotten und einer Schnapsflasche in der Tasche, der ständig pleite ist.«

»Das, was Sie beschreiben«, gab ich zurück, »ist ein Schnüffler. Ich habe selbst so einen zu Hause.« Ich wandte mich wieder an Kim. »Sie sind also der Meinung, dass er sich diese Geschichten nicht einbildet?«

Sie musterte mich spöttisch. »Ich bin der Meinung«, verbesserte sie mich, »dass es nicht verboten ist, sich Geschichten einzubilden.«

»Aber warum tut er das?«

»Weil sein Vater ihn nicht ernst nimmt. Er hat mich immer vorgezogen und ihm als Beispiel vorgesetzt.«

»Warum schmeißt er Sie dann nicht raus?«

Ein einsilbiges Lachen entfuhr ihr, das weit über ihre Stimmlage kam. Sie warf den Kopf dabei hoch und es sah aus, als habe sich das Lachen gewaltsam den Weg aus ihr hinaus gebahnt.

»Ihr Bruder glaubt, dass ihm jemand etwas unterschieben will. Und Ihr Vater scheint auch dieser Meinung zu sein.«

Hendrix schob sich sanft hinter Kim weg. »Wenn wir die Sonne noch ausnutzen wollen, mein lieber Schatz, dann sollten wir los.«

Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Der Detektiv in meinem Buch kommt auch hinter so eine Geschichte. Jemand will einem anderen etwas unterschieben. Nur, was…?«

»Immerhin«, fuhr ich, an den lieben Schatz gewandt, fort, »gibt es diesen schwarz gekleideten Herrn, der ihm das Leben schwer macht, und der entstammt nicht Tilos reger Phantasie. Haben Sie vielleicht eine Idee, worauf dieser Mann hinauswill?«

Kim Martens spitzte ihren brombeerfarbenen Mund. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Arbeit tun sollen. Aber um Tilo etwas anzuhängen, müsste es jemanden geben, der Angst vor ihm hat. Ich kann mir keinen vorstellen.«

»Bei Ihrem Vater könnten Sie das aber?«

»Es wäre immerhin vorstellbar.«

»Aber warum setzt er dann einen Detektiv auf seine eigene Spur?«

»Ich habe nicht gesagt, dass die Spur zu ihm führt. Nur, dass es jemanden geben könnte, der diesen Anschein erwecken will.«

»Ich werde mich umziehen«, verabschiedete sich Hendrix und nickte mir ein letztes Mal zu.

»Denken Sie dabei an etwas Bestimmtes?«, fragte ich. »Zum Beispiel an den Fall Mölling?«

»Tut mir Leid.« Kim sah auf die Uhr. »Ich werde jetzt noch ein bisschen trainieren. Falls Sie warten wollen, bis mein Bruder aufwacht…«

Auf die Rheinbrücke fuhr wieder ein Güterzug auf. Also blieb ich noch ein wenig, um Waggons zu zählen. Kims Parfüm hielt den Raum, den sie eingenommen hatte, noch besetzt, als das Pärchen längst am Rhein entlangjoggte.

Leute wie sie vergeudeten ihr Leben nicht. Während andere ihre Zeit damit totschlugen, sich über ihr Zukurzgekommensein zu beschweren, fanden sie frühzeitig ihre Stärken heraus und setzten optimal ihre Fähigkeiten ein. Sie hatten keine Zeit, sich zu beschweren. Ständig waren sie eingespannt und sämtliche Freizeit ging für das Training drauf. Denn nur wer seine Ellbogen trainierte, hatte eine Chance, sich in der großen Schlange des Lebens nach vorne zu drängeln.

Ich dagegen hatte schon viel Zeit vergeudet und fragte mich, ob ich Kim beneidenswert fand. Ob ich Frauen bewunderte, deren Schönheit nur ein Nebenprodukt ihres Fleißes war. Es lohnte nicht, von ihnen zu träumen, denn sie hatten keine Zeit für romantische Abende am Kamin, obwohl sie sich ein Dutzend Kamine leisten konnten.

Vielleicht hatten sie Recht damit. Das Leben war kurz genug und für sie war es noch kürzer, weil es nur so lange als solches zählte, wie sie jung und topfit waren. Die zweite Hälfte ihres Lebens ging für die anstrengende Illusion drauf, es bestünde aus zwei ersten Hälften.

Bevor ich ging, klopfte ich noch ein paar Mal an Tilos Schlafzimmertür. Keine Reaktion erfolgte.

Neben der Tür an der Wand klebte ein Poster, auf dem ein langes, blutiges Messer abgebildet war:

 

FÜR EINEN GARANTIERT TRÄNENREICHEN ABEND:

R. BLOCHS DRAMA ›PSYCHO‹

IN EINER VÖLLIG NEUEN INSZENIERUNG

VON RUDI KASOLASKO IN DER WEINSTUBE.

PREMIERE AM 24.2.97.

 

Unter dem Messer war ein grobkörniges Schwarzweißfoto, das das Ensemble zeigte. Einer der Leute sah Tilo Martens sehr ähnlich, aber ich konnte nicht sagen, ob er es wirklich war. Möglicherweise rührte die Ähnlichkeit auch daher, dass der Mann auf dem Foto ein Taschentuch in der Hand hielt.