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Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich wie ein Überlebender einer Schießerei, für den es besser gewesen wäre, wenn er nicht überlebt hätte. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich mich traute, meinen Körper abzutasten, um nachzuprüfen, welche Körperteile noch vorhanden waren.

Keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Bruchstückhaft fielen mir die beiden Mafiatypen wieder ein. Einer von beiden war ein Killer gewesen, der mir mit seiner unwiderstehlichen Rechten einen Hieb in den Unterleib verpasst hatte. Schon die Erinnerung daran bewirkte, dass mein Magen sich erneut verkrampfte.

Zwei Typen, die Henk wollten. Mich hatten sie nur so zum Spaß verprügelt. Das bedeutete, dass ich sie vielleicht wieder sehen würde.

Erst allmählich nahm ich die Außenwelt um mich herum wahr. Vom Geruch her musste ich mich auf einer öffentlichen Toilette oder in einer dunklen Ecke am Stadttheater befinden. Aber das stimmte nicht mit dem überein, was ich sah. Ich lag mitten in einem Trümmerfeld, das in der Rekonstruktion das Büro meines Partners ergab.

Allerdings hatte ich mich direkt neben Henks Papierkorb übergeben, daher rührte der scharfe Geruch. Einiges von dem Zeug klebte noch auf meiner Jacke.

Vorsichtig rappelte ich mich auf. Sofort begann sich alles um mich herum zu drehen. Mir wurde wieder schlecht.

Wie sehr wünschte ich mir, im Krankenhaus aufgewacht zu sein! Dann hätte mich jetzt eine Schwester sanft zurückgehalten mit dem Hinweis, dass ich dringend Ruhe brauche. Aber hier musste ich alles selbst machen.

Also tappte ich in Schlangenlinien zum Klo, beugte mich über das Waschbecken und hielt das Gesicht in den Wasserstrahl. Das Drehen wurde weniger, wenn es auch nicht ganz aufhörte.

Ich zog meine Jacke aus und warf sie auf den Boden. Um die Flecken würde ich mich später kümmern.

Als ich aus dem Bad trat, wischte ich mir mit meinem T-Shirt das Gesicht trocken.

Auf dem Flur begegnete ich einer Frau.

»Was ist denn hier passiert?«, wollte sie wissen. Entweder hatte sie eine viel zu hohe Stimme oder meine Hörfähigkeit hatte Schaden genommen.

»Kennen wir uns etwa?«, fragte ich zurück.

Sie war Mitte bis Ende zwanzig, hatte rotes, lockiges Haar und eine rötliche Brille. Der dicke, selbst gestrickte Pulli in verwaschenen Regenbogenfarben ließ sie rundlicher erscheinen, als sie war. Insgesamt erinnerte sie mich an eine Freundin, die Henk einmal gehabt hatte. Politisch aktive Langzeitstudentin, die an keiner Demo teilnahm, ohne ihre Gitarre mitzubringen.

»Eine neue Klientin«, informierte sie mich. »Die Tür stand offen, da bin ich einfach rein.«

»Aber ich habe schon einen Klienten. Und außerdem«, ich stützte mich an der Wand ab und wartete mit dem nächsten Schritt, bis der Flur nicht mehr auf dem Kopf stand, »jede Menge Ärger.«

»Ich dachte, vielleicht hören Sie sich meine Geschichte erst an und dann überdenken Sie Ihre Entscheidung noch einmal.«

»Vielleicht später«, wehrte ich müde ab. »Im Moment passt es mir nicht.«

»Aber es ist kein neuer Fall«, beharrte sie. »Es ist genau der Fall, an dem Sie gerade arbeiten. Ihr Klient heißt Guido Martens, stimmt’s?«

Sie ließ sich nicht abwimmeln.

»Ich habe Sie gesehen, als Sie heute Nachmittag sein Haus verließen, und bin Ihnen gefolgt.«

Wahrscheinlich hatte sie erkannt, dass ich ihr zurzeit nicht gewachsen war, und nutzte das eiskalt aus. Das nahm mich nicht gerade für sie ein.

»Na schön, wenn’s unbedingt sein muss«, brummte ich und wankte voraus in Henks Büro. »Nehmen Sie Platz. Leider bin ich noch nicht zum Aufräumen gekommen.«

Sie in sein Zimmer zu bitten war mein letzter Versuch, sie zur Aufgabe zu bewegen. Er schlug fehl.

Die Möchtegern-Klientin hatte offenbar nicht die geringsten Probleme mit dem Chaos. Erst wollte sie auf dem umgekippten Papierkorb Platz nehmen, aber nach einem kurzen Schnüffeln ging sie zum Fenster, öffnete es und setzte sich auf die Fensterbank.

»Denken Sie vielleicht, ich hätte noch nie eine Nacht durchzecht?«, fragte sie verständnisvoll. Dann deutete sie grinsend auf Henks Karnevalsrequisit in der Ecke. »Kann man Sie auch für Kindergeburtstage engagieren?«

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und ließ mich langsam abrutschen, bis ich Grund unter dem Hintern spürte. »Also, worum geht’s?«

»Es geht um die Frage, auf welcher Seite Sie stehen.«

»Ich wüsste nicht, was das mit meinem Fall zu tun haben soll.«

»Martens ist die falsche Seite. Mölling die richtige.«

»Wer ist Mölling?«

»Der Mann, den Ihr sauberer Martens umgebracht hat.«

Ich pfiff durch die Zähne. »Dass er jemanden umgebracht hat, ist mir völlig neu.«

»Um Ihnen das zu sagen, bin ich hier. Sie sollten sich fragen, ob Sie einen heimtückischen Mörder als Klienten haben wollen.«

»Also, erst mal frage ich mich, wer Sie überhaupt sind.«

»Melanie Storck. Ich war mit Marius zusammen.«

»Marius?«

»Marius Mölling, der Ermordete.«

»Und woher wissen Sie, dass Martens ihn ermordet hat?«

Während sie in ihrer Hosentasche kramte, zeigte sie ein so überlegenes Lächeln, dass ich damit rechnete, sie würde mir einen unumstößlichen Beweis präsentieren. Aber es war nur ein Papiertaschentuch.

»Ich weiß es.«

»Aha.«

Melanie entging mein ironischer Ton nicht. Sie warf mir einen schiefen Blick zu. »Man sieht es ihm nicht an, wenn Sie das meinen. Er ist der Typ mit den weißen Handschuhen.«

»Mir ist gar nicht aufgefallen, dass Martens Handschuhe trägt.«

»Soll das ein Witz sein?«

Mir lief es plötzlich kalt den Rücken herunter. »Ein Witz?! Nein, bloß nicht!«

»Schon gut«, beruhigte sie mich, von meinem Ausbruch irritiert. »Regen Sie sich ab.«

Unten im Hof hatten Kinder ein Fußballspiel begonnen, das durch das offene Fenster direkt übertragen wurde. Vom Fußboden aus konnte ich nur den konturlosen Himmel sehen. Er konnte genauso gut das Deckelinnere eines riesigen, weißen Schuhkartons sein.

»Ich weiß es«, wiederholte Melanie Storck, »aber ich kann es nicht beweisen. Sonst wäre ich ja wohl nicht hier.«

»Ich dachte, Sie sind hier, um mich zu informieren.«

Ihre Miene wurde noch eine Spur kühler.

»Vergessen Sie’s«, sagte ich. »Erzählen Sie mir einfach die Geschichte.«

»Marius war Journalist. Nicht so ein Schlagzeilen-Heini, der für jede Bettgeschichte gut ist. Er stand auf der richtigen Seite und das war ihm immer das Wichtigste. Tja, deshalb musste er wohl auch sterben.«

»Also hat jemand die Vorfahrt nicht beachtet?«

»Er war an einer Story über die Nordrhein-Stahl dran. Damals haben die Tausende von Beschäftigten auf die Straße gesetzt.«

»Nordrhein-Stahl.« Ich kratzte mich vorsichtig am Kopf. »Aber die Sache ist doch noch gar nicht so lange her.«

»Ein gutes halbes Jahr. Jedenfalls war dieser Martens für den Konzern als Betriebsberater tätig. So weit sind wir heute gekommen, dass die Bosse sich ihre Schweinereien schon nicht mehr selbst ausdenken können.«

»Sie meinen die Entlassungen.«

»Man nennt es Betriebsverschlankung. Das war Martens’ geniales Rezept. Wissen Sie, was er dafür kassiert hat? Über eine Million. Nur dafür, dass er denen gesagt hat, sie sollen Leute rausschmeißen. Jeder Vierte wurde entlassen. Natürlich ließ sich die Belegschaft das nicht so einfach gefallen. Es gab Werksbesetzungen und Mahnwachen. Marius wollte darüber schreiben, aber dann sagte er, er sei auf eine heiße Sache gestoßen, die Martens betreffe.«

Melanie hatte aufgehört zu erzählen. Es ärgerte mich, dass sie mir anhand meiner eigenen Nachfragen vorführen wollte, dass sie mein Interesse geweckt hatte. Dabei war es nur Neugier, nichts weiter.

»Was für eine Sache denn?«

»Tja, das habe ich nicht mehr erfahren. Damals am Telefon war es das letztes Mal, dass ich mit Marius gesprochen habe. Zwei Tage später wurde er aus dem Rhein gefischt.«

»Tut mir Leid.«

Sie stieß einen tonlosen, schnaufenden Lacher aus, womit sie mir wohl sagen wollte, dass ihn das auch nicht mehr lebendig machte.

»Die Polizei hat den Fall doch sicher untersucht«, sagte ich.

»Das schon. Ein paar Wochen. Dann wurde er zu den Akten gelegt. Zuerst haben sie immer von Mord geredet und später wiegelten sie ab. Es wäre auch ein Unfall denkbar, meinten sie.«

»Und Sie sind davon überzeugt, dass Martens den Mord begangen hat?«

Melanie beugte sich zu mir herüber. Sie musterte mich skeptisch wie eine Ärztin, die es auch in ihrer Freizeit nicht lassen kann, ihre Mitmenschen auf Symptome zu untersuchen. Offenbar hielt sie mich für einen schweren Fall von Begriffsstutzigkeit.

»Aber die Sache ist doch klar! Marius findet etwas über Martens heraus. Er trifft sich mit ihm, um ihn damit zu konfrontieren. Kurz darauf wird er ermordet aufgefunden!«

Ich konnte es nicht leiden, wenn man mir im Tonfall einer Nachhilfelehrerin eins und eins vorrechnete.

»Schon mal was von aristotelischer Logik gehört?«

Melanie legte den Kopf schief. »Von was?«

»Erstens: Mörder machen sich die Hände nicht schmutzig. Richtig. Zweitens: Guido Martens hat saubere Hände. Auch richtig. Schlussfolgerung: Martens ist ein Mörder.«

»Was?! Also…« Melanie hielt es nicht mehr auf der Fensterbank. Wütend sprang sie herunter und stolperte dabei über einen von Henks Aschenbecher, der im Weg lag. »Das ist ja wohl der blödsinnigste Quatsch, den ich je gehört habe!«

»Was haben Sie denn für Fakten, außer dass Martens einen Beruf ausübt, der sich von Ihnen aus auf der falschen Seite befindet? Sie wissen nicht, was Ihr Marius über ihn herausgefunden hat. Auch nicht, ob er ihn überhaupt getroffen hat. Dazu kommt die Tatsache, dass Martens nicht wie ein Mörder aussieht. Das alles beweist, dass er einer ist, oder was?«

Für einen Moment glaubte ich, sie würde sich auf mich stürzen. Wenn sie ihre Gitarre mitgehabt hätte, hätte sie sie mir sicher über den Schädel gehauen. Aber sie nahm sich zusammen.

»Seit etlichen Wochen«, erklärte sie, die einzelnen Worte ruhig und gefasst aussprechend, »arbeiten wir in unserer Aktionsgruppe dafür, dass die Polizei den Fall Mölling noch einmal aufrollt. Wir haben nicht herumgesessen und diskutiert, sondern Druck gemacht. Aber wir kommen nicht weiter. Wir brauchen keinen, der noch mal von vorne anfängt. Wir brauchen Beweise!«

»Also schön, Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, Ihren Verdacht zu beweisen. Nehmen wir an, ich mache es. Dann würde ich mir aber nicht Ihre Brille aufziehen lassen.« Ich zog meine ab und stellte fest, dass der italienische Terminator das Gestell vorhin abenteuerlich verbogen hatte.

»Was für eine Brille?«, fragte Melanie Storck.

»Die Brille, durch die Martens abstoßend und bösartig aussieht, während der arme Marius eine Art Heiligenschein trägt. Er ist keiner von den Schlagzeilen-Heinis? Dabei scheint er mir doch hinter einer fetten Schlagzeile her gewesen zu sein. Und wer sagt mir, dass es sich dabei nicht um eine Bettgeschichte gehandelt hat?«

»Schon gut.« Offenbar war sie nicht sauer auf mich. Sie fühlte sich so sehr im Recht, dass in ihrem Blick nur tiefe Enttäuschung darüber zu sehen war, dass ich moralisch so wenig mit ihr Schritt halten konnte. Vielleicht war es nicht einmal Enttäuschung und sie hatte gar nichts anderes erwartet.

Melanie wandte sich zum Gehen. »Ich hatte gedacht, Sie stünden auf unserer Seite.«

Mir platzte der Kragen. »Verdammt, jetzt hören Sie doch mit Ihren Seiten auf! Überall sonst hat sich spätestens seit dem Mittelalter herumgesprochen, dass die Welt eine Kugel ist. Nur ihr lebt noch in der heilen, zweiseitigen Welt!«

Für meinen Ausbruch hatte sie nur ein abfälliges Lächeln übrig. Doch sie ging nicht sofort, sondern warf noch einen Blick aus dem Fenster.

Unten im Hof war ein Tor gefallen und jetzt hatte sich von einem der Fenster aus ein Bewohner eingeschaltet und bat sich Ruhe aus.

»Was soll das heißen?«, erkundigte sich Frau Storck.

»Das heißt, wenn ich auf Ihrer Seite stehen soll, dann ist das nicht umsonst.«

»Klar.« Sie nickte verständnisvoll. »Wir haben in der Gruppe zusammengelegt. Fünfundsiebzig am Tag sollten okay sein.«

»Fünfundsiebzig!«

Zum ersten Mal hatte sie einen Witz gemacht. Die ganze Zeit hatte ich mir die Frage gestellt, wieso die Solidaritätsgruppe ausgerechnet auf mich verfallen war. Jetzt hatte ich die Antwort. Es gab offenbar Kreise, in denen ich den Ruf hatte, ein Preisbrecher zu sein. Henk und seine Studentenfreundin waren schuld daran.

»Pfennig oder Mark?«, fragte ich vorsorglich.

Sie grinste säuerlich. »Wir haben alle nicht viel.«

»Tja, dann tut’s mir Leid«, sagte ich. »Sie können mich nicht mit sich vergleichen. Schließlich kriege ich kein Bafög. Also…«

»Das ist Ihr letztes Wort?«

Ich kämpfte mich mühsam auf die Beine. »Soll ich Ihnen sagen, wie viel mir mein Klient zahlt? Wenn ich für Sie arbeite, müsste ich das alles sausen lassen und…«

Melanie hob beide Hände, als hätte ich eine Waffe auf sie gerichtet. »Okay«, erklärte sie, »ich habe mich in Ihnen geirrt. Sie sind genau der Richtige für Martens!«

Damit ließ sie mich stehen.

»Was soll das denn wieder heißen?«, rief ich ihr hinterher.

»Dass Sie ein Kurzhaardackel sind, dem man einen Geldschein unter die Nase hält, damit er anfängt zu schnüffeln!«

Mir kam plötzlich eine Idee. »Übrigens, planen Sie in Ihrer Aktionsgruppe auch Theatralisches?«

Sie stand in der Wohnungstür und drehte sich noch einmal um. »Glaube kaum, dass Sie das etwas angeht. Was meinen Sie mit theatralisch?«

»Zum Beispiel Leute, die in Schwarz gekleidet vor Häusern stehen, in der Rolle des personifizierten schlechten Gewissens.«

Melanie warf mir einen eiskalten Blick zu. »Halten Sie mich wirklich für so dämlich? Erst wimmeln Sie mich ab und dann baggern Sie ausgerechnet bei mir nach Informationen, die Sie bei Ihrem sauberen Klienten zu Geld machen können!«

Sie knallte die Tür hinter sich zu.

Das war auch eine Antwort, vielleicht gar nicht mal eine schlechte. Also konnte ich nicht anders, als Melanie Storck für dämlich zu halten.