20

 

 

 

Das Schloss meiner Wohnungstür zu knacken war ein Kinderspiel. Deshalb musste man auch genau hinsehen, um zu bemerken, dass sich jemand Zutritt verschafft hatte, ohne einen Schlüssel zu benutzen. Aber längst bevor ich an der Tür stand, ahnte ich, dass ich inzwischen Besuch gehabt hatte.

Dass eine ganze Bundesliga-Generation sich nach einem schweißtreibenden Endspiel zum Trikottausch bei mir eingefunden hatte, war nur eine hypothetische Möglichkeit. Schrader war die realistische. Ich hatte nach meinem Besuch bei Martens damit gerechnet, dass der Mann fürs Grobe und Meister filigraner Worträtsel über kurz oder lang bei mir auftauchen würde. Allerdings nicht, dass er schon vor mir da sein würde.

Mein Versuch, mich völlig lautlos in die Wohnung zu schleichen, misslang schon beim zweiten Schritt. Ich trat auf etwas Weiches, Blättriges. Mein Fuß zuckte zurück.

Vor mir auf dem Boden lag ein Kranz von der Art, wie man ihn bei feierlichen Beerdigungen benutzt. Dieser hier war ein besonders üppiger. So was schleppten Politiker bei Staatsbesuchen mit, um es vor Mahnmalen niederzulegen. Anstatt des üblichen In tiefer Trauer stand auf der goldenen Scherpe in gotischen, verschnörkelten Lettern: Jetzt bist du dran, Voß.

Drüben in meinem Schlafzimmer brannte Licht, ebenso wie im Bad.

Mein Herz begann urplötzlich zu hämmern und die Gedanken liefen durcheinander wie Hühner in Panik. Das war Milanos Handschrift! Aber was hatten der oder seine Gorillas mit Schrader zu tun? Wenn der Übelriechende einer von den italienischen Totschlägern war, wieso hatte er das beim letzten Mal nicht erwähnt?

Jetzt bist du dran, Voß.

Die Nachricht wandte sich nicht an mich, sondern an Henk. Wie kam Schrader auf die Idee, dass Henk hier wohnte, wo er mich doch schon angetroffen hatte?

Ich machte einen vorsichtigen Schritt über den Totenkranz und nahm auf Zehenspitzen Kurs auf mein Schlafzimmer.

Der Geruch wurde stärker. Für einen Moment durchfuhr mich der Gedanke, dass ich dabei war, auf einen teuflischen Trick der Italiener hereinzufallen. Dass sie sich irgendwie eine Flasche künstliches Schrader-Aroma besorgt hatten, um mir seine Anwesenheit vorzugaukeln. Aber wozu der Aufwand?

Ich passierte die Toilette und bückte mich nach einem sorgfältig gefalteten Zettel. Ich hob ihn auf, entfaltete ihn und las einen einzigen Satz, der in der mühevollen Schönschrift eines Schreibungeübten gemalt war:

Scusi, wir haben das Licht brennen lassen. Aber dafür haben wir deinen Partner ausgeknipst.

Mein Blick fiel auf die Toilettentür. Sie sah anders aus als sonst. Außer dem Schlüsselloch hatte sie noch eine Menge anderer Löcher. Jemand musste in unmittelbarer Nähe schwere Artillerie in Stellung gebracht und gnadenlos das Feuer eröffnet haben.

Jetzt bist du dran, Voß.

Mir wurde heiß. »Ihr Scheißkerle!«, schrie ich und riss an der Tür. Sie kam mir entgegen, ich stolperte rückwärts an die Wand, und die Tür, als wollte sie mir den Anblick mit Gewalt ersparen, stürzte auf mich. Ich stieß sie beiseite und machte mich auf alles gefasst.

Jedenfalls hatte es nicht Henk erwischt. Ich atmete auf.

Mein Besuch war immer noch da. Und er würde aus eigener Kraft die Wohnung nicht mehr verlassen. Und schwitzen würde er auch nicht mehr.

Schrader würde mir nie mehr verraten, was er mit ›Zeuch‹ gemeint hatte. Er sah traurig aus, irgendwie überrascht. Wer hätte das gedacht, man geht aufs Klo und sieht die Welt da draußen nie wieder? – Dabei war er selbst schuld. Weder stand sein Hosenstall offen, noch hatte er die Hosen heruntergelassen. Er hatte auf dem geschlossenen Klodeckel gesessen und das einzige Bedürfnis, das ihn hergelockt hatte, war seine Absicht gewesen, mir einen besonderen Empfang zu bereiten.

Mit zitternden Knien checkte ich die Wohnung. Es gab keine weiteren Überraschungen. Noch bevor ich einen klaren Kopf bekam, begriff ich die Bedeutung der Nachricht auf dem Leichenkranz: Die Betonung lag nicht auf dran, sondern auf du. Erst Kittel, dann Voß.

Im selben Augenblick, als ich den Hörer abnehmen wollte, um Mattau anzurufen, schrillte das Telefon los. Ich zuckte zusammen und stieß das Ding dabei um ein Haar zu Boden. Also ließ ich es notgedrungen klingeln, bis sich meine Hand so weit beruhigt hatte, dass sie den Hörer halten konnte.

»Henk?«

»Hier ist Ina Martens. Kann ich Sie sprechen?«

»Im Moment passt es nicht so gut. Ich habe Besuch und es ist einer von der Sorte, der von selbst nicht geht. Es handelt sich um Schrader. Der Mann, der für Ihren Mann gewisse Dinge erledigt. Und gewisse Leute.«

»Mein Mann hat damit nichts zu tun.«

»Das ist mir klar.«

»Ich habe mir alles noch mal überlegt. Ich glaube, ich kann Ihnen doch noch etwas sagen.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Nicht am Telefon. Wir sollten uns treffen.«

»Ich glaube nicht, dass ich noch Fragen an Sie habe. Immerhin ist jetzt alles so, wie Ihr Mann es wollte. Das einzige Loch in seiner Konstruktion hat er soeben gestopft.«

»Mölling war ein Erpresser.«

»Und Ihr Mann hat was zu verbergen.«

»Da ist er nicht der Einzige.«

»Bestimmt nicht. Aber könnten Sie vielleicht deutlicher werden?«

»Morgen Vormittag habe ich Tennisunterricht und danach bin ich im Hallenbad. Das ist kurz vor dem Industriegebiet. Neben den Becken ist ein Bistro. Wenn Sie gegen eins da sind, können wir uns treffen.«

Ich musste Mattau ganz schön überreden, bis er sich herabließ, sich in Richtung Tatort in Bewegung zu setzen. Er behandelte mich, als wäre ich Tilo Martens.

Als er bei mir auf dem Flur stand, änderte er seine Meinung. »Endlich mal was Handfestes«, sagte er.

»Der Mann heißt Schrader.«

»Interessant, Kittel. Und warum haben Sie ihn umgebracht?«

»Ich habe ihn nicht umgebracht.«

»Wer sonst?«

»Hören Sie, Kommissar, ich kenne den Mann doch überhaupt nicht. Ich bin herein gekommen und…«

»Gerade im Moment noch haben Sie mir erklärt, dass der Mann Schrader heißt«, unterbrach mich Mattau triumphierend. Aber kriminalistische Fangfragen à la Bisher-hatte-ich-davon-aber-noch-gar-nichts-erwähnt waren nicht seine Stärke.

»Genau. Weil er mir des Öfteren aufgelauert hat und mich auf seine Art davon überzeugen wollte, dass ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern soll.«

»Und weil er gerade hier war, ist er auf die Toilette gegangen.«

»Er hat nicht auf dem Klo gesessen. Er hat da auf mich gewartet.«

Ich reichte ihm den Zettel.

»Dafür haben wir deinen Partner ausgeknipst«, las Mattau skeptisch. »Woher stammt das? Aus einem Schüleraufsatz über den Ganovenjargon der fünfziger Jahre?«

»Die Mörder dachten, sie würden mich erledigen.«

»Die Mörder? Klingt, als wüssten Sie, von wem Sie sprechen.«

»Ich kenne sie zufällig.«

»Gute Arbeit, Kittel. Name, Adresse, Telefonnummer?«

»Ich weiß nicht, wer sie sind. Alles, was ich weiß, ist, dass sie hinter meinem Partner her sind wegen eines Falles, in dem er ermittelt. Nicht gerade umgängliche Zeitgenossen.«

»Immerhin haben sie den Typen umgelegt, der Ihnen an den Kragen wollte.«

»Übrigens ist der Mann die rechte Hand von Guido Martens.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Er hat Mölling auf dem Gewissen.«

»So? Das glauben Sie doch selbst nicht, Kittel.«

Es klingelte. Mattau ging zur Tür und ließ die Kollegen von der Spurensicherung hereinstürmen. »Sie haben doch keine Ahnung.«

»Wovon?«, fragte ich.

»Ich glaube, hier können wir im Moment nicht viel tun.«

»Ich finde schon«, wandte ich ein. »Immerhin könnten wir die Sache aufklären.«

»Außerdem muss ich aufs Klo und das ist ja wohl zurzeit noch besetzt.« Mattau kratzte sich am Kopf. »Sie wissen nicht zufällig, Kittel, wo man hier in der Gegend um diese Zeit noch kann?«

»Eigentlich wollte ich demnächst schließen«, sagte Jiorgos.

»Polizei«, sagte Mattau. »Nur ein paar Fragen.«

Der einzige Gast außer uns war eine ältere, füllige Frau mit einer dunklen Brille, die an der Wand beim Fischerhafen saß und erfolglos versuchte, eine Zigarette zu drehen.

»Henk?«, fragte ich.

Sie warf mir einen krummen Blick zu. »Verpiss dich!«

»Entschuldigung. Ich habe Sie mit meinem Partner verwechselt.«

Die Alte rülpste. »Schönes Kompliment.«

Mattau winkte mich mit seinem Bierglas an den Nebentisch.

»Es ist alles nicht mehr so wie früher«, sagte er und Anteilnahme und Mitleid mit sich selbst machten seine Stimme schwer. »Die Arbeit ist nicht mehr dieselbe. Die Täter auch nicht. Und schon gar nicht die Bullen.«

»Wie war es denn damals?«

»Die Täter handelten früher aus materieller Not. Man konnte ihnen nicht wirklich böse sein, denn sie waren Leute wie du und ich. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Nein.«

»Arme Schlucker, die ihren Chef ermordeten, weil sie vom kargen Gehalt nicht leben und nicht sterben konnten. Familienväter, die zum Töten gezwungen waren, weil sie nur so ihre Lieben ernähren konnten. So in der Art. Heutzutage macht man einen fertig, um den Kick zu spüren.«

»Was ist mit den Bullen?«

Er grinste spöttisch. »Die gibt’s gar nicht mehr. Sind ausgerottet sozusagen. Heute wollen alle nur noch ›Cops‹ sein. Haben eine große Schnauze und pflegen ihren Dreitagebart. Coole Bürschchen, die so tun, als scherten sie sich einen Dreck um Bestimmungen, aber keine Teamsitzung auslassen.«

Der Kommissar nahm einen langen, traurigen Schluck, der weit über das hinausreichte, was in seinem Glas war. Deshalb hielt er es Jiorgos, der gerade vorbeikam, zum Nachfüllen hin.

»Wissen Sie was, Kittel? Es war nie so wie früher. Aber heute schon gar nicht.«

»Wie war das mit Ihnen und Martens?«

»Guido!« Mattau sah in seinem Glas nach und ganz unten auf dem Boden schien er zu finden, was er suchte. »Guido Martens. Der war ein richtiger Hardliner. ›Wir machen keine Gefangenen‹, hat er immer gesagt.«

»Keine Gefangenen?«, wunderte ich mich. »Haben Sie zusammen in der Resistance gekämpft?«

»Das nicht. Unser Schlachtfeld war die Hochschulpolitik. Guido war ein Zweihundertprozentiger. Bei den Podiumsdiskussionen haben die Leute gezittert, wenn er nach dem Mikrofon griff.«

Ich versuchte mir Mattau auf einer Podiumsdiskussion vorzustellen. Es gelang nur unvollständig. Der Kommissar saß in seinem abgewetzten Parka nasebohrend zwischen aufmüpfigen, langhaarigen Intellektuellen, die sich über seinen Kopf hinweg über die Avantgarde-Funktion linker Kader stritten.

»Er hat mit Thorsten Theuerzeit zusammengewohnt, als ich dazustieß. Zu dritt haben wir dann versucht, das bürgerliche Bewusstsein zu verändern. Na ja, Guido hatte wohl eher vor, es auszulöschen. Guido hasste schon damals alle, die sich anpassten. Als ich Bulle wurde, hat er mich allen Ernstes als Verräter verstoßen. ›Wenn du damit wirklich Ernst machst‹, hat er gesagt, ›dann weiß ich nicht, wofür wir die ganze Zeit gekämpft haben.‹ Tja, und dann habe ich ihn erst wieder getroffen, als ich in der Nordrhein-Geschichte ermittelt habe. Auf einmal waren wir drei wieder zusammen.«

»Einer als Bulle und einer als Verdächtiger.«

»Und einer als Toter.«

»Stimmt.«

»Guido ist gut. Ein richtiges Ass. Jemand wie er brauchte nicht lange bei Nordrhein-Stahl zu schnüffeln, um auf Thorstens Betrug zu stoßen. Jede Wette. Und dann hat er mit ihm ein ernstes Wort geredet.«

»Sie meinen, er hat ihm damit gedroht, alles auszuposaunen, wenn Theuerzeit es wagen sollte, noch einmal das Maul aufzureißen.«

Mattau zuckte mit den Schultern. »Dieser Mann lässt nicht locker. Das hat er nie getan. Er hat immer so lange geredet, bis die Frauen in Tränen ausbrachen und die Typen sich auf ihn stürzen wollten. Und selbst dann hat er oft nicht aufgehört. Er macht eben keine Gefangenen.«

»Und Sie meinen, so ähnlich ist das auch mit Theuerzeit gelaufen?«

»Wissen Sie, Kittel, eigentlich habe ich keine Ahnung. In dem Punkt muss ich Martens leider Recht geben.« Mattau beugte sich zu unserer Tischnachbarin herüber und schwatzte ihr eine Zigarette ab. »Er hat ihm klargemacht, dass er erledigt ist, wenn er weiter den Robin Hood spielen will. Für Thorsten, die empfindsame Seele, war das wohl zu viel.«

»Wie wollen Sie das beweisen?«

»Das kann man nicht beweisen.«

»Vielleicht ist es ja auch ganz anders gewesen.«

Mattau kippte seinen Ouzo und hielt das leere Glas zum Nachfüllen hoch, allerdings in Richtung Nebentisch.

Die Frau, die ich für Henk gehalten hatte, prostete zurück.

»Guido war damals mein Vorbild, ehrlich. Der ist vor keinem zurückgewichen. Faule Kompromisse waren mit dem nicht drin.«

»Auch heute noch«, bestätigte ich. »Pass dich niemals an! Das predigt er seinem missratenen Söhnchen bei jeder Gelegenheit.«

Der Kommissar gluckste. »Das ist doch so, als würde einer sagen, ich lass mich nicht einsperren, und nimmt einen Job als Aufseher an. Er ist einer der wenigen, die die anderen für sich tanzen lassen, aber er spielt das gleiche Spiel. – Wissen Sie was, Kittel? Ich glaub, ich muss schon wieder aufs Klo.«

Er richtete sich mühsam auf und winkte mir zu. »Guido war der Beste, das können Sie mir glauben. Wenn er es nicht schafft zu gewinnen, dann schafft es keiner. Sie nicht, Kittel, und auch ich nicht.«

Der Kommissar hatte Recht. Die alten Zeiten, sollte es sie jemals gegeben haben, waren vorbei. Jedenfalls die, wo ein Polizist im Dienst selbst einen winzigen Schluck Alkohol abgelehnt hatte, weil er im Dienst war.

»Heh!« Jemand rüttelte an meiner Schulter, dass es mich beinahe vom Stuhl riss. Die Frau vom Fischerhafen stand neben mir und grinste. »Dat is ja ‘n richtig scharfer Typ, dein Kumpel. Kannste mir vielleicht die Nummer von dem jeben?«

»Die Dienstnummer, oder was?«

»Quatsch, nää! Die Telefonnummer, du Tünnes!«