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Ich dachte nicht daran anzuhalten. Aber Henk nutzte seine Chance, als ich am Neumarkt vor einer Ampel stoppte. Er sprang aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu, dass es mir das Trommelfell umstülpte. Ohne sich umzudrehen, stampfte er in Richtung S-Bahn-Haltestelle, stolperte in einer Schiene und trat wütend gegen einen Erdklumpen, der sich als Stein entpuppte. Ein paar Sekunden tanzte er, den rechten Fuß in der Hand, auf einem Bein, dann humpelte er vorsichtig weiter.

Plötzlich begann er zu rennen. Hinter ihm waren der Schöne und das Biest, Milanos perverse Leibwächter. Ich musste Henk zur Hilfe eilen. Dann wurde es Grün. Hinter mir hupte es ungeduldig. Es blieb mir nichts anderes übrig, als herumzukurven, bis ich einen Parkplatz gefunden hatte, und bis dahin brauchte Henk mich nicht mehr. Entweder war er tot oder hatte die Typen abgehängt.

Trotzdem meldete sich erneut mein schlechtes Gewissen. Und das ließ nicht locker, bis ich am späten Nachmittag die Pathologie der Universitätsklinik betrat.

Barbara Bonnecks Reich sah anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Keine endlosen, weiß gekachelten Korridore im kalten Licht brummender Neonröhren, keine riesigen Schrankwände mit beschrifteten Schubladen, in denen tote Körper lagen, mit einem Papierstreifen um den dicken Zeh, auf dem Eingangsdatum und Todesursache vermerkt waren. Stattdessen gab es feingerahmte Grafiken an den Wänden der Gänge, die mit hellgrünem PVC gepflastert waren, Computerbildschirme flimmerten und es roch nach einer Mischung aus Pinselreiniger und Kaffee. Wer hier dem Tod begegnen wollte, musste vorher im Dienstplan nachsehen, ob er an dem Tag überhaupt eingeteilt war.

Babsi trug auch keinen Papierstreifen um den dicken Zeh. Sie hatte weiße Slipper an den Füßen, die in einer schwarzen Nylonstrumpfhose steckten, trug einen schwarzen Rock und über allem einen weißen Kittel, den sie nicht zugeknöpft hatte. Als sie mich bemerkte, zog sie eine Braue hoch und begab sich in ihr Arbeitszimmer an den Schreibtisch.

»Schön, dass du dich mal sehen lässt«, sagte sie zu dem Monitor.

Ich räusperte mich. »Also, ich, eh…«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

Wie ein plötzlicher, kalter Windhauch ergriff mich für einen Augenblick die Vorstellung, dass wir beide schon über zehn Jahre verheiratet waren. Ich zögerte und überlegte, ob es nicht besser war, zu gehen. Vielleicht war Henk mit den Schlägertypen doch besser dran als mit ihr.

Dann entschied ich, Babsi wenigstens eine Chance zu geben. »Henk ist in Schwierigkeiten«, sagte ich. »Er braucht dich.«

Sie nahm den Blick nicht vom Bildschirm. »Ach ja?«

Ich sah nicht ein, warum immer nur mir das schlechte Gewissen im Nacken saß. »Du hast sie ihm eingebrockt«, sagte ich vorwurfsvoll.

»Hah!« Ihr Drehstuhl wirbelte herum. »Er selbst hat sie sich eingebrockt! Wer hat denn die Gangster-Tussi flachgelegt, er oder ich?«

»Also, ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht genau, ob…«

»Ach, komm schon, Kittel, natürlich hat er! Machen wir uns doch nichts vor! Wir beide sind doch…«

»Ja, ja«, sagte ich.

»Er hat eine Tussi gevögelt«, stellte Babsi noch einmal klar. »Und ich soll ihm jetzt den Arsch retten, ja?«

Ich hasste Henk Voß dafür, dass ich in seinem Auftrag vor dieser Frau auf Knien herumrutschte, während er auf dem Neumarkt Räuber und Gendarm spielte. Mit einem einfachen Gefallen war das nicht mehr gutzumachen. Wenn alles überstanden war, würde ich ihn zur Kasse bitten…

»Er will zu dir zurück«, erklärte ich ihr behutsam. »Noch mal neu anfangen.«

»Neu anfangen, dass ich nicht lache!« Sie schlug sich auf die Schenkel. Allmählich beruhigte sie sich wieder, dann schenkte sie mir einen verträumten Blick. »Und was ist mit uns?«

»Wir haben immer noch unsere Erinnerung«, sagte ich und versuchte, schwärmerisch und gleichzeitig endgültig auszusehen. »Wir haben diese Nacht und die kann uns niemand neh-«

»Blödsinn!«, schnarrte sie. »Die ist doch längst vorbei.« Der Drehstuhl startete in meine Richtung. Jeder Zentimeter, den sie sich näherte, machte ihren Blick milder und weicher. »Außerdem hast du dich verdrückt, als es erst anfing, spannend zu werden.«

»Aber das mit uns wäre doch nichts geworden, Babsi. Du und Henk…«

Ihre Zungenspitze fuhr auf erregende Weise die Lippen entlang. »Was glaubst du, was er für ein Gesicht macht, wenn ich ihm das mit uns erzähle? Was hält er dann wohl von seinem besten Freund?«

Barbara Bonneck war eine Schlange, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Sie hatte Reptilienaugen, kalt wie die Augen der armen Verstorbenen, die sie auf ihrem Tisch sezierte, und selbst die Toten zitterten vor ihr, weil sich ihre Annahme, alles hinter sich zu haben, als Irrtum erwies.

Ich zuckte mit den Schultern und machte kehrt.

»Also, was will er von mir?«, rief sie mir nach.

Ich blieb stehen und drehte mich um. »Es würde ihm schon enorm helfen, wenn du mit ihm reden würdest. Und er braucht natürlich Geld zum Untertauchen.«

»Natürlich. Was ist denn mit seinem Partner?«

»Ich habe leider meinen Job verloren. Ansonsten gibt es noch einen Fall, für den ich kein Honorar kassiert habe. Bis dahin…«

»Tja, da muss sich Herr Voß schon herbemühen.«

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wird nicht gehen.«

»Schade für ihn. Ich komme hier nicht weg.«

»Aber wieso? Deine Leichen wird schon keiner klauen.«

»Du hast keine Ahnung. Erst vor sechs Wochen hat ein Medizinstudent im fünften Semester einen einzelnen Arm mitgehen lassen. Den hat er dann im Bus hängen lassen. Mit dem Scherz wollte er seinen Kumpels imponieren.«

Barbara Bonneck kam zu mir herüber und streichelte sanft über meinen Unterarm, während sie mich versonnen ansah, als überlege sie schon, wo sie ihn hinhängen würde. Mich fröstelte. Ich glaubte, irgendwo gelesen zu haben, dass man im Zweiten Weltkrieg Pathologen hinter die Front geschmuggelt hatte, damit sie mit ihren Scherzen die Moral des Gegners zerrütteten.

»Kommt so was öfter vor?«, fragte ich leise.

»Vor ein paar Tagen erst ist ein weiterer Unterarm verschwunden.« Sie grinste. »Eigenartig, wenn man bedenkt, dass es bis Karneval noch eine ganze Weile ist.«

 

 

Auch mein Büro hatten die Gorillas inzwischen umgeräumt. Da sie nicht so schlimm gewütet hatten wie bei Henk und meine Sachen im Gegensatz zu seinen nicht alle ihren festen Platz hatten, fiel die Verwüstung erst auf den zweiten Blick auf. Sie hatten den Schreibtisch stehen gelassen. Genau da, wo ich sonst meine Tasse Kaffee aufbewahrte, hatten sie eine Dose mit Fischfutter hingestellt. Eine große Dose aus der Zoohandlung, mit der Henks Fischlein mindestens zwei Monate ausgekommen wären. Ein Wiedergutmachungsversuch, der reichlich spät kam.

Dann las ich den beiliegenden Zettel: Das bist du, Kittel. Sehr originell.

»Was ist damit gemeint?«, erkundigte sich Melanie Storck. Wie neulich war sie unbemerkt hereingekommen und stand neben mir. »Wahrscheinlich: Das ist für dich.«

»Nein. Sie meinen, dass ich Fischfutter bin.«

»Eine Warnung also.«

»Nein, eine Verwechslung. Sie lieben Scherze.«

In der Dose war kein Fischfutter, nur ein weiterer Zettel. Wenn wir Voß nicht haben bis Samstag, 12.00 – basta.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte ich Melanie.

»Ich bin nur gekommen, um dir im Namen der Aktionsgruppe Mölling meinen Dank auszusprechen für deine mutige Tat.«

»Was denn für eine Tat?«

»Du hast dich trotz deiner Bedenken dazu durchgerungen, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, und das, ohne dich um kleinbürgerliche Konventionen und Moralvorstellungen zu scheren.«

»Sorry, aber ich bin kein Kommilitone. Würde es dir etwas ausmachen, mir das ins Deutsche zu übersetzen?«

Melanie grinste über beide Backen. »Du hast diesen Schrader kaltgemacht. Das war echt stark.«

»Ich?« Wieso nur dachte alle Welt, ich hätte diesen Mann ermordet? »Also, merk dir eins: Der Mann ist nur auf meinem Klo gewesen, nichts weiter. Zwar hat er vorher nicht um Erlaubnis gefragt, aber ich habe ihn deshalb noch lange nicht ermordet. Das waren die Kerle, die mir das Fischfutter da besorgt haben. Die haben Schalldämpfer aufgeschraubt und blind auf die Tür geballert, weil sie dachten, wenn bei mir einer auf dem Klo ist, dann bin ich das.«

Melanie sah immer noch zufrieden aus und ich fragte mich, was sie mit ihrem schweren, selbst gestrickten Pullover im Sommer anfangen würde. Dann verzog sich ihr Lächeln. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie verstanden hatte, was ich meinte.

»Trotzdem«, sagte sie.

»Also gut. Wenn das so ist, könntet ihr euch auch erkenntlich zeigen.«

»Und wie?«

»Schickt den guten Mannie Gerresheim in Urlaub. Von mir aus kann er weiter Schwarz tragen, aber er muss nicht bei Martens vor der Türe herumlungern.«

»Urlaub!« Sie machte ein Gesicht, als hätte ich ein Strafmaß verkündet.

»Was ist daran schlimm?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte sie mit einem Ernst in der Stimme, der die weißen Strände des Mittelmeers für einen Augenblick grau und unansehnlich machte. »Das ist es ja.«

Ach so, dachte ich. Don’t be happy, worry. Melanie tat nichts ohne Bedeutung. Wenn sie stand, stand sie gegen ein Unrecht auf. Wenn sie saß, dann handelte es sich um eine Sitzblockade. Ein lebendiges Beispiel dafür, dass man ein ganzes Leben vertrödeln konnte, indem man es einer gemeinsamen Sache widmete.

»Urlaub macht man von einem Job, der einen auffrisst«, belehrte sie mich. »Kann man auch Urlaub vom Engagement für andere machen?«

»Ich ziehe meinen Vorschlag zurück und formuliere ihn neu. Man sollte Mannie an die Adria schicken, damit er an einem der Strände dort an einer alltäglichen Sitzblockade teilnehmen kann, die im Badezeug stattfinden wird, um auf die leichtsinnige Verschwendung von Ressourcen durch die Textilproduktion aufmerksam zu machen, und die mit Hilfe einer selbst zugefügten Überdosis Sonnenöl gegen den sorglosen Umgang mit dem Ozonloch protestieren will. Durch beidseitige Hautbräunung der Demonstranten soll ein Bewusstsein für die drohende Klimakatastrophe geschaffen werden sowie auch abends unter der Dusche ein Vorgeschmack auf die Gefahr, in der der Regenwald sich durch die skrupellose weltweite…«

»Genau das«, unterbrach sie mich, »machen wir ja schon. Wir haben vorgestern eine Gruppe gegründet, die sich diesem Problem annehmen wird.«

»Sehr schön«, gratulierte ich ihr. »Gerresheim ist weg und das ist die Hauptsache. Dann sieht mein Auftraggeber, dass ich gute Arbeit geleistet habe. Und so bekomme ich vielleicht das Geld, das mir zusteht.«

Melanie grinste altklug. »Du gehst also doch vor ihm in die Knie, was?«

»Soll ich ihn vielleicht erpressen wie dein Marius ohne Furcht und Tadel?«

»Was soll das heißen?« Plötzlich war sie auf der Hut. Sie lauerte wie eine Katze im selbst gestrickten Pulli, um sich auf mich zu stürzen.

»Das soll heißen, dass der Mann, den ihr mit eurer Marius-Mölling-Volksfront heilig sprechen wollt, ein mieser Erpresser war.«

Die Wut kochte in ihr hoch, aber von außen konnte ich das nicht sehen. Obwohl es in ihr brodelte, blieb Melanie ruhig und musterte mich von Sekunde zu Sekunde abschätziger. »Das hätte ich mir denken können«, sagte sie schließlich.

»Allerdings. Schließlich warst du mit ihm zusammen. Vielleicht hat dich dein Engagement für andere so sehr in Anspruch genommen, dass du einfach nicht mitbekommen hast, dass Marius die Geheimnisse, die er herausfand, benutzte, um Leute damit zu erpressen.«

»Ach ja?«

»Ach ja. Und genau das hat er auch bei Guido Martens versucht, nachdem er von seinem Kumpel Heino einen Tipp bekommen hatte, dass es bei ihm reichlich zu ernten gab.«

»Und wenn?« Die Katze im Pullover sprang mich an. »Martens hat ihn daraufhin einfach so umgebracht.«

»Eben nicht«, berichtigte ich Melanie. »Das war Heino.«