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Mein Besuch bei Martens hatte nicht länger als eine Dreiviertelstunde gedauert. Der Rest des Nachmittags ging für die Rückfahrt drauf. Unterwegs vertrieb ich mir die Zeit, indem ich versuchte, die Durchschnittsgeschwindigkeit zu errechnen, wenn man alle fünf Minuten eine Strecke von circa acht Metern zurücklegte. Wenn ich mich nicht verrechnet hatte, würde ich für die läppischen zwanzig Kilometer länger brauchen als die Raumsonde Voyager zum Saturn. Ich sah die Tonnen und Abertonnen von Blech auf Rädern und fragte mich, wo die in der Stadt alle parken wollten.

Als ich vor unserem Büro ankam, erfuhr ich die Antwort: genau hier. Es war eine kritische Zeit. Die Kneipen hatten schon geöffnet und draußen auf dem Land ließen Tausende von Bergheimern den Motor aufheulen, um sich dem großen Marsch auf die Stadt anzuschließen. Um diese Zeit war es nicht ungefährlich, einen Fuß auf die Straße zu setzen, denn wenn man ihn nur eine Sekunde länger als nötig stehen ließ, musste man erst ein Auto abschleppen lassen, um ihn wieder freizubekommen. Ich überlegte, einfach nach Hause weiterzufahren. Aber erstens war die Parkplatzsituation da noch schlimmer und zweitens musste ich dringend noch ein wenig aufräumen, weil Henk, mein Partner, Anfang der nächsten Woche aus dem Urlaub zurückkehren würde. Da ich das Datum vergessen hatte, hatte ich irrtümlich schon vor acht Tagen für Ordnung gesorgt, und von der konnte inzwischen keine Rede mehr sein. Drittens wurde gerade jetzt ein Parkplatz frei.

Es irritierte mich ein bisschen, dass die Tür zum Büro offen stand. Drinnen schlug das ganze Ausmaß der Unordnung über mir zusammen. Es sah aus, als hätten die Möbel untereinander einen Bürgerkrieg ausgetragen. Wie sollte ich das nur an einem Wochenende schaffen? Praktisch nichts in dieser Wohnung stand noch an seinem alten Platz. Und Henks Büro hatte es am schlimmsten erwischt. Sein schwerer Schreibtisch war vornübergekippt und die Schubladen, in denen er seine Comics aufbewahrte, herausgerissen, der Inhalt war wie ein Niederschlag über den gesamten Boden verstreut.

Dieses Chaos war eigentlich merkwürdig, wenn man bedachte, dass sich die ganze Zeit über niemand in Henks Bereich aufgehalten hatte.

Ich wollte Luft holen, um zu fluchen, aber dazu kam ich nicht mehr.

Ein stählerner Arm packte mich von hinten und drückte mir die Luft ab. Von außen war er mit menschlicher Haut überzogen, auf die eine Gottesmutter mit Heiligenschein tätowiert war. Ein Pfarrer als Killer…

Ich röchelte. Vor mich trat ein zweiter Mann, er war einen Kopf größer als ich und trug Klamotten, wie ich sie mir nie würde leisten können. Ein wild gemustertes Seidenhemd, jede Menge Parfüm und ein Goldkettchen um den Hals. Dazu eine schwarze Sonnenbrille. Robert de Niro in seiner Rolle als Mann der ›ehrenwerten Gesellschaft‹.

»Voß!«, sagte er fast höflich. »Wo ist er?«

Er hatte tatsächlich einen italienischen Akzent und sagte ›Voß‹ mit angehängtem ›E‹. Offenbar lag ihm viel daran, als Sizilianer durchzugehen.

Nach Luft ringend, schüttelte ich den Kopf. »Was…«

»Besser, wenn du’s ihm sagst«, riet mir der andere in meinem Nacken. Dann stieß er mich quer durch den Raum gegen den umgekippten Schreibtisch. »Also los!«

»Kittel«, beschwerte ich mich. »Ich bin Kittel, nicht…«

»Aber das hier ist Voß!«, stellte der Parfümierte klar und zeigte auf den Papierkorb. Er wollte mir wohl zu verstehen geben, dass wir uns hier in Voß’ Büro befanden.

»Kittel & Voß. Er ist mein Partner.«

Der mit dem Stahlarm kam langsam auf mich zu. Er sah mich an, als sei ich eine Fliege, die er schon dreimal von seinem Kuchen verjagt hatte und die die Dreistigkeit besaß, zum vierten Mal zu landen.

»Dann weißt du, wo Voß ist.«

»Nein! Keine Ahnung, ehrlich. Klar, dass ihr jetzt denken müsst, ich wollte es euch verheimlichen. Aber das stimmt nicht. Er ist verreist, hat aber nicht gesagt, wohin.«

Der Duftende grinste breit und ausgiebig. Dann stieß er ein paar einzelne Lacher aus, was sich anhörte wie ein startender Wagen, dessen Batterie so gut wie verbraucht ist.

»Klar. Verreist. Willst uns verscheißern, was?«

»Nein, will ich nicht. Es ist nur, wir arbeiten nicht an demselben Fall.«

Das Regal links neben dem Fenster hatten sie vergessen umzuwerfen. Auf dem oberen Brett stand eine harmlose Keksdose, von der nur Henk und ich wussten, dass sie das Geheimversteck unserer Zweitkanone war. Für Fälle wie diesen.

»Milano will ihn sprechen«, verriet mir zischend das Bunthemd.

»Also ich«, erklärte ich, vorsichtig in Richtung Keksdose manövrierend, »weiß nicht mal, ob er in Italien ist. Und wenn, dann glaub ich eher, dass er sich irgendwo in Neapel herumtreibt. Ich meine natürlich, Napoli.«

»Der scheint ein richtiger Clown zu sein«, spottete der Mann mit dem Stahlarm böse. Er zündete sich eine Zigarette an und der Qualm vermischte sich mit dem süßlichen Eau de Toilette, mit dem sein Kumpel versuchte, wie ein Italiener zu duften. »Aber vergiss nicht, dass ein Witz nur dann komisch ist, wenn wir darüber lachen.«

Er kam wieder näher. Im Vorbeigehen knickte er Henks Schreibtischlampe wie einen Grashalm.

»Gut! Ich werd’s mir merken«, versicherte ich eilig.

Ich wich zurück, bis ich das Regal in meinem Rücken spürte. »Also schön! Warum sollte ich mich mit euch anlegen? Ich werde Henk ausrichten, dass…«

»Bah!«, fuhr mir der Schönling über den Mund. »Wenn Milano einen sprechen will, dann richtet man nichts aus. Man geht zum Friedhof und sucht sich schon mal einen Platz aus, capisce?«

Offenbar dachte er, ich zitterte vor ihm, weil er mit italienischen Ausdrücken um sich warf und mir den Mafioso vorspielte. Dabei war das gar nicht der Fall. Ich zitterte vor ihm, weil sein Kollege brutal war und gefühllos wie ein Android. Außerdem zertrümmerte er Henks schöne Büroeinrichtung.

»Okay«, sagte ich. »Bevor wir uns auf Spanisch beschimpfen, sollten wir vernünftig reden. Ich schlage euch ein Geschäft vor.«

»Ich hör wohl nicht recht«, lachte die Kampfmaschine.

»Was für ein Geschäft?«, wollte sein Kumpel wissen. Entsprechend der üblichen Rollenaufteilung war er in dem Gespann wohl derjenige, dem das Denken überlassen blieb.

»Ihr sagt mir, was ihr von Henk Voß wollt.«

Er lachte auf. »Nicht viel. Bloß seinen Kopf.«

Der Rambo stupste mit seinem Kampfarm gegen meine Brust. »Jetzt du.«

Meine Hand hatte endlich die Keksdose gefunden. Sie schlüpfte hinein, wühlte in den Krümeln und förderte einen Gegenstand zu Tage. Ein kaltes, glattes Ding, das mir ein gutes Gefühl gab. Jetzt war ich am Zug. »Mein Vorschlag lautet, dass wir das lächerliche Kasperltheater jetzt beenden.«

Meine Hand tauchte aus der Dose und zielte mit der Waffe auf den Schönling. »Ihr habt euer Bestes gegeben, aber jetzt ist Schluss.« Ich grinste. »Capisce?«

Für ein paar lange Augenblicke trat Stille ein. Niemand rührte sich. Der Schlägertyp glotzte mich mit blödem Gesicht an. Dann wandte er sich an seinen Kollegen, den Denker. »Was will der Clown?«

»Was ich will?«, kam ich der Antwort zuvor. »Euch raten, mir nicht den großen Corleone vorzuspielen, wenn ihr nicht mal wisst, wie man eine Pizza Quattro Staghioni bestellt.«

»Nein.« Unzufrieden schüttelte der Muskelprotz den Kopf. »Das meine ich nicht.«

»Er meint das da«, half mir der Schöne und deutete auf die Waffe in meiner Hand.

Sie war kalt und glatt, aber die Farbe war etwas zu grell. Rot mit einem grasgrünen Lauf. Als ich einen winzigen Plastikhebel betätigte, schoss ein gelbes Fähnchen aus dem Lauf. PENG! stand darauf.

Ich sah das Ding nicht zum ersten Mal. Es gehörte zu Henks Verkleidung. Er hatte den letzten Rosenmontag als Bankräuber begangen. Später hatten wir noch im Büro gefeiert.

»Du hast doch angefangen mit Kasperltheater«, warf mir mein Gegenüber vor.

Ich schwitzte und versuchte so auszusehen, als hätte ich die kleine Einlage beabsichtigt.

Der Schönling kam ganz nahe. Die Süße seines Parfüms war unerträglich. Sein Gesicht war nicht süß. Es war hart und ausdruckslos. Wie in Stein gemeißelt.

»Haben wir etwa gelacht?«, flüsterte er.

Ich kicherte nervös. »Jetzt hört mir doch mal zu, Leute! Wir…«

»Haben wir?!«

»Nein, aber…«

»Du wolltest dir doch merken«, erklärte er ganz sanft, »wann Zeit ist für Witze.«

»Ja…«

»Hast du aber nicht gemacht, was?«

»Okay, gut, hab ich nicht. Aber…«

»Basta!«, brüllte er mir plötzlich ins Gesicht, dass ich zusammenzuckte. Speichelspritzer trafen mich an Nase und Stirn. »Ich hab dir gesagt, Mann, lass die Witze, und du hast gesagt, okay, ist versprochen! Aber hast du die Witze gelassen? – No! Erst versprochen und dann hast du doch einen gemacht! Das war nicht gut, Mann! Hältst uns für blöde, einfältige Spaghettifresser, was?«

»Ja, schon. Das heißt, natürlich nicht. Ich wusste eben nicht, dass das für euch ein Problem ist, ehrlich…«

»Entschuldige dich!«

Mir wurde es allmählich zu eng, aber ich konnte nicht weiter zurück. Schönhemd drückte mich gegen das Regal. Irgendetwas bohrte sich in meinen Rücken.

»Entschuldigung!«, stöhnte ich.

Er lockerte den Druck. Sein Ausbruch schien zu Ende zu sein. »Für den Witz«, bat er freundlich.

»Den Witz?«

Er hob den Arm, an dem seine Hand so lässig baumelte, dass sie erschlafft zu sein schien. Plötzlich erwachte sie und richtete sich auf. Zwei Finger wuchsen wie neue Triebe in Rambos Richtung. »Heh, Gianni. Zeig ihm doch, wie man sich entschuldigt.«

Der Android gesellte sich grinsend zu uns. Jetzt hatten sie mich in der Zange.

Ich riss die Arme hoch. »Halt, nein!«, flehte ich. »Das braucht er nicht! Ich entschuldige mich für den Witz! Ihr habt Recht, das war überhaupt nicht komisch. Ganz und gar unpassend. Albern, lächerlich und ohne jedes Niveau! Tut mir wirklich Leid!«

Wieder herrschte eine Weile Schweigen, währenddessen die beiden mich genüsslich angrinsten.

Dann gab der Schönling mich frei.

Ich atmete auf.

»Bene«, sagte er. »Geht doch, was?«

»Ja«, beeilte ich mich zu bestätigen.

Er nickte seinem Schläger zu. »So. Und jetzt mach ihn fertig.«