16

 

 

 

»Eben war sie noch da«, beteuerte Tilo Martens.

Mattau schüttelte den Kopf. Das war eine seiner ausdrucksstärksten Gesten. Andere brauchten Hunderte von Worten, um das zu sagen, was der Kommissar ausdrückte, indem er nur den Kopf schüttelte.

Ich kratzte mich am Kopf. »Also das gleiche Spiel wie beim letzten Mal.« Und dafür hatte ich meinen Job verloren.

»Nein, nicht das gleiche«, erklärte Mattau. »Diesmal war es nicht das Bett, sondern der Kleiderschrank. Und darin war auch kein toter Mann, sondern eine nackte Frau…«

»Sie war nicht nackt!«, verbesserte Tilo. »Sie trug ein Nachthemd. Und Würgemale am Hals. Sie sah ganz grau aus. Ihre Lippen waren grünlich und sie hatte schwarz lackierte Nägel. Ein scheußlicher Anblick.«

Es war ein Mittag so grau wie die geheimnisvolle Erwürgte. Kim trainierte in München und Hendrix hatte Signierstunde am Neumarkt.

Ausgerechnet jetzt ging bei Tilo wieder der Vorhang hoch. »Jemand erlaubt sich einen zynischen Scherz mit mir«, beharrte er. »Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.«

»Es gibt mehrere Möglichkeiten«, ergänzte ich. »Jemand erlaubt sich einen Scherz mit Ihnen, Martens, oder mit Ihrer Schwester, die aber nie zu Hause ist, um sich an der Pointe zu ergötzen. Und die dritte und wahrscheinlichste Möglichkeit: Jemand erlaubt sich einen Scherz mit dem Kommissar und mir.«

»Und dieser Jemand«, sagte Mattau, »sind Sie, Martens.«

»Aber warum? Welchen Nutzen sollte ich denn davon haben?«

Mattau schüttelte wieder den Kopf. »Eigentlich eine gute Frage, Martens. Aber mit guten Fragen kommen wir hier nicht weiter. Stellen Sie lieber eine dämliche.«

»Zum Beispiel?«, erkundigte ich mich.

»Wieso in diesem drittklassigen Schauspiel regelmäßig ein Detektiv auftritt, der offenbar nichts dazulernt.«

»Der Detektiv hatte gerade Zeit, weil er seinen Job verloren hat. Und da hat er sich gesagt, wieso nicht mal in dieser Wohnung vorbeischauen, die auch ohne Leiche sehenswert ist…«

Ich trat ans Fenster und sah auf den Rhein hinunter. Für Touristen mochte der Ausblick eine tolle Sache sein, aber wenn man ihn regelmäßig genoss, fiel einem auf, dass dieser Fluss vor Abwechslungsreichtum nicht gerade sprühte.

»Und als er einmal da war, hat er sich dazu noch gefragt, wieso er immer wieder einen Kommissar antrifft, der gar nicht dort wohnt?«

»Er war zufällig in der Nähe.«

»Vielleicht gibt es da noch mehr Zufälle.«

»Nämlich?«

»Zufällig ist der Mann mit den eingebildeten Leichen der Sohn eines alten Bekannten, den der Kommissar jetzt nicht mehr kennt.«

»Reiner Zufall«, bestätigte der Kommissar.

»Es kommt noch besser. Guido Martens, der erfolgreiche Geschäftsmann, war vor einem halben Jahr in einen Fall verwickelt, indem es eine richtige Leiche gab. Nur der Mord war eingebildet. Dafür gab es kurz darauf einen Mord, für den es keinen Mörder gab. Die Polizei jedenfalls legte den Fall zu den Akten.«

Mattau grinste spöttisch. »Wer behauptet denn das?«

»Melanie Storck, die Lebensabschnittspartnerin des Verblichenen.«

»Der Fall Mölling.« Mattau schüttelte erneut den Kopf. »So ein Unsinn.«

»Was?«

»Zu den Akten gelegt«, sagte der Kommissar. »Das kann nur jemand sagen, der keine Ahnung hat, wie es bei uns aussieht. Bei uns liegen überall Akten herum. In den Ecken, auf dem Boden und auf den Fensterbänken. Zu den Akten legt man bei uns Büroklammern, Butterbrote und zerknülltes Papier. Aber keine Fälle.«

»Heißt das, die Kripo sucht immer noch?«

»So würde ich das nicht sagen. Ich wollte neulich ein Regal aus dem Baumarkt zusammenbasteln, aber am Schluss hatte ich ein Brett zu viel, dafür fehlten mir drei Schrauben. Irgendwann hat’s mir gereicht und ich hab das Ding einfach so stehen lassen, wie es war. Aber das heißt nicht, dass es ein toller Anblick ist.«

»Kaum anzunehmen.«

»Sie wissen doch, wie das ist, Kittel. Wir sind ständig unterbesetzt. Davon gehen dann noch die ab, die auf Fortbildungen sind. Dann gibt’s noch Erziehungsurlaub, Mittagspause, Besprechungen…«

Ich sah wieder aus dem Fenster. Wenn man ganz nahe heranging, konnte man unten die Straße sehen. Regenschirme von oben, aus der Perspektive der Tropfen, wenige Sekunden bevor sie auf ihnen zerplatzten. Einer der Passanten hatte keinen Regenschirm. Er war in Eile und zwängte sich schräg gegenüber in eine Telefonzelle.

»Wenn man’s genau nimmt«, sagte Mattau, »müsste ich eigentlich seit zwanzig Minuten in einer Besprechung sein.«

Der Schrank, in dem Martens die Tote gefunden haben wollte, war ein ungewöhnlich großer Kleiderschrank, antik, wahrscheinlich ein Vermögen wert. Wir hatten ihn nur kurz in Augenschein genommen, nur so lange, um uns davon zu überzeugen, dass die Hauptsache fehlte.

Eins der Kleidungsstücke in dem beachtlichen Möbel war ein gepunktetes Nachthemd, das auf einem Bügel hing. Vielleicht war es auch kein Nachthemd, sondern eher etwas für den Rosenmontag. Aber mit etwas Phantasie konnte man sich eine Frau darin vorstellen. Ich gab dem Bügel einen Stoß, um das Kleid schaukeln zu lassen, aber es rutschte ab.

»Das gehört meiner Schwester«, erklärte Tilo.

Auf dem Schrankboden, neben dem Kleid, fand ich etwas. Ein kleines, hartes Ding, das schwarz angemalt war. Ich ging damit zum Fenster und hielt es gegen das Licht. Ein falscher Zehnagel.

»Etwas gefunden?«, erkundigte sich Mattau, trat neben mich und nahm ihn mir aus der Hand.

Der Mann unten in der Telefonzelle hatte niemanden erreicht. Als ich den Zehnagel begutachtete, war er wieder auf die Straße getreten, und bevor er seinen Kragen hochschlug und zwischen den parkenden Autos verschwand, bohrte er für wenige Sekunden ratlos in der Nase. In dem Moment erkannte ich den Mann.

»Ich muss dringend weg«, sagte ich, stürzte auf den endlos langen Flur und nahm Kurs auf die Wohnungstür.

Natürlich kam ich zu spät. Henk war wie vom Erdboden verschluckt. Also fuhr ich nach Hause, um den Anrufbeantworter abzuhören. Meine Vermutung, dass er mich angerufen hatte, erwies sich als richtig.

»Wo steckst du bloß schon wieder?«, fragte er. »Sei heute Abend im La Mancha. Wenn die Luft rein ist, können wir reden.«

Bis dahin war alles, was ich hatte, ein schwarz lackierter Zehnagel. Das war nicht viel, aber eine ganze Menge dafür, dass er von einem Gebilde der reinen Phantasie stammte. Darüber sollte ich mit Tilo Martens reden, außerdem über ein Buch, das ich gelesen hatte. Es hieß Zu tot zum Schlafen und handelte von unglaublichen Vorfällen, die nur dazu dienten, eine reiche Erbin in den Wahnsinn zu treiben.

Der Abstecher nach Hause hatte höchstens eine Dreiviertelstunde gedauert. Als ich jetzt bei Tilo schellte, öffnete mir der berühmte Hendrix im Badetuch und er schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen.

»Ich möchte zu Tilo.«

»Der ist nicht da.«

»Eben war er noch da.«

»Eben noch da und jetzt nicht mehr«, belehrte er mich wie einen schlechten Schüler. »Man nennt das Weggehen.«

Wenn ich es mir recht überlegte, konnte es nicht schaden, auch mit ihm ein paar Worte zu wechseln.

»Könnte ich Sie vielleicht sprechen?«

»Sie sehen doch«, er deutete auf sein Handtuch. »Sie haben mich aus der Wanne geholt.«

»Das nicht«, zahlte ich ihm seine Schulmeisterei heim. »Ich habe geschellt, den Rest haben Sie selbst erledigt.«

»Ach, sieh an«, wunderte er sich. »Er ist nicht nur ein Privatdetektiv, sondern auch noch ein Wortklauber.«

»Es geht um einen Freund von Ihnen«, erklärte ich.

Unter uns im Treppenhaus hörte man Schritte. Der Autor von Kalte Hand im blauen Wasser fürchtete wohl, dass ihm ein Rudel Paparazzi auf der Spur war, und trat von der Tür zurück. »Also, kommen Sie schon rein.«

Diesmal brauchte ich nicht lange zu warten. Hendrix sparte sich die ausführliche Toilette und hüllte sich in einen Morgenmantel.

»Was für einen Freund?«, wollte er dann wissen. Der Ton, in dem er seine Frage stellte, schien sich eher danach zu erkundigen, wie ich darauf kam, dass er überhaupt Freunde habe. Oder es war der grundsätzliche Zweifel daran, dass wir gemeinsame Freunde haben könnten.

»Obwohl er sich mir nicht vorgestellt hat«, erklärte ich, »habe ich inzwischen herausgefunden, dass er Schrader heißt.«

Er grinste. »Haben Sie also herausgefunden. Klar, das ist Ihr Job, was? Und dieser Schrader hat Ihnen dann gleich als Erstes erzählt, dass ich ein Freund von ihm bin.«

»Sie sind schließlich nicht irgendwer«, lobte ich. »Sie sind der literarische Repräsentant der neuen Mitte und fast so bekannt wie der Bundestrainer.«

»Jetzt kommen Sie schon«, bremste er mich. »Nicht jeder, der eins meiner Bücher in seinem Regal hat, ist ein Freund von mir.«

»Aber jeder könnte einer sein, auch wenn er nicht mal ein Regal hat.«

»Ich kenne keinen Schradow.«

»Schrader. Er kannte Sie sogar beim Vornamen. Er hätte Ihnen damals irgendwelches ›Zeuch‹ gegeben, das jetzt kein Schwein mehr etwas anging.«

»Beim Vornamen.«

»Heino, ja.«

»Sehen Sie, auch Sie kennen ihn und sind nicht mein Freund.«

»Er hat ihn mir gesagt.«

»Es gibt eine Menge Heinos.«

»Ich kenne nur zwei. Dem anderen bin ich nicht in die Quere gekommen.«

»Und mir sind Sie also in die Quere gekommen?«

»Das würde ich gerne von Ihnen erfahren.«

Hendrix lachte. Er lachte eine ganze Weile und die Lacher wurden immer leiser, bis sie nur noch darin bestanden, dass er grinsend und still vor sich hin zuckte. »Mir in die Quere kommen. Wer glauben Sie eigentlich, Herr…«

»Kittel.«

»… wer Sie sind?«

»Genau der und kein anderer.«

»Hören Sie mal, wenn ich jetzt rausgehe und unterwegs auf eine Fliege trete, dann kann die sich damit trösten, dass sie mir in die Quere gekommen ist. Das macht sie irgendwie wichtiger und ihren Tod nicht so beliebig. Aber eigentlich wissen wir doch beide, dass das mit der Quere eine Übertreibung ist.«

»Soll das eine Warnung sein?«

Er zuckte wieder. Ich wartete.

»Eine Warnung. Köstlich! Das ist das Komische mit euch Kriminalfritzen, dass ihr die Welt nur durch die böse, schwarze Brille sehen könnt. Überall nur Verdächtige, Gangster, Alibis und Warnungen. Reden Sie weiter, mein Bester, nehmen Sie bloß kein Blatt vor den Mund, Sie sind bestes Romanmaterial! Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich mir ein paar Notizen mache.«

»Wenn Sie mir dafür wenigstens einen Tipp geben, was Ihr muskulöser Freund mit ›Zeuch‹ gemeint haben könnte.«

»Aber wie soll ich das denn wohl machen?« Der falsche, untröstliche Ton in seiner Stimme bewies mir, dass Hendrix sich jetzt sicher fühlte. Vorhin noch, als ich ihn aus der Wanne geholt hatte, war er verlegen und abweisend gewesen. Jetzt hatte er meine Karten gesehen und war zu dem Schluss gelangt, dass ich nichts auf der Hand hatte. Das hatte ihm seine Gelassenheit wiedergegeben.

»Kittel, Sie behaupten, dass dieser Mensch ein Freund von mir ist, nicht ich! Dann kann ich Ihnen doch auch nicht erklären, was dieser gute Mann mit seinen Andeutungen gemeint hat.«

»Sie kennen ihn also überhaupt nicht.«

Er zog auf leicht kokette Weise die Schultern hoch. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau.«

»Sie wissen es nicht?«

»Es könnte sein, dass ich ihn kenne. Aber den Namen habe ich noch nie gehört.« Sein Gesicht wurde ernst, geradezu sorgenvoll. »Es geht um Kims Vater. Also möchte ich Sie um Diskretion bitten.«

»Er ist mein Auftraggeber.«

Martens beugte sich vor und senkte seine Stimme geheimnistuerisch. »Ich weiß zufällig, dass Martens einmal Ärger mit einem Mann hatte, der gelegentlich Sachen für ihn erledigt und ihn dann erpresst hat. Er wusste, dass ich Journalist war, und hatte die merkwürdige Idee, ich sollte eine Geschichte daraus machen.«

»Wissen Sie noch, worum es dabei ging?«

»Irgendwelche Enthüllungen im Zusammenhang mit der Nordrhein-Stahl-Affäre. Es hat mich damals nicht interessiert. Ehrlich gesagt, ich hatte genug mit dem Suff zu tun.«

»Womit?«

»Der Suff ist grün wie der Morgen rot«, belehrte er mich. »Mein zweites Buch. Das war eine Menge Arbeit.«

»Dabei hat es doch Ihren Freund erwischt.«

»Meinen Freund?«

»Herrn Mölling, den Journalisten.«

»Sie meinen Marius! Tja, Freund wäre eigentlich zu viel gesagt. Er war ein Kollege, wir haben das eine oder andere Mal zusammengearbeitet. Eine tragische Sache…«

»Könnte es sein, dass dieser Schrader das Material, das er Ihnen überlassen wollte, von Mölling hatte?«

Hendrix beugte sich vor, duftete nach herbem Eau de Toilette und fuchtelte mit seinen feingliedrigen Händen. »Hören Sie, Kittel, wie schon gesagt: Das ist schon ein paar Tage her. Und ich weiß bis heute nicht, ob an der Story was dran war. Ich tue es ungern, aber ich muss diesem Menschen Recht geben. Das geht heute kein Schwein mehr etwas an.«