22

 

 

 

Sonntagmorgen, noch vor acht, riss mich das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf. Um diese Zeit konnte das nur Schlechtes bedeuten.

»Henk?«, murmelte ich schlaftrunken.

»Tut mir Leid«, sagte Mattaus Stimme. »Ich dachte, ich hätte Kittels Nummer gewählt.«

»Verdammt, hier ist Kittel. Was wollen Sie von mir?«

»Es geht um den Mord in einer Wohnung, die wir beide kennen. Ich dachte, ich sage Ihnen Bescheid. Sie sollten sich das nicht entgehen lassen.«

Ich brauchte trotzdem eine Weile, bis ich aus den Federn kam. Während ich frühstückte, hörte ich den Anrufbeantworter ab. Viermal hatte Tilo Martens versucht, mich zum Herkommen zu bewegen, weil er in seiner Wohnung eine scheußliche Entdeckung gemacht habe. Feierlich versprach er, sich diesmal nicht vom Tatort zu rühren, bis ich eingetroffen sei. Er ging sogar so weit, mir für mein Kommen das Honorar zu garantieren, was sein Vater mir verweigert hatte. Endlich hatte er es aufgegeben und die Kripo alarmiert.

Tilo Martens hatte also wieder einen neuen Toten erfunden. Wieso Mattau mir eine ausdrückliche Einladung übermittelte, war mir schleierhaft, aber offenbar zählte für ihn an einem eintönigen, grauen Sonntag wie diesem schon eine lahme Falschmeldung als Sensation. Für mich ergab sich vielleicht eine Gelegenheit, dem literarischen Repräsentanten der neuen Mitte ein paar Fragen zu stellen.

 

 

Heino Hendrix aber würde mir nicht mehr antworten.

Er lag im kalten Wasser der schwarzweißen Wanne, dem Herzstück jener Luxus-Badeanstalt, die Tilo und Kim ganz für sich allein hatten. Kopf und Schultern des zeitgenössischen Autors ragten schaumbewachsen aus dem Wasser. Friedlich und still, als handele es sich um ein grandioses Naturschauspiel, trieben Schauminseln auf der grünlichen Flüssigkeit wie Packeis im eiskalten Wasser der Beringstraße. Allerdings gab es weder Eisbären noch Pinguine, dafür aber ein überdimensional großes Gesicht, das etwa so fassungslos aussah wie das von Scott, dem britischen Polarforscher, als er nach seiner mörderischen Expedition am Nordpol die norwegische Flagge vorgefunden hatte.

»Drei Hände«, murmelte Dr. Otzenrath, der Mann von der Gerichtsmedizin, und kämpfte sich mühsam aus der Hocke auf die Beine. »Dat is eine zu viel. So viel kann ich jetzt schon sagen.«

»Ich brauche aber die Todesursache«, forderte Mattau, der bei dem schwarzen Waschbecken lehnte und die Krümel seines Butterbrotes hineinfallen ließ.

»Ich tippe auf Herzversagen«, sagte Otzenrath. »Aber Genaueres gibt es erst nach der Obduktion.«

Mattau hatte mich bemerkt und deutete mit seinem Butterbrot auf die Badewanne. »Tja, da staunen Sie, Kittel. Endlich haben wir hier mal eine Leiche.«

Tilo hockte mit einem Glas Wasser in seinem Schlafzimmer auf dem Bett. Er sah bleich und erschöpft aus, aber er hielt den Kopf hoch erhoben. Endlich stand er nicht als Spinner da.

»Hallo, Kittel«, sagte er und prostete mir mit seinem Wasser zu, als sei das hier eine Party, zu der ich verspätet erschienen war.

»So etwas hatten wir bisher noch nicht.« Der Kommissar stieß sich von der Wand ab und kam zu mir herüber. Sein Butterbrot war mit einer stark knoblauchhaltigen Salami belegt. »Wir hatten ganze Tote, halbe und manchmal nur einzelne Teile. Scheußlich anzusehen. Aber hier ist eins zu viel.«

»Haben Sie schon eine Idee, was sich abgespielt haben könnte?«, erkundigte ich mich.

»Der Mann hat gebadet. Alles war so, wie es sein sollte. Und dann fiel plötzlich dieses Ding ins Wasser.« Mattau deutete auf etwas grau Schimmerndes, das auf der Fensterbank direkt über der Wanne lag. Eine menschliche Hand mit Handgelenk, in deren Handfläche sich Kabel wanden. Die Hand eines Elektrikers.

»Wenn Sie mich fragen, ist das eindeutig. Mehr als eindeutig sogar. Denn dass Hendrix Dreihänder war, können wir ja wohl ausschließen.« Er sprach mit vollem Mund. »Sehen Sie diese Apparatur? Die hat dafür gesorgt, dass sich die Hand bewegt. Wahrscheinlich funktioniert das mit Fernbedienung.«

»Aber warum sollte sich die Hand bewegen?«

»Ist doch klar, damit Hendrix sich erschreckte. Und das hat ja auch geklappt. Möglich, dass auch Stromschlag die Todesursache war, hervorgerufen durch diesen Mechanismus.«

Ich pfiff durch die Zähne. »Kalte Hand im blauen Wasser. Hendrix war ein Prophet. Ein Autor mit Sehergabe. Das hat es seit Nostradamus nicht mehr gegeben.«

»Eine normale Fernbedienung reicht nicht besonders weit. Also können wir davon ausgehen, dass der Mörder in der Nähe war.«

»Was ist mit seiner Angebeteten, Kim Martens?«

»Sie hat noch keine Ahnung. Heute bestreitet sie ein wichtiges Turnier in München und kommt morgen erst zurück. Das heißt, falls sie ins Endspiel kommt, erst übermorgen. Wenn sie vorher was läuten hört, kann sie den Sieg vergessen. Und das wollen wir doch nicht riskieren, oder?«

Der Schaum in der Badewanne fiel immer mehr in sich zusammen und erinnerte nicht länger an Packeis. Größer und größer wurde die grüne Wasserfläche, während sich die schrumpfenden Bläschenteppiche verzweifelt zu Inseln zusammenschlossen. Aber ihr Kampf gegen das kalte, grüne Wasser war aussichtslos.

»Die Frage ist«, sagte Mattau, »ob er Feinde hatte.«

»Er war unbequem, das konnte man überall lesen. Ich wusste nicht, dass er so unbequem war.«

»Außerdem ist zu fragen, ob jemand von seinem Tod profitiert.«

»Beispielsweise sein Verlag. Ein toter Autor vermarktet sich bekanntlich besser als ein lebender. Außerdem gibt es noch Biographie, Nachruf und jede Menge betroffener Aufsätze. Dann die Dokumentarfilme über seine Geburtsstadt und Interviews mit all den Leuten, die ihn als Kind gekannt haben…«

»Ja, ja«, sagte der Kommissar, wenig aufgeheitert. »Aber so kommen wir nicht weiter. Freitag erst dieser Schrader und heute der, das ist der Punkt.« Mattau kraulte sein schwammiges Kinn. »Die Morde stehen möglicherweise in einem Zusammenhang. Irgendjemand ist sehr interessiert daran, dass die beiden etwas nicht mehr ausplaudern konnten.«

»Haben Sie etwas über Schrader herausgefunden?«

Mattau glotzte mich verständnislos an. »Seit vorgestern? Für wen halten Sie uns, Kittel? Für die GSG 9?«

»Nein«, sagte ich. »Die verbringen ihre Nächte im Mannschaftswagen, ständig bereit in Kampfmontur und mit der Automatikpistole im Anschlag, und machen keine Tour durch die Kneipen bis morgens um neun.«

Er zupfte an einem einzelnen Haar, das ihm am Kinn wuchs. »Also dieser Schrader war ein kleiner Gauner, der von der Hand in den Mund lebte. Keine Ahnung, in welcher Beziehung er zu Hendrix stand.«

»Sie kannten sich von früher. Aus einer Therapiegruppe.«

»Heino wurde erpresst«, sagte Tilo, der vom Bett aufgestanden und zu uns herübergekommen war. »Endlich wird mir klar, dass es die ganze Zeit nur um ihn ging. All diese Toten in der Wohnung, das waren nur Attrappen und sie waren auf ihn gemünzt. Der Erpresser wollte klarmachen, dass er es ernst meinte, aber Heino hat sich nicht drum geschert. Das hat er jetzt davon.«

»Aber es ergibt keinen Sinn«, winkte Mattau ab. »Kein Erpresser ermordet sein Opfer, das weiß doch jeder. Das ist ja so, als beiße er die Hand ab, die ihn füttert.«

Wir starrten auf das Ding auf der Fensterbank. Bis auf den Kommissar, der von seinem Brot abbiss.

»Entschuldigung«, sagte er kauend.

»Wie kommst du darauf, dass er erpresst wurde?«, fragte ich.

»Das ist jetzt schon eine Weile her. Ich habe ihn und Kim nicht belauscht. Aber die beiden haben Stunden in dieser Badewanne verbracht. Jedes Wort hallte laut und deutlich. Ich konnte nicht anders als zuhören. Heino hat gesagt, dass jemand immer zudringlicher würde und dass es allmählich zu viel des Guten sei. Einmal hat er telefoniert und jemandem gesagt, dass er sich sein Lügengeld woanders besorgen sollte. Jemanden, den er als ›blutige Hand des Kapitals‹ bezeichnete.«

»Die blutige Hand?« Mattau kratzte sich und auf den gefliesten Boden regnete eine Mischung aus Schuppen und Brotkrümel.

»Ich hatte das längst vergessen. Erst als ich dieses – Ding da in der Badewanne fand, da fiel es mir wieder ein…«

Die emsige Schar der Spurensicherer hatte ihre Arbeit beendet. Ich fragte mich, wieso sie hier aufgeräumt hatten, während sie bei mir aus demselben Anlass ein Chaos angerichtet hatten, für dessen Beseitigung ich Monate brauchen würde. Einer der Beamten nahm vor Mattau Aufstellung.

»Also, das war’s, Chef. Wir verdrücken uns dann mal.«

Der Kommissar beugte sich weit vor und warf einen skeptischen Blick in die Wanne. Den armen Hendrix hatte man schon abtransportiert.

»Das war’s?«, hielt er seinen Untergebenen zurück, der schon auf dem Weg nach draußen war. »Ihr habt ja nicht mal das Wasser herausgelassen.«

 

 

Als ich zehn Minuten später bei einem riskanten Überholmanöver auf der Rheinuferstraße in den Rückspiegel sah, bemerkte ich eine dunkle Gestalt auf dem Rücksitz. Unwillkürlich stieg ich auf die Bremse und es war mein Glück, dass der Wagen hinter mir gute Bremsen hatte. Ich machte einen Schlenker und kam am Straßenrand zum Stehen.

»Verdammt noch mal, Henk!«, beschwerte ich mich. »Ich kenne die Typen, die du am Hals hast. Aber das ist noch lange kein Grund, sich wie ein international gejagter Doppelagent aufzuführen.«

Ein Feuerzeug klickte und Henk qualmte. »Du hast ja keine Ahnung. Ich dachte auch, ich riskier’s einfach. Bin nach Hause gegangen. Und was ich da gefunden habe, das…«

»Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Ich war auch da.«

»Diese Schweine! Wenn ich die zu fassen kriege.« Ich setzte den Blinker und fädelte den Wagen wieder ein. Keiner von uns sagte etwas und ich konzentrierte mich auf den Straßenverkehr.

»Nicht mehrere«, erklärte ich schließlich. »Eins. Und es heißt Babsi.«

Eine Extraportion Qualm nebelte mich ein. Ich hustete.

»Ein schlechter Scherz«, sagte Henk.

»Kein Scherz. Sie war das. Sie hat deine stummen, glitschigen Freunde auf dem Gewissen.«

Eigentlich war mir klar, dass er das nicht so einfach verdauen würde. Er brauchte Zeit, aber die hatten wir nicht.

»Hör schon auf damit, Kittel«, befahl er. »Das ist billig. Ich könnte fast denken, dass du eifersüchtig bist, wenn wir beide nicht…«

»Erwachsene Menschen wären. Stimmt. Das sagt sie auch immer.«

»Schon verstanden, Kittel. Halt an.«

»Was?«

»Da vorne. Lass mich raus.«

»Frag sie doch, wenn du mir nicht glaubst!«

»Das werde ich tun, verlass dich drauf.«