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Die Zeit meiner Krankheit war zu Ende gegangen. Am Dienstag stand ich wieder im Buchhaus Zeltinger und spielte den Ladendetektiv. Lämmerhirt, mein Chef, war nicht im Haus, er redete auf einer Geschäftsführertagung in Bad Neuenahr zum Thema Was nicht zählt, zählt – die metaphysische Dimension der Sparsamkeit. Auch die Kunden waren nicht im Haus, sie hatten sich entschlossen, angesichts des unfreundlichen Wetters nicht vor die Türe zu gehen und ihr Buch lieber noch einmal zu lesen, als sich ein zweites zuzulegen. Also war außer mir nur Olga Öllisch im Laden, wie ich allein vom materiellen Zwang dazu getrieben, zwischen den muffigen Regalen umherzustöbern.

»Kennst du eigentlich einen Heino Hendrix?«, fragte ich Olga.

Ihr Kopf tauchte hinter einem gewaltigen Stapel Remittenden hervor. »Was willst du hören, Kittel: Soll ich jetzt mit bebender Stimme flüstern: den Heino Hendrix?«

»Also kennst du ihn nicht. Habe ich mir schon gedacht. Ein Angeber.«

Sie musterte mich kritisch und ihre buschigen Brauen bewegten sich aufeinander zu wie zwei Raupen, die sich etwas zuflüsterten. »Soll das ein Witz sein? Jeder kennt ihn.«

»Ich nicht.«

»Du kennst doch nie jemanden.«

»Und was schreibt der Mann so?«

Olga verlies ihre Remittenden-Burg, trat an ein Regal und suchte mir zwei Bücher heraus. Schnauze voll – ein ungeschminktes Lippenbekenntnis und Der Suff ist grün wie der Morgen rot.

Ich hielt Schnauze voll hoch. »Ist das gut?«

»Das ist nicht nur gut. Das ist Spitzenklasse.«

»Hast du es gelesen?«

»Nee, das nicht gerade.«

»Also du kennst es nicht und findest es deshalb gut. Tolle Empfehlung.«

Die dunklen Raupen wanden sich entrüstet. »Mensch, Kittel, das Buch hatte sagenhafte Besprechungen. Beide Titel laufen wie warme Brötchen. Die Fernsehsender reißen sich um den Mann, seitdem das Literarische Quartett ihn zu einer Offenbarung erklärt hat.«

»Tut mir Leid, Kartenspiel ist nicht mein Ding.«

Olga sah mich krumm an. Dann zog sie einen Prospekt unter dem Tresen hervor und las laut: »›Hendrix ist der Vertreter einer neuen, deutschen Gegenwarts-Prosa, die bissig ist, unhandlich und doch immer lyrisch und verträumt. Er macht es einem nicht gerade leicht, aber genau dafür ist man ihm dankbar. Mit seiner knappen, unprätentiösen Erzählweise, die gleichzeitig facettenreich und spielerisch ist wie eine Mischung aus Thomas Mann und Franz Beckenbauer, spricht der Autor die Sprache der neuen deutschen Mitte. Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen kann.‹ So die Kritiker.«

»Alle Achtung«, gab ich zu. »Das hätte ich dem Mann nicht zugetraut.«

»Sag bloß nicht, du kennst ihn persönlich.«

»Wie du schon sagtest, ich kenne nie jemanden. Aber ich habe ihn gesehen, sogar ungeschminkt. Nicht gerade ein Aushängeschild für die neue deutsche Mitte.«

»Hast du ihn im Schlaf ermordet oder was?«

»Außerdem ist es gar nicht schwer, ein Buch aus der Hand zu legen. Nach meiner Erfahrung eine der leichtesten Sachen, die es gibt. Wer damit Schwierigkeiten hat, sollte sich fragen, ob Lesen das Richtige für ihn ist.«

»Der einzige Weg, sich ein Urteil zu bilden, ist immer noch, das Buch zu lesen.«

»Das kann ich nur zurückgeben.«

Ich fand noch ein drittes Buch, mit dem Titel: Zu tot zum Schlafen. Das einzige, was mich einigermaßen interessierte. In der Mittagspause schmökerte ich ein bisschen darin herum.

Eine blutjunge, bildschöne Frau wurde von ihrem Ehemann terrorisiert, weil sie eine Millionenerbin war. Um an das Geld heranzukommen, wandte er alle möglichen Tricks an, um sie, die immer schon nervös und ängstlich gewesen war, so weit zu bringen, dass sie entweder Selbstmord beging oder freiwillig um Entmündigung und die Einweisung in eine Klinik bat. Unter anderem erfand er Gangster, die angeblich hinter ihm her waren, rief ständig anonym an und inszenierte seine eigene Ermordung. Natürlich kam er damit am Ende nicht durch.

»Hast du dir ein Urteil gebildet?«, fragte mich Olga, die mich mit dem Buch aus der Pause kommen sah.

»Das hier ist gar nicht mal schlecht«, lobte ich und gab ihr das Buch zurück. »Kannst du weiterempfehlen.«

»Mach ich.« Sie warf einen kurzen Blick darauf. »Nur, dass es nicht von Hendrix ist.«

»Nicht?«

»Es stammt von Sally Henreid, falls du noch lesen kannst. Du bist im Alphabet zu weit gerutscht.«

»Haben Sie vielleicht etwas über einen Reporter, der seine unbestechliche Liebe zur Wahrheit mit dem Tod bezahlen muss?«, fragte jemand hinter uns. Melanie Storck in ihrem Regenbogenpulli.

»Davon gibt’s haufenweise«, sagte ich.

»Zum Beispiel«, fiel Olga ein, »das über die Washington Post und den Watergate-Skandal.«

»Aber das musste niemand mit dem Tod bezahlen«, widersprach Melanie.

»Das nicht. Aber dafür brauchen Sie das Buch auch nicht mit dem Tod zu bezahlen«, grinste ich. »Wir akzeptieren Bargeld.«

»Ich wollte Sie sprechen«, erklärte sie.

Ich lächelte bedauernd. »Tut mir Leid, aber ich stecke hier mitten in Arbeit.«

Sie ließ ihren skeptisch-kritischen Blick, der ihr in den Aktionsgruppen und politischen Seminaren alle Ehre gemacht hatte, durch die Buchhandlung streifen. »Arbeit?«, fragte sie mit dem überheblichen Zweifel der angehenden Intellektuellen.

»Allerdings. Wie Sie treffend bemerkten, bin ich ein Kurzhaardackel, der auf der falschen Seite steht.«

»Das habe ich nicht so gemeint.«

»Also, worum geht’s? Haben Sie die WG-Kasse geplündert und wollen mich engagieren? Falls Sie Lektüre brauchen, ich könnte Ihnen Wer fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann? empfehlen.«

»Nein, danke.«

»Mein Klient hat mich beauftragt, Sie in aller Form zu ersuchen, den Psychoterror einzustellen.«

»Wovon reden Sie überhaupt?«

»Wenn ich ihm melden kann, dass Sie einverstanden sind, kassiere ich ein Traumhonorar. Und wenn ich das erst mal habe, könnte ich Ihnen preislich entgegenkommen…«

Melanie lachte abfällig. »Die Wahrheit ist nicht käuflich«, verkündete sie. »Ich kann Ihnen kein Traumhonorar zahlen, dafür können Sie das machen, wofür Sie angetreten sind: etwas herauszufinden statt etwas zu vertuschen.«

»Ich bin überhaupt nicht angetreten.«

Sie öffnete ihre Umhängetasche, nahm zwei Papierblätter heraus und reichte sie mir wortlos.

Es war die Fotokopie eines Computerausdrucks.

Die blutige Hand des Kapitals war die Überschrift. Ich überflog die ersten Zeilen und erfuhr, dass es um einen Mord ging, den die Polizei – als Handlangerin einer skrupellosen Konzernspitze – in einen harmlosen Selbstmord umbenennen wollte. Einen stinknormalen, wie Martens sich ausgedrückt hatte.

»Das ist also die Geschichte, an der Ihr Freund arbeitete?«

»Marius hat diesen Artikel nicht mehr fertig gestellt. Seine Ermordung kam dazwischen.«

»Er behauptet, dass Theuerzeit umgebracht wurde. Die Polizei sagt etwas anderes.«

»Die macht sich die Sache auch einfach. Als herauskam, dass Theuerzeit unterschlagen hatte, war es für sie ausgemacht, dass er sich das Leben genommen hat, weil er glaubte, dass sie ans Licht kommen würde.«

Ein lauter Rülpser von einem der benachbarten Regale verriet einen Kunden, der ansonsten völlig geräuschlos den Laden betreten und sich an den Buchrücken entlang auf uns zu bewegt hatte.

Ich senkte meine Stimme. »Welche Beweise hatte er dafür, dass Theuerzeit ermordet wurde? Und das auch noch von Martens?«

»Er hatte Beweise, sonst wäre er nicht umgebracht worden.«

»Also ich finde, Sie sind diejenige, die sich die Sache einfach macht.«

»Natürlich ist Ihr Guido Martens nicht einer von der Sorte, der sich die Hände schmutzig macht. Er hat einen Mann fürs Grobe. Mich hat er auch schon belästigt.«

»Wann war das?«

»Nachdem die Polizei Marius’ Wohnung freigegeben hatte, hat er mir aufgelauert. Ich habe trotzdem diesen Artikel in Sicherheit bringen können.«

»Aufgelauert? Was heißt das?«

»Er hat mich von hinten gepackt und verlangt, dass ich das herausrückte, was ich gefunden hatte.«

»Aber Sie haben sich geweigert?«

»Ich habe behauptet, nichts gefunden zu haben. Und er hat mir das sogar abgekauft.«

»Wie sah der Mann aus?«

»Woher soll ich das wissen?« Melanie hob ihre Stimme an. »Er war hinter mir. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er einen starken Schweißgeruch hatte.«

»Das haben viele.«

Der Kunde drehte sich zu uns um und warf uns einen finsteren Blick zu. Offenbar argwöhnte er, dass wir über ihn sprachen.

»Wie gut kannten Sie Marius Mölling?«

»Wie gut?« Melanie legte den Kopf schief. »Was soll das heißen? Ich war mit ihm zusammen.«

»Also sehr gut. Wissen Sie zufällig etwas darüber, dass er mehr Geld ausgab, als er hatte? Oder dass er Leute erpresst hat?«

»Was…« Sie fand keine Worte, vergaß sogar, den Mund zu schließen. Sie holte Luft, um mich anzubrüllen, und ich überlegte, wie ich das Olga erklären würde.

»Wer behauptet das?«, fragte sie schließlich leise und gefasst.

Ich versuchte, so leichtfertig wie möglich zu klingen. »Niemand«, sagte ich. »Es war nur eine Frage…«

»Er war’s.«

»Wer?«

»Dieser – Verbrecher, dem es nicht genügt, einen umzubringen, er muss ihn danach auch noch mit Dreck bewerfen. Martens, dieser…«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihm glaube«, versuchte ich sie zu beruhigen.

Zu spät.

»Wie konnte ich mir nur einbilden, ich könnte Sie umstimmen!«, donnerte sie, dass es zwischen den Regalen widerhallte und die breite Glasscheibe des Schaufensters bedrohlich erzitterte. »Ein Privatdetektiv, dem die Wahrheit schnurz ist, weil er sich an den Meistbietenden verhökert. Machen Sie nur weiter so! Helfen Sie diesem Mörder, seine blutigen Hände rein zu waschen und das Schmutzwasser über andere auszukippen!«

Sie machte auf dem Absatz kehrt, stampfte an dem rülpsenden Kunden vorbei, der so weit vor ihr zurückwich, dass er einen Abdruck seines Körpers im Bücherregal hinterließ, und stoppte bei Olga, die die Szene von ihrem Schreibtisch aus verfolgt hatte.

»Ein toller Laden ist das hier«, lobte Melanie Storck schnaufend. »Wirklich, ein toller Laden.« Sie nahm Kurs auf den Ausgang. »Aber eine Scheißbedienung!«

Kalte Luft wehte durch die Tür herein, die die Storck weit offen stehen ließ.

»Eine Bekannte von dir?«, fragte Olga.

»Mein Klient will, dass ich ihr das Handwerk lege«, erklärte ich. »Und sie will, dass ich ihm das Handwerk lege.«

»Das ist mir zu hoch.«

»Es wäre mehr als einfach, wenn du nur auf der richtigen Seite stehen würdest«, verkündete ich.