17

 

 

 

Galilei hatte sich geirrt. Die Welt war keine Kugel, sondern eine Scheibe mit zwei Seiten und es war relativ einfach, die richtige herauszufinden. Wenn man auf der falschen stand, hing man mit dem Kopf nach unten und das war auf die Dauer ziemlich anstrengend.

Ich wollte das vielleicht nicht wahrhaben, aber Melanie Storck hatte sich längst damit abgefunden. Sie brauchte keine Beweise. Martens war einer von denen mit dem Kopf nach unten und das bedeutete für sie, dass er Dreck am Stecken hatte. So einfach war das.

Und sie hatte Recht.

Mattaus Anruf erwischte mich, gerade bevor ich gehen wollte, um Henk im La Mancha zu treffen.

»Ich habe vergessen, Sie was zu fragen, Kittel.«

»Was ist mit dem Beweisstück?«, wollte ich wissen.

»Fehlanzeige. Ein künstlicher Nagel. Nichts Außergewöhnliches. Gehört mit ziemlicher Sicherheit Kim Martens. Sie hat noch mehr davon.«

»Auch schwarze?«

»Ein paar. Die meisten sind brombeerfarben.«

»Was wollten Sie von mir wissen?«

»Es geht um Martens. Mich würde interessieren, ob Sie was über ihn rausgekriegt haben oder nicht.«

»Eigentlich ist er ein netter Kerl.«

»Ich meine seinen Vater«, widersprach Mattau. »Er ist doch Ihr Klient.«

»War. Die Sache ist so weit erledigt. Ich werde mein Mandat niederlegen.«

»Sind Sie neuerdings unter die Anwälte gegangen?«

»Morgen hole ich mir den Rest meines Honorars und mache daraus eine großzügige Spende für die Aktionsgruppe Mölling.«

»Also dann, Kittel, bis morgen.«

»Wieso denn das?«

 

 

Das La Mancha gehörte zu den Restaurants, die völlig unabhängig von Wetter und Jahreszeit über eine sommerliche Atmosphäre verfügten. Es gab künstliche, grüne Girlanden mit Plastikweintrauben an der Decke und ein überladenes Wandgemälde, das einen Sonnenuntergang auf der Ägäis zeigte, eine Bucht mit weißen Bimssteinhäuschen und schnuckeligen Fischerbooten, die Kostas hießen und Alexis. Jiorgos, der Wirt, hatte die Heizung voll aufgedreht. Man brauchte also nur die Augen zu schließen und für ein paar Minuten den endlosen Bouzouki aus der Box hinter dem Plastikgebüsch einwirken zu lassen. Dann öffnete man die Augen vorsichtig wieder und konzentrierte sich bei einem oder zwei Ouzo auf den kitschigen Fischerhafen mit den Netze flickenden, grinsenden Fischern und den üppigen Fischerfrauen. Wenn das klappte, konnte man den Herbst vergessen.

Henk hatte sich nicht auf eine Zeit festgelegt, also war ich schon gegen halb sechs da.

»Heute schon so früh«, wunderte sich Jiorgos. »Da muss ich mir wohl Sorgen machen, oder?«

»Was ich dich schon immer fragen wollte«, sagte ich. »Sind die bei euch zu Hause eigentlich wirklich so?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, tragen sie alle diese merkwürdigen weiten Hosen und flicken Netze, tanzen und lachen? Das ist doch langweilig auf die Dauer.«

Jiorgos zuckte mit den Schultern und seufzte. »Den Touristen gefällt’s.«

»Und deshalb macht ihr, was sie wollen?«

»Nicht immer. Ein paar Jahre noch, bis das Geld reicht.« Jiorgos zog eine furchtbare Grimasse. »Eines Tages nehmen wir ihnen ihre Handys ab und ihre Visacards. Und dann schmeißen wir sie mitsamt ihren bunten Luftmatratzen ins Meer.«

Ich wartete noch eine Stunde und legte noch eine drauf. Inzwischen war das La Mancha voll besetzt. Ich hatte gegessen, getrunken und Henk tauchte nicht auf.

Es kamen immer noch mehr Gäste, Pärchen und kleine Gruppen. Sie sahen sich nach einem freien Tisch um, manche warteten sogar eine Weile an der Bar, schließlich gaben sie es auf und verschwanden wieder. Eine einzelne Frau hatte keine Lust beizudrehen und kam direkt auf meinen Tisch zu. Sie deutete auf den freien Stuhl mir gegenüber.

»Von mir aus«, murmelte ich wenig begeistert. »Ich bin eh so gut wie weg…«

Die Frau war nicht gerade mein Typ. Pummelig, abstehende Ohren und Bartwuchs. Schreiend greller Lippenstift. Ihr Parfüm hatte den Charme von Mottenkugeln und Altkleidersammlungen.

»Gut, dass du gekommen bist«, sagte sie und nahm die dunkle Brille ab.

»Du bist das?«, fragte ich blöde.

»Was dachtest du denn?«, ärgerte sich Henk. »Die heilige Jungfrau von Orleans?«

»Vielleicht solltest du das lieber lassen. Die Maskerade, meine ich. Du erregst unnötiges Aufsehen.«

»Mach dich nur lustig, Kittel. Aber mir ist nicht nach Scherzen. Die Sache ist verdammt ernst.«

»Ich scherze keineswegs«, widersprach ich. »Immerhin musste ich schon für dich den Kopf hinhalten. Weißt du, wer das hier war?« Ich reckte den Hals, um ihm eine meiner Verletzungen zu zeigen, aber er sah nicht mal hin. »Das waren deine Gorillas.«

Henk beugte sich vor. »Meine Gorillas?«, schnaubte er wütend. »Diese Leute sind hinter mir her, Kittel. Das sind echte Profis, die Ernst machen, keine von den kriminell veranlagten Jecken, mit denen wir es sonst zu tun haben. Ehrlich, ich weiß nicht weiter. Soll ich vielleicht mein Leben lang in diesen Klamotten herumlaufen? Wir müssen uns was überlegen.«

»Wir müssen? Ich weiß doch nicht mal, was überhaupt vorgeht.«

»Natürlich, Kittel. Wie immer.« Hektisch drehte er sich eine Zigarette. Obwohl er das unzählige Male am Tag machte, wollte sie ihm nicht gelingen. Das Papierrohr geriet schlaff und sah aus wie ein schlechter feministischer Witz, aus dem zu beiden Seiten Tabakbüschel heraushingen. Noch bevor die Spucke getrocknet war, zündete er ein Ende an. Eine Stichflamme züngelte bis zu seiner Nasenspitze, dann segelte ein rot glühender Ball auf den Tisch und hinterließ einen schwarzen Fleck. »Scheiße!«

Jiorgos hatte sich den falschen Moment ausgesucht, um die Bestellung entgegenzunehmen.

»Darf ich deiner Bekannten etwas bringen?«, erkundigte er sich grinsend bei mir.

»Verdammt, spar dir deine blöden Witze wenigstens heute Abend!«, blaffte ihn Henk an. »Und dann bringst du mir ein großes Kölsch!«

»Am Telefon erwähntest du etwas von einer Frau, der du vertraut hast«, sagte ich, während sich Jiorgos gekränkt zurückzog.

»Ariana di Maggi. Sieht toll aus, aber sie ist eine Schlange. Von Anfang an brauchte sie nur einen Blödmann zum Über-den-Tisch-Ziehen.«

»Und den hast du für sie gespielt.«

»Wir haben uns beim Joggen kennen gelernt. Und da hat’s bei mir gefunkt. Ich musste sie einfach haben.«

»Du musstest.«

»Ja, aber das war ihre Masche, verstehst du! Sie hat ihrem Typen, einem halbseidenen Bordellbesitzer mit Yacht und Haus am Mittelmeer, einen riesigen Batzen Geld abgeknöpft. Und mir hat sie das in die Schuhe geschoben.«

Henk machte eine Pause und betrachtete seinen qualmenden Papierschlauch, der mit rotem Lippenstift verschmiert war.

»Und dann?«, fragte ich.

»Dann? Was meinst du? Das war’s schon!«

»Ich denke, ihr habt in Italien Urlaub gemacht und…«

»Dachte ich auch! Aber das gehörte nur zu ihrem Plan. So hat sie ihren Milano weich gekocht und gleichzeitig richtig auf achtzig gebracht. Als sie reumütig wieder bei ihm aufkreuzte, war er im siebten Himmel. Und als sie ihn darüber informierte, dass ich nur auf die Moneten scharf gewesen sei und damit jetzt über alle Berge, da hat er sein Handy genommen und seine gesamte Totschläger-Armee in Marsch gesetzt.«

Jiorgos brachte das Kölsch. Henk tauchte seine Oberlippe hinein und färbte die Schaumkrone rötlich.

»Wenn wir jetzt in einem billigen Film wären«, belehrte ich ihn, »würde ich sagen: Das kommt davon, wenn man nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Schwanz denkt.«

»Spar dir deine Sprüche.«

»Wie kann ich dir also helfen?«

Henk gab seine Zigarette auf, ließ das, was von ihr übrig war, in den Aschenbecher fallen und goss Bier darüber. Es zischte.

»Ich muss untertauchen«, sagte er. »Irgendwo, wo ich Zeit und Ruhe genug habe, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Dann überlege ich mir was.«

»Hattest du dabei an einen bestimmten Ort gedacht?«

»Das nicht«, sagte er schulterzuckend. »Vielleicht gehen wir ins Ausland. Ich…«

»Moment mal«, meldete ich mich. »Bevor du da konkreter wirst, habe ich vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden. Sonst sind wir nämlich eher pleite, als wir denken.«

»Warum?«, fragte er verwundert. »Warum willst du mitreden?«

»Wenn wir beide uns irgendwohin verkrümeln, dann…«

»Wir beide doch nicht! Ich kann niemanden brauchen, der mir Gardinenpredigten hält. Mein Herz ist gebrochen, Kittel, und ich brauche jemanden, der es wieder zusammenflickt. Mit Geduld und Wärme. Jemanden wie Babsi.«

Ich schluckte. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Sie ist die Einzige, der ich vertrauen kann.«

»Vielen Dank, Henk.«

Er nahm einen tiefen, nicht enden wollenden Schluck aus seinem Glas. Dann sah er mich mit einem Blick an, in dem sich alle Wünsche und Hoffnungen seines Lebens versammelt hatten. Wünsche und Hoffnungen, die enttäuscht worden waren. »Babsi ist anders als andere Frauen«, versicherte er schwärmerisch, aber ohne Illusionen. »Und ich Idiot habe sie mir leichtfertig verscherzt.«

»Aber Henk. Jetzt siehst du das so. Schon morgen bist du drüber weg. Dann sieht alles anders aus. Du wirst feststellen, jede Frau ist anders. Nicht nur Babsi.«

»Sie sehen vielleicht anders aus«, widersprach er kopfschüttelnd. »Aber sie sind gleich. Bis auf Babsi. Sie nicht.«

»Nein«, beharrte ich, ungewohnt energisch. »Es ist genau umgekehrt.«

»Was zum Teufel meinst du damit, es ist umgekehrt?«

»Bei ihr ist es anders.«

»Was denn?«

»Sie ist gleich. Die anderen Frauen sind anders.«

»Du spinnst. Du kennst Babsi nicht.«

»Ein bisschen schon.«

»Du kennst sie nicht. Du kannst nicht wissen, was für eine Klassefrau das ist. Glaub mir, Kittel, du kannst das nicht beurteilen. Wenn ich dir sage…«

»Und wieso nicht?«, fragte ich trotzig.

Henks Gesicht tauchte langsam aus dem Bierglas auf, während er es leerte. Das verbrauchte Gesicht einer Frau, die ihre besten Jahre hinter sich hatte oder vielleicht nie welche gehabt hatte. Und doch kannte sie sich, was Männer anging, aus. »Wieso wohl?«, brummte er. »Du warst noch nie mit ihr im Bett, oder?«