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In der Nacht fand ich keinen Schlaf. Die beiden Kerle hatten mir die Schulter verrenkt und es gab keine Stellung, in der ich schmerzlos schlafen konnte.

Mir kam der beunruhigende Gedanke, dass ich mich gar nicht geirrt hatte, als ich vor einer Woche vergeblich auf Henks Rückkehr gewartet hatte. Es war eine Ewigkeit her, dass er mich darum gebeten hatte, ihn zum Flughafen zu bringen, aber in letzter Minute war eine seiner alten Verehrerinnen eingesprungen. Und vor einer Ewigkeit war länger als drei Wochen her.

Es gab zwei Möglichkeiten. Erstens: Die Killer hatten ihn schon erwischt. Das bedeutete, dass der schlimmste Fall eingetreten war, aber auch, dass ich mich nicht mehr zu beeilen brauchte. Zweitens: Henk war untergetaucht.

Ich war sauer auf ihn. Er hatte mit seinem albernen Kinderspielzeug mein Leben gefährdet. Ich hatte für ihn den Kopf hingehalten und er ließ nichts von sich hören.

Was auch immer vorging, ich hielt es für angebracht, objektiv vorzugehen. Diese Leute mochten wie brutale Schläger aussehen, aber man durfte sich nicht zu sehr von Äußerlichkeiten leiten lassen. Sie waren unhöflich gewesen. Aber was, wenn sie Grund dazu gehabt hatten? Ich wusste schließlich nicht, was mein Partner angestellt hatte.

Dummerweise wollte mir nicht mehr einfallen, wo er seinen Urlaub verbracht hatte. Er hatte tatsächlich Neapel erwähnt, aber damit konnte er auch die Pizzeria um die Ecke gemeint haben. Henk war nie ein Italienfan gewesen, deshalb hielt ich es für unwahrscheinlich, dass er wirklich dorthin gereist war.

»In Landhäusern teuere Weine schlürfen und Abendlicht auf sanften Hügeln betrachten, das ist was für gut betuchte Rentner«, hatte er neulich noch abfällig erklärt. »Glücklicherweise gibt es noch ein paar spannendere Dinge im Leben als Essen und Trinken.«

Niemand fuhr in Urlaub, ohne Spuren zu hinterlassen. Es gab Reiseprospekte, Broschüren mit praktischen Tipps für die Fahrt und bunte Faltblätter mit Sprachführern, mit denen man sich am Urlaubsort blamierte. Vor allem aber gab es meistens jemanden, der vor der Abreise den Touristen zuletzt gesehen hatte.

Barbara Bonnek war Pathologin aus Leidenschaft. Seit einigen Jahren arbeitete sie an einer Studie über Serientäter, die sich in die Länge zog, weil die Killer gefasst wurden, noch bevor sie eine Serie zusammen hatten, oder von selbst aufhörten mit dem Morden. Henk kannte sie durch einen seiner Fälle, der in seinem Büro begonnen und in der Gerichtsmedizin geendet hatte.

»Ja?«, meldete sie sich am Telefon mit einer Stimme, die so kühl klang wie die gekachelten Räumlichkeiten der Gerichtsmedizin.

»Babsi? – Hier ist Bernie. Bernie Kittel…«

»Kittel! Hör mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Deswegen rufe ich nicht an. Es geht um Henk.«

Ihr Räuspern ließ mich frösteln. »Und ich dachte«, sagte sie, »es sei etwas Wichtiges.«

»Genau gesagt, um seinen Urlaub. Weißt du, wo er hin ist?«

»Süditalien. Keine Ahnung, wohin genau. Es war ein Rouletteangebot.«

»Roulette?«

»Das heißt, du zahlst weniger, aber dafür stecken die dich in ein Hotel, wo freiwillig niemand wohnen will.«

»Und du hast ihn zum Flughafen gebracht?«

»Wen interessiert das jetzt noch? Inzwischen ist er doch längst zurück.«

»Weißt du das zuverlässig? Ich meine, hast du ihn wieder abgeholt?«

»Nein. Wir sind erwachsene Menschen. Er hat sein Leben, ich meines.«

»Stimmt«, bestätigte ich. »Aber was hat das damit zu tun, ob du ihn vom Flughafen abgeholt hast oder nicht?«

»Zufällig weiß ich, dass er eine Tussi hat.«

Das also war der Grund für die Eiszapfen in ihrer Stimme. Ebenso dafür, dass Henk und Babsi sich in den letzten zwei Jahren bereits fünfmal getrennt hatten. Wo andere Gespenster sahen, sah Babsi Tussis.

»Weißt du zufällig, wer…«

»Ist seine Sache. Er kann schließlich machen, was er will.«

Damit legte sie auf.

Es gehörte zu meinem Job, Leute ausfindig zu machen, aber in diesem Fall standen meine Chancen nicht besonders gut. Angenommen, Henk wusste, dass die Totschläger hinter ihm her waren, dann würde er lieber den Teufel tun, als sich irgendwo sehen zu lassen. Mir blieb nur zu warten, bis er sich bei mir meldete.

Aber angenommen, er wusste es nicht, sondern spielte ahnungslos am Mittelmeer Roulette, dann war es höchste Zeit, ihn auf gewisse Schwierigkeiten vorzubereiten. Er sollte wenigstens Zeit genug haben, um sich auf dem Friedhof eine Grabstätte auszusuchen, wie die Kerle geraten hatten.

 

 

Noch ein, zwei Stunden döste ich vor mich hin und wartete darauf, dass ein trüber, unfreundlicher Samstagmorgen begann, den viele damit verbringen würden, auf dem Wochenmarkt herumzustehen, sich die kalten Hände zu reiben und dem eigenen qualmenden Atem hinterherzuschauen. Viel Spaß würde ihnen das nicht bereiten, aber es machte noch weniger Spaß, in einem muffigen Buchladen übel gelaunte Kunden dabei zu beobachten, wie sie aus purer Langeweile Bücher aus den Regalen nahmen und darin herumblätterten, ohne sie zu kaufen, geschweige denn zu klauen. Aber so lange ich als Privatdetektiv Klienten begegnete wie Melanie Storck, die sich einbildeten, das Honorar aus der WG-Kaffeekasse bezahlen zu können, würde ich auf den Job als Ladendetektiv angewiesen sein.

Natürlich gab es immer mal Tage, an denen ich nicht in dem Buchgeschäft herumstehen konnte. Wenn ich krank wurde, zum Beispiel, oder wenn ich meinem Partner aus der Klemme helfen musste. Wie heute.

Lämmerhirt, meinem Chef, musste ich allerdings die erste Variante auftischen. Er gehörte zu den Typen, die selbst ihren Partnern nur dann aus der Klemme halfen, wenn sie sicher waren, durch diese Maßnahme mehr Geld einzusparen, als sie Kosten verursachte. Für Lämmerhirt gab es keinen Unterschied zwischen krank sein und krankfeiern, also erkundigte er sich nicht näher nach meinen Beschwerden, sondern wünschte mir frostig gute Besserung.

Ich fuhr zum Büro und durchwatete noch einmal das Chaos in Henks Arbeitszimmer auf der Suche nach einem Hinweis. Nichts deutete darauf hin, dass er inzwischen hier gewesen war. Und falls doch, dann hatte er das Aufräumen auf später verschoben. Also würde ich bei ihm zu Hause weitersuchen.

Als ich schon so gut wie aus der Tür war, klingelte das Telefon. Ich nahm ab.

»Kittel?« Die Stimme am anderen Ende hatte keinen italienischen Akzent. »Ich brauche dringend Ihre Hilfe.«

»Wer spricht denn da?«

»Mein Name ist Martens. Tilo Martens. Wir haben uns gestern kurz kennen gelernt.«

»Ja, ich erinnere mich.« Das Sorgenkind meines Klienten. Der junge Elvis, den sein Vater kurzerhand hinausgeworfen hatte, als er versucht hatte, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.

»Worum geht es denn?«

»Ich…« Er schluckte. »Das sehen Sie, wenn Sie hier sind. Ich möchte jetzt nicht hier – am Telefon…«

Normalerweise war ich ein hilfsbereiter Mensch. Aber ich dachte an Henk und seine sadistisch-sizilianischen Verfolger. Und ich fühlte meine Schrammen und blauen Flecke. Im Moment passte es wirklich schlecht.

»Wie Sie wissen«, erklärte ich freundlich, »hat mich Ihr Vater engagiert. Falls Sie also wollen, dass ich für Sie tätig werde, sollten Sie sich an ihn wenden und ihn um sein Einverständnis bitten. Und dann wäre für mich zu klären, ob Ihr Anliegen und seines nicht miteinander kollidieren. Falls nicht, dann könnte ich…«

»In meinem Schlafzimmer liegt eine Leiche«, unterbrach er meine Ausführungen.

Jetzt schluckte ich. »Was?«

»Ein toter Mensch«, erklärte er. »Hier in meiner Wohnung. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Bitte, ich…«

»Also gut«, sagte ich. »Rühren Sie nichts an und warten Sie, bis ich da bin.«