13

 

 

 

Der Rest der Nacht wurde eine Tortur. Ich war leidlich besoffen, außerdem verfolgte mich Henk mit seinem »… wenn ich dann dazu noch in der Lage bin«.

»Sorge dich nicht um mich, Kittel«, rief er mir aus irgendeinem dunklen Raum zu. »Es ist mir Trost genug zu wissen, dass es dir gut geht. Dann kann ich ohne ein schlechtes Gefühl ins Gras beißen.«

Ich träumte von seiner Beerdigung. Sie wurde nicht auf Latein, sondern auf Italienisch verlesen und Pfarrer war der duftende Killer mit dem bunten Hemd. Er verbat sich energisch jeglichen Witz bei diesem traurigen Anlass. Dann hielt er unser Firmenschild hoch:

 

KITTEL & (VOSS * 1955 1999)

PRIVATE ERMITTLUNGEN

 

Henks Leben, lobte er in seiner Ansprache, sei ein leuchtendes Beispiel sowohl für Arme als auch für Entrechtete gewesen, und sein tragisches Schicksal habe ihn ereilt, während sein leichtlebiger Partner im Vollrausch durch die Altstadt getorkelt sei und den so gut wie neuen Wagen, für den der Verstorbene hart hatte arbeiten müssen, ohne Skrupel seinem Schicksal überlassen habe. Er verstummte und alle Trauergäste drehten sich nach mir um.

»Dazu kommt, dass er sich an den Meistbietenden verhökert«, sagte Melanie Storck in die Grabesstille hinein.

Ich erwachte und kämpfte von da an gegen das Einschlafen, aus Angst vor der Trauergemeinde.

Obwohl mir bewusst war, dass es als selbst auferlegte Strafe nicht ausreichen würde, verzichtete ich am nächsten Morgen auf das Frühstück.

Das Wetter war saumäßig, es nieselte, also zog ich eine leichte, sommerliche Jacke über und machte mich auf den Weg zum Büro, vielleicht um mich davon zu überzeugen, dass das Schild auf unserer Bürotür sich von dem unterschied, das mir im Traum erschienen war. Aber es konnte ja auch sein, dass Henk sich in der Nähe herumdrückte und auf eine Möglichkeit wartete, mich unauffällig zu kontaktieren.

Nachdem ich eine Viertelstunde im Regen gestanden hatte, ging es mir schon besser. Ich drehte noch zwei Runden um den Rathenau-Platz, bis meine Sommerschuhe sich mit Nässe vollgesogen hatten und wie Bleigewichte an meinen Füßen hingen. Aber Henk ließ sich nicht blicken.

Ich musste niesen. Höchste Zeit, meine Bußübung abzubrechen und mich irgendwo aufzuwärmen, wenn ich mir eine Grippe ersparen wollte, deren Ausmaße sogar Tilo Martens Respekt eingeflößt hätten. Ich watete zum Barbarossa-Platz und stellte mich beim nächstbesten Schnellimbiss an.

»Einmal Pommes rot-weiß hätte ich gerne«, bestellte der Mann vor mir.

Er hatte eine tiefe, getragene Stimme und sah wie ein Geistlicher aus. Ich starrte ihn an, als ob ich noch nie zuvor einen gesehen hätte. Dabei waren Priester schließlich keine höheren Wesen, die sich ausschließlich von Brot und Wein ernährten, und ab und zu mochte sie der Heißhunger nach einer Portion Pommes packen. Der Gottesmann nahm seinen Pappteller in Empfang, platzte sich lässig auf einen Hocker und schob sich die Kartoffelstäbchen Stück für Stück in den Mund, nachdem er sie wie Pinsel erst durch die weiße, dann durch die rote Pfütze geschleift hatte. Seinen schwarzen Hut und Mantel hatte er währenddessen auf den Flipperautomaten neben sich gelegt.

Während ich meine Currywurst verputzte, stellte ich mir vor, er hätte die Kleidungsstücke gar nicht erst abgelegt. Er hätte noch dunkler ausgesehen, geradezu düster, aber dafür weniger geistlich. Eher wie Wild Bill Hickhock, einer der legendären Revolverhelden des Wilden Westens, dessen Farbe Schwarz gewesen war, als Symbol für die Angst und den namenlosen Schrecken, die er um sich her verbreitet hatte.

Der Mann warf die leere Papierschale in den Abfalleimer und machte sich bereit, dem Sauwetter draußen zu trotzen. Er trat vor die Tür und setzte den Hut auf. Endlich fiel bei mir der Groschen.

Er fiel so plötzlich, dass ich mich an meiner Wurst verschluckte. Ich lief rot an, prustete und keuchte, was mindestens fünf der Anwesenden dazu veranlasste, wie wild auf meinen Rücken einzudreschen. Als es mir gelungen war, sie abzuschütteln, sah ich gerade noch, wie Hickhock sich anschickte, die S-Bahn zu betreten.

Wie gewöhnlich dauerte es eine ganze Weile, bis die Bahn losruckelte, so dass ich Zeit genug hatte zuzusteigen. Ich sicherte mir einen günstigen Platz und behielt den Schwarzen im Auge bis zum Chlodwig-Platz, wo er die Bahn verließ. Er machte nicht gerade einen frischen Eindruck. Wahrscheinlich hatte er Martens schon am frühen Morgen die Aussicht verdorben. Jetzt hatte er sich mit einem kleinen Imbiss gestärkt und war auf dem Weg in den verdienten Feierabend.

Vom Sachsenring bog er in eine Seitengasse ab und verschwand nach wenigen Metern in einem Hauseingang.

Ich wartete eine halbe Minute, dann kam ich nach. Einige der Namensschilder neben den Klingelknöpfen waren völlig unlesbar, andere sorgfältig mit Schreibmaschine getippt. Eins war aus lila Papier mit einer Friedenstaube darauf und enthielt nur Vornamen. Davon kam mir einer bekannt vor. Ich klingelte.

Da die Wohnung im obersten Stockwerk lag, war es vom Schnarren des Türöffners bis zum Eingang noch ein beachtlicher Weg. Als ich an die Wohnungstür klopfen wollte, wich sie vor mir zurück.

»Kittel! Was haben Sie denn hier zu suchen?«, wollte Melanie wissen.

»Ich brauche nichts mehr zu suchen. Ich habe etwas gefunden. Den schwarzen Mann.«

Sie machte ein ungläubiges Gesicht. »Und Sie haben sich hierher bemüht, um mir das zu sagen?«

»Verkaufen Sie mich nicht für dumm«, riet ich ihr barsch. »Er wohnt hier und Sie wissen das genau.«

»Will er dir Ärger machen, Melanie?«, erkundigte sich jemand von drinnen. Ein schmächtiger Student im Feinrippunterhemd und mit einer John-Lennon-Brille auf der winzigen Nase trat hinter sie.

»Und wenn?«, schnaubte ich angriffslustig. »Was wollen Sie dagegen unternehmen? Mit mir diskutieren oder eine Unterschriftenaktion gegen mich anzetteln?«

»Danke, Alf. Schon gut.« Melanie trat einen Schritt zurück und es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte den armen, kleinen Alf zerquetscht. »Na schön«, wandte sie sich an mich, »kommen Sie rein.«

Ich trat durch den winzigen Flur in eine geräumige Wohnküche, in der mehrere Generationen gebrauchter Kaffee- und Teetassen von harter politischer Arbeit zeugten.

Don’t be happy – worry!, mahnte ein kleines, einfach gehaltenes Plakat die Bewohner der Küche, sich nur so weit um das leibliche Wohl zu kümmern, als es der Erhaltung und Wiederherstellung der politischen Kampfkraft diente. Fröhlichkeit war verdächtig in einer Welt der antifaschistischen Aktion und des täglichen Kampfes gegen die Klimakatastrophe, und wer Humor haben wollte, musste sich dafür eine Sondergenehmigung holen. Der Meinung waren auch Rosa Luxemburg, Che Guevara und jener Südtstadt-Heilige, der Erfinder des Mundartrock, der inzwischen eine Art Willy Millowitsch der Hausbesetzerszene geworden war.

»Ich habe den Mann zufällig am Barbarossa-Platz gesehen und bin ihm bis hierher gefolgt.«

»Bis hierher?«, mischte sich Alf ein. »Also bis zum Haus.«

»Ja, wohin sonst.«

»Woher wollen Sie dann wissen, ob er hier in diese Wohnung gegangen ist?«

Was bildete der sich ein? Schrieb ich ihm etwa vor, wie er seine Seminararbeiten abzufassen hatte?

»Wer wohnt noch hier?«, fragte ich Melanie, ohne Alf zu beachten.

»Mannie«, sagte sie. »Manfred Gerresheim.«

»Kann ich ihn sprechen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum. Er kommt gerade von der Arbeit und haut sich jetzt erst mal hin.«

»Sag ich doch!«, triumphierte ich. »Wie sieht er aus?«

»Groß und schlank, schwarze Hose, schwarzer Hut, schwarzer Mantel«, beschrieb ihn ihr Mitbewohner.

»Das ist er!«, rief ich.

Alf grinste müde.

»Und wenn Sie sich alles einbilden?«, schlug Melanie vor.

Allmählich hatte ich diese Komödie satt. »Dieses Nachtgespenst hat mich gestern von hinten angefallen. Das habe ich mir nicht eingebildet.«

Alf, der Schmächtige, grinste schadenfroh. »Da haben Sie sich wohl mächtig erschreckt, was?« Er deutete auf den Boden, auf dem ich stand. Da war eine Wasserpfütze.

»Blödsinn. Das ist vom Regen.«

»Vom Regen.«

»Haben Sie vielleicht ein Handtuch?« Ich nieste. »Ich habe dummerweise vergessen, Regenzeug überzuziehen.«

»Gesundheit.« Melanie reichte mir etwas, das wie eine ehemalige DDR-Flagge aus Frottee aussah, geleitete mich auf den Flur und zeigte auf eine Tür. Ich verschwand ins Badezimmer.

Es gab eine Badewanne auf Füßen und ein Waschbecken mit einer uralten Messingarmatur, die einen komplizierten Jazzrhythmus tropfte. Eigentlich hätte es ein gemütliches Klo sein können, das den langen Aufenthalt lohnte. Aber es gab nicht eine einzige Illustrierte, nur politische Pamphlete. Aus linken Zeitungen säuberlich ausgeschnittene Artikel über skandalöse Verhältnisse. Aufrufe, Schuldzuweisungen, Sammlungsbefehle. Witze mit politisch korrekter Pointe, über die man nicht lachen musste, sondern die einem zu denken gaben.

Als ich halbwegs trocken zurückkehrte, saßen drei Leute in der Küche. Mannie Gerresheim trug eine weinrote Hose und ein giftgrünes Hemd, als wollte er die Farblosigkeit der Berufskleidung in seiner Freizeit wettmachen.

»Mich können Sie damit nicht täuschen«, sagte ich.

Mannie grinste. »Ach komm, jetzt hör doch auf, Mann!«

»Sie haben mich gestern in der Altstadt überfallen und…«

»Mann, seh ich vielleicht so aus, als hätte ich jemanden überfallen?« Er breitete die Arme aus wie ein Pfarrer, der die Gemeinde zum Gebet rief. Jetzt sah er wirklich nicht mehr so aus.

»Ich wüsste schon, wer Sie verprügelt haben könnte«, sagte Melanie und stellte mir eine Tasse Kaffee hin.

»Na endlich«, freute ich mich.

»Roch der Mann nach Schweiß?«

»Was?«

»Hatte er Schweißgeruch?«

»Wieso?« Ich schnüffelte in Mannies Richtung und erntete von ihm einen wütenden Blick.

»Wenn ja, dann war es der Gorilla Ihres Auftraggebers.«

»Schrader heißt der Mann«, erklärte Alf. »So viel haben wir schon rausgekriegt.«

»Wir?«

»Die Aktionsgruppe Mölling. Wir sorgen dafür, dass der Mord an ihm nicht vertuscht und vergessen wird.«

»Und deshalb spuken Sie vor seinem Grundstück herum?«

»Buh!«, machte Mannie.

»Wir spuken nicht«, dozierte Alf herablassend. »Es handelt sich um eine gewaltfreie Aktion mit Symbolcharakter, die darauf abzielt, Schuldgefühle in der Person des Schuldigen zu mobilisieren und als Selbstzerstörungskräfte gegen denselben zu nutzen. Lesen Sie Gandhi. Lesen Sie Helferich.«

»Helferich?«

»Ernst Helferich, ein Soziologe, der zu Anfang dieses Jahrhunderts hier im Viertel gelebt hat, der aber bis Ehrenfeld und Nippes bekannt war. Er hat sich besonders mit…«

»Schon gut«, unterbrach ich ihn. »Ersparen Sie mir Ihre Diplomarbeit.«

»Dieser Schrader ist gefährlich«, meinte Melanie ernst. »Das ist ein Mörder, den müsste sich einer vornehmen.«

»Was meinen Sie mit vornehmen?«, erkundigte ich mich vorsichtig. »Zusammenschlagen, entführen oder abknallen?«

Sie zog eine mitleidige Grimasse. »Klar, dass Sie mir jetzt mit Recht und Ordnung kommen. Bei so einem nehmt ihr es immer ganz genau.«

»Das kommt ganz drauf an«, widersprach ich. »Wenn der Preis stimmt, bin ich dabei. Ich verhökere mich immer an den Meistbietenden.« Ich stand vom Tisch auf. »Danke für den Kaffee.«

»Was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte Melanie.

Während ich meine nasse Sommerjacke überstreifte, trat ich vor das schwarze Brett neben der Tür und ließ einen kurzen Blick über Zeitungsausschnitte und Kampfparolen schweifen.

»Ich werde meinem Auftraggeber raten, seine Selbstzerstörungskräfte zu pflegen, und dafür eine Menge Geld kassieren. – Wer ist das?« Ich deutete auf ein Foto zwischen den Schnipseln.

»Das ist Marius«, erklärte Melanie, die neben mich getreten war. »Keine sechs Wochen, bevor er…«

»Nein, ich meine den Mann neben ihm.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendein Freund oder Kollege.«

Ich tippte auf Freund, nicht nur, weil die beiden so lässig und ungezwungen in die Kamera lächelten. Mölling hatte sogar den Arm um die Schulter des anderen gelegt. Außerdem kannte ich den Mann. Das ungewohnte Outfit – Jeans, Lederjacke und Sonnenbrille – machten mich zunächst unsicher und ließen mich näher herantreten, um genau hinzusehen. Dann hatte ich keinen Zweifel mehr: Möllings Freund hieß Heino Hendrix.