Von Sonne und Soufflés

Drei Wochen später …

Jette lag neben ihm im knietiefen Wasser, und sie ließen sich von den Wellen an Land tragen. Sie stützten sich beide mit den Händen auf dem Sandboden ab, und ihre Beine trieben hinter ihnen auf dem Wasser. Vor ihnen lag der Strand mit den Palmenhütten und Cocktailbars, hinter ihnen der Golf von Mexiko.

Wieder kam eine Welle und nahm sie ein Stück weit mit. Jette griff nach seiner Hand. Am Himmel schrie ein Vogel. Ein anderer antwortete. Vom Volleyballfeld her schallten Rufe und das unregelmäßige Schlagen eines Balles. Etwas weiter entfernt dröhnte aus einem Lautsprecher Salsa-Musik. Das Gelächter einer Gruppe Jugendlicher war zu hören. Es war gut, dass es die Geräusche gab. So wusste Jonah immer, wo der Strand war.

Eine große Welle rollte heran. Sie trug sie weit an Land und brach über ihren Köpfen. Er hielt Jettes Hand fest. Es gab nur sie beide, das Wasser und den Sand. Geborgen in den Elementen. Er blieb mit ihr unter Wasser, bis ihnen der Atem ausging. Dann schüttelten sie sich lachend die Wassertropfen aus den Haaren und wateten zum Strand hoch. Am Ufer ließen sie sich in den nassen Sand fallen und genossen es, wie die auslaufenden Wellen ihre Füße umspülten.

Den ganzen Tag waren sie immer wieder im Wasser gewesen. Es war warm. Und das erste Mal gab es richtige Wellen, denn in der Nacht hatte es gestürmt.

Mexiko war Jettes Idee gewesen. Sie hatte von Dukie erfahren, dass das einmal Jonahs Traum gewesen war. Innerhalb von drei Tagen hatte sie die Reise gegen alle elterlichen Widerstände durchgesetzt. Wobei das Problem eher ihre Familie gewesen war. Seine eigenen Eltern waren so glücklich, dass sie zurzeit praktisch alles erlaubten. Nicht nur darüber, dass ihm während der Entführung nichts geschehen war. Auch dass er wieder Lust hatte, aus dem Haus zu gehen, machte seine Mutter unendlich froh. Allein hatte man sie dennoch nicht fahren lassen. Vom ersten Tag an hatten sich seine Eltern in der Nähe eine Ferienwohnung genommen und Jettes Mutter ein Hotelzimmer in der Bucht zu ihrer Linken. Gestern war noch Jettes Vater nachgekommen. Zum Glück hatte niemand auf ein gemeinsames Hotel bestanden. Den Strand mit den kleinen Hütten hatten sie ganz für sich allein. Ihre Eltern tauchten einmal am Tag auf, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, und ließen sie ansonsten völlig in Ruhe. Damit hatten sie nicht gerechnet, und es war einfach traumhaft.

Jonah strich ihr über den Rücken. Es gab Momente, da konnte er es immer noch nicht fassen, dass sie leibhaftig da war. Aber alles an ihr war echt. Ihr Atem, ihre Haut, ihr Lachen. Die lebendige Jette. Die aus Fleisch und Blut. Und wie glatt ihre Haut war. Dabei war es erst drei Wochen her, dass er sie mit Pusteln übersät aus der brennenden Villa gerettet hatte. Konnten Windpocken so schnell heilen? Er tastete nach der Stelle an ihrem Arm, an der die Fledermaus sie gebissen hatte. Aber auch davon war nichts zurückgeblieben. Er berührte ihren Kiefer, den Wim Tanner mehr als einmal gequetscht hatte. Keinerlei Unebenheit.

Wim Tanner war immer noch flüchtig. Wim Tanner: der andalusische Gärtner. Wie hatten sie sich so täuschen lassen können! Er würde es sich nie verzeihen.

Vor ein paar Tagen hatte er Jette noch einmal gefragt, was sie eigentlich von der Sache mit dem besonderen Gen halte. Immerhin war ihre Haut tatsächlich außergewöhnlich schön. Vielleicht hatte sie so ein Gen ja wirklich, nur dass es eben noch niemand entdeckt hatte. Aber sie hatte nur gelacht und gesagt: »Jo! Nicht auch noch du. Ich dachte, mit dem Thema wären wir durch. Es ist doch echt egal.«

Tatsächlich aber hatte er an ihrer Haut keinerlei Spuren entdeckt, die an das, was in den vergangenen Wochen passiert war, erinnerten. Wenn er ehrlich war, gefiel ihm das nicht. Eine klitzekleine Narbe hätte sie wenigstens zurückbehalten können, fand er. Als Zeichen für das, was sie gemeinsam durchgestanden hatten.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«, sagte Jette träge.

»Hast du eigentlich irgendeine Narbe?«, fragte Jonah.

»Wenn es sonst nichts ist …«

»Sag doch mal.«

»Weiß ich nicht.«

»Ich glaub, du hast keine.«

»Genau, Jonah Mint«, sagte sie und lachte. »Das Leben hinterlässt bei mir einfach keine Spuren. Weder auf der Haut noch im Herzen.«

»Das hab ich doch gar nicht gemeint.«

»Nicht? Dann beweis es.«

»Wie?«

»Küss das Mädchen ohne Narben.«

Er beugte sich über sie. Ihre Lippen waren feucht und weich. Sie schmeckten nach Salz und Pfefferminz. Er schloss die Augen. Farben blitzten durch sein Gehirn. Er küsste ihre Mundwinkel. Das war ein blauer Kuss. Dann ihre Oberlippe. Ein klares Grün. Dann ihre Schneidezähne. Das war lila. Er berührte ihre Zunge. Ein grellgelber Blitz. Er wollte mehr.

Eine Welle rauschte heran, überspülte sie, wirbelte sie zur Seite. Wo war das Wasser plötzlich hergekommen? Ihr Mund verschwand. Er suchte nach ihr in dem dunklen, sprudelnden Wasser, bekam endlich ihre Hand zu fassen. Sie richteten sich langsam wieder auf.

»Sollen wir …?«, sagte Jette. Er verstand sie nicht. Er zeigte auf seine Ohren. Er hatte Wasser hineinbekommen. »… SCHWIMMEN …?«, schrie sie. Er nickte. Sie nahm ihn an der Hand und lief mit ihm ins Meer hinein. Als sie nicht mehr stehen konnten, schwammen sie weiter, die Nachmittagssonne im Rücken. Er zählte die Schwimmstöße … dreißig … vierzig …fünfzig.

Das Zählen war ihm zur zweiten Natur geworden. Er tat es ganz automatisch. In ihrer Hütte waren es vier Schritte von der Hängematte zum kleinen Tisch. Vierunddreißig Schritte von der Hütte zum Meer, zumindest am Morgen bei Ebbe. Sieben Schritte hinter ihrer Hütte hatte Jette eine kleine Schlange gesehen. Jonah hatte sofort an die Babypuffotter von Wim Tanner gedacht. Was aus ihr wohl geworden war? Sechzig … siebzig … achtzig … »Jette?«, rief er und paddelte mit den Füßen auf der Stelle, um den Kopf über Wasser zu halten.

Eine leichte Berührung war die Antwort. »… tau…«, sagte sie.

»Was?«, rief er.

Sie schrie ihm ins Ohr: »ICH SCHAU MAL, OB MAN HIER BIS ZUM BODEN TAUCHEN KANN. BIN GLEICH WIEDER DA.«

Er wollte nein sagen, verbiss es sich aber. Im nächsten Moment holte sie bereits tief Luft. Dann spürte er ihre Bewegung hinab in die Tiefe. Wie ihr Körper das Wasser zur Seite drängte und es von oben wieder nachfloss. Kleine Wellen vom Meer her verwischten ihre Bewegung. Er blieb paddelnd im Wasser stehen. Allein. Er musste an die Sache mit dem Kettchen am Baggersee denken.

Eine Welle schwappte ihm ins Gesicht. Er verschluckte sich. Nichts als Salzwasser um ihn herum. Er streckte seinen Kopf in die Höhe. Die Sonne brannte. Er versuchte, sich das Wasser aus den Ohren zu schütteln. Ich muss hören können, dachte er. Wieder schwappte eine Welle in sein Gesicht, und er schluckte noch mehr Salzwasser. Er bekam Panik. Ich sehe nichts und höre nichts, dachte er. Überhaupt war dieser ganze Urlaub eine Nummer zu groß für ihn. Wieder bekam er eine Welle ab. Wieso war er überhaupt mitgefahren? Das konnte ja nicht gut gehen. Die Strandschönheit und der Behinderte! Da erscholl neben ihm Jettes atemlose, begeisterte Stimme: »Es ist zu tief. Man kommt nicht bis runter. Aber da unten sind ganz viele Fische!« Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund. Er schmeckte nach Salz und Pfefferminz. Wie sehr er sie liebte!

Jette lief den Strand zur Hütte hoch. Die Sonne kribbelte auf ihrer nassen Haut. Sie hüpfte ausgelassen. Tropfende Haarsträhnen glitzerten vor ihren Augen. Sie lachte vor Freude, weil sie sich so lebendig fühlte. Wie das Blut in ihrem Körper pulsierte. Sonnenwarm. Lustwarm. Seit acht Tagen waren sie an diesem Strand. Sie und Jonah.

Eigentlich wollte sie die Post holen, die ihr Vater aus Deutschland mitgebracht hatte und die noch ungeöffnet in der Hütte lag. Aber was war das eigentlich für eine Idee! Stattdessen lief sie nun an der Hütte vorbei, weiter in Richtung Bar, wobei sie mit den Füßen kleine Straßen in den weißen Sand zog. »Dos helados de chocolate, por favor« – zwei Schokoladeneis bitte. So viel Spanisch musste sein. Sie riss das Papier auf. Mmh. Dunkel und süß. Jetzt also doch noch schnell zur Hütte. Jonah wartete sicher schon.

»Qué guapa! La Blancanieves!«, rief ein kleiner Junge, als sie an ihm vorbeiging. Wie schön du bist, Schneewittchen! Sie hatten ihr das Wort am Strand übersetzt. Ein Mann verstummte mitten im Satz, als er sie kommen sah. Er hatte die gleichen kantigen Züge wie Wim Tanner, aber sein Blick war freundlich. Der Mann lächelte, und die Gespenster verschwanden. Zwei Mädchen, die Frisbee spielten, schauten ihr hinterher. Sie war schön. Sehr schön. Ihre Augen funkelten, ihre Haut glänzte, und ihr Bikini war nicht zu toppen. Sie hatte ihn mit Klara ein paar Tage vor ihrem Abflug gekauft. Ein schwarzer Bikini mit braunen Eichhörnchen drauf.

»So etwas kann man nicht tragen«, hatte Klara gesagt. Aber als sie Jette dann in dem Bikini sah, hatte sie keine Einwände mehr gehabt. »Warum kaufst du dir eigentlich plötzlich einen Bikini?«, hatte sie gefragt.

Die Frage war durchaus berechtigt gewesen. Jahrelang hatte Jette die alten Bikinis ihrer Freundinnen getragen, weil sie sich einfach nichts aus besonderen Klamotten machte. »Du warst achtundzwanzig Tage in der Gewalt eines Schwerverbrechers«, hatte Klara gesagt, »und kommst da raus wie … eine Blume, die im Frühjahr aus der Erde sprießt! Das soll mal einer verstehen.« Zwei Minuten später hatte sie dann eine Erklärung parat gehabt: »Na klar! Jonah!« Aber die kluge Klara hatte danebengelegen.

Der Bikini hatte nichts mit Jonah zu tun. Sondern mit der Schatulle, die sie zurückgegeben hatte. An dem Tag hatte sich etwas geändert. Sie konnte nicht genau sagen, was. Aber etwas war geschehen. Irgendwie hatte sie seither den Eindruck, dass es genau richtig war, wie sie aussah.

Das Kind, für das das Kästchen in dem alten Treppenhaus in der Villa bestimmt war, lebte noch. Es war inzwischen eine alte Dame. Katharina Landsen, geborene Mannscheid, sechsundachtzig Jahre alt. Norbert Königssohn, der Mann, der durch eine falsche Notiz vor fünfzehn Jahren die Ereignisse der vergangenen Wochen ins Rollen gebracht hatte, hatte sie für sie gefunden. Sie lebte in einem Altersheim nur zwei Autostunden von Jettes Zuhause entfernt.

Jette hatte Charlie gebeten mitzukommen. Das Zimmer, in das sie traten, war klein und mit den typischen dunklen Möbeln älterer Leute zugestellt. Aber die Luft in dem Raum war gut. Eine Pflegerin führte sie zu der alten Dame, die in einem Lehnstuhl am Fenster saß. Die alte Frau wirkte sehr zart und zerbrechlich. Ihre dünnen weißen Haare rahmten ihren Kopf ein wie ein gepflegter Kranz. Sie trug ein blaues Kleid mit einem schneeweißen Kragen und eine große Brille. Jette legte ihr das Kästchen auf den Schoß. Aber die Hände der alten Dame zitterten zu stark, und so stellte Jette ihr die Dinge einzeln auf den Tisch. Das Foto der Mutter, die geschriebenen Zeilen, die kleine Dose mit den Haaren und das bestickte Taschentuch. Die Frau hatte das Kästchen noch nie gesehen.

Die alte Dame führte das Foto dicht vor die Augen, nahm ihre Brille ab und setzte sie wieder auf. »Sie ist schön, nicht wahr?«, flüsterte sie, und dabei liefen ihr Tränen über die Wangen. »Sie kann kaum noch etwas sehen«, sagte die Pflegerin leise zu Jette. Dann legte Jette ihr die Haare in die geöffneten Hände, und die alte Dame hörte nicht auf, darüberzustreichen. »Meine liebe Katharina …«, las Jette ihr die Zeilen der Mutter vor und gab ihr zuletzt noch das bestickte Taschentuch.

»Wisst ihr«, erklärte die alte Dame, »ich habe … nie etwas … von meiner Mutter gehört«, und dabei weinte sie ohne Unterlass.

Jette besuchte die alte Dame am nächsten Tag noch einmal. Und am folgenden Tag auch. Bei ihrem letzten Besuch schenkte die alte Dame ihr das Taschentuch. Sie selbst würde sowieso nicht mehr lange leben, da sollte Jette es haben. Als die alte Dame von ihrer Idee nicht abzubringen war, hatte Jette sich das Taschentuch um ihr Armgelenk gebunden und es seither nicht mehr abgelegt. Vorhin beim Baden war Jonah regelrecht ausgeflippt und hatte gemeint, das Taschentuch am Armgelenk sei gefährlich, da sie damit unter Wasser irgendwo hängen bleiben könnte. Aber sie hatte sich geweigert, es abzunehmen. Das einzige Problem war, es trocknete nicht richtig.

Das Taschentuch hatte magische Kräfte. Es legte sich lindernd auf eine Wunde in ihrem Herzen. Es war zwar nicht ihre eigene Mutter, die es gestickt hatte, aber es war in gewisser Weise auch für sie. Es war ein Zeichen. Es bedeutete wenig und viel zugleich. Sie hatte sich noch am selben Tag vor den Spiegel gestellt und sich von oben bis unten betrachtet. Das war sie. Jette Lindner. Lina Sandwey. Jella. Der Name, den Jonah nicht mehr in den Mund nahm. Sie sah so aus, wie ihre Mutter sie geboren hatte. Und sie hatte sich schön gefühlt. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Wer ist die Schönste im ganzen Land?, hatte sie den Spiegel grinsend gefragt, und obwohl er ihr nicht antwortete, hatte sie dann Klara angerufen und gefragt, ob sie mitgehe, einen Bikini kaufen.

Da war die Hütte. Jette schob den Glasperlenvorhang zur Seite und trat ein. Im Innern roch es nach Amarettosoufflés. Jonah hatte seinen Vater also rumgekriegt. Er musste welche vorbeigebracht haben. Die Soufflés standen unter einer Wärmehaube auf dem Tisch. Bisher hatte sich Jonahs Vater immer geweigert, Amarettosoufflés mitzubringen. Er hatte zwar schon ein paarmal in der Küche seines Hotels welche gebacken, aber immer behauptet, man müsse sie sofort essen, da sie nicht mehr schmeckten, wenn man sie länger stehen ließ. Jette holte sich einen Löffel und probierte. Das Soufflé war weich wie eine Wolke, schmeckte nach Vanille und Mandeln. Und es war sogar noch warm.

Die Post lag neben der Wärmehaube. Es war ein richtig dicker Stapel. Erstaunlich, wie viele Briefe und Karten seit ihrem Abflug angekommen waren. Eigentlich wollte sie die Post erst unten am Strand durchsehen, aber jetzt war sie auf einmal so neugierig, dass sie nicht mehr warten konnte.

Ganz oben lag eine Postkarte von Charlie, die mit ihrer Tante an der Nordsee war. Dukie hatte einen ausführlichen Brief geschickt. Ob sie eigentlich nicht ihre Mails läsen, war das Erste, was er fragte. Dann erzählte er, dass sein Vater die Entführung gestanden hatte und in U-Haft saß. Außerdem habe sein Vater nach ihm gefragt. Wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben, meinte Dukie sarkastisch. Er schrieb auch, dass er seinen Großvater zum Flughafen gebracht hatte. Der alte Mann sei ziemlich verstört gewesen und habe, wie auch in den Tagen nach dem Brand, kaum geredet.

Des Weiteren war da noch eine Postkarte von Anna, ohne Briefmarken, die sie Jettes Vater vermutlich vor dessen Abflug selbst vorbeigebracht hatte. Und Klara berichtete amüsiert, dass die Presse jedes Interesse an Jette verloren habe. Jettes Idee, den Zeitungen ein Windpockenbild von ihrem Gesicht zu schicken, wäre genial gewesen.

Und es gab noch mehr Post: Die Polizei hatte sich gemeldet. Jette riss den Brief auf. Der Polizeipräsident entschuldigte sich bei ihr und ihren Eltern, dass seine Beamten das Erdloch in der Villa nicht gefunden hatten. Man hätte den Hohlraum zwar geortet, wäre aber fälschlicherweise davon ausgegangen, dass er zur Tiefgarage gehörte. Dann ein Brief von Norbert Königssohn. Er hatte der Presse mitgeteilt, dass es die genetische Mutation, nach der Dr. Saalfeld gesucht hatte, nicht gebe. Und viele weitere Briefe von Menschen, die sie nicht kannte und die an ihrem Schicksal Anteil nahmen.

Außerdem lag in dem Stapel noch ein großer, bereits geöffneter Umschlag, der an ihren Vater adressiert war und eine Briefmarke aus einem fremden Land trug. »Was soll ich antworten?«, hatte ihr Vater mit Filzstift auf den Briefumschlag geschrieben. Jette zog das Schreiben heraus. Der Brief war auf Englisch verfasst und auf persönlichem Briefpapier ausgedruckt. Er hatte einen eindrucksvollen Briefkopf – sogar mit Wappen. Jette schaute genauer hin: ein Greifvogel, der zum Flug ansetzte. Ihre Augen flogen über den Text. Ein bisschen verstand sie sogar. Jette klemmte sich alles unter den Arm, griff nach dem Behälter mit den Soufflés und dem Eis für Jonah, das inzwischen bedenklich weich war, und machte sich auf den Weg zurück zum Strand.

»Was schreiben die Leute denn sonst noch so?«, fragte Jonah, während er sein Eis lutschte und dazu Soufflé löffelte.

»Die neue Wohnung von Charlies Mutter hat wieder ein Blümchenklo. Fast genau so eines wie in der alten«, sagte Jette in einem Plauderton.

»Aha.«

»Klara hat sich für ein Schulpraktikum bei einer Schlosserei beworben.«

»Was will sie denn da?«

»Keine Ahnung, ist doch egal. Anna macht sich jedenfalls große Sorgen, weil die Firma die Brausebonbons aus dem Sortiment genommen hat.«

»Schlechte Nachrichten. Und sonst?«

»Ich habe einen Heiratsantrag bekommen!«

»Du hast WAS?«

»Von einem Prinzen.«

Jonah richtete sich auf.

»Der Brief ist auf Englisch. Vielleicht kannst du beim Übersetzen helfen?«, fragte Jette unschuldig. »Zum Beispiel ›falcon‹, ›bat‹ oder ›lawsuit‹ …?«

»›Bat‹ heißt Fledermaus«, brummte Jonah unwirsch.

»Und die anderen Wörter?«, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern. Jette stand auf. »Dann gehe ich mal ins Internetcafé«, sagte sie. »Da krieg ich das sicher raus.« Fröhlich pfeifend, mit einigen falschen Tönen dabei, entfernte sie sich.

Der Platz neben Jonah wirkte auf einmal verwaist. Nur der Stapel mit der Post musste noch da liegen. Was es mit diesem Heiratsantrag wohl auf sich hatte? Jonah nahm wahllos ein paar Briefe und Postkarten in die Hand. Welches wohl der Brief von Dukie war, von dem Jette erzählt hatte? Er hätte ihn gern selbst gelesen. Aber er war ja blind. Das war einfach so ungerecht. Wütend zerknüllte er die Post und warf sie zurück auf das Handtuch. Dann legte er sich auf den Rücken und wartete.

Jette brauchte lange. Endlich hörte er aus der Ferne ihre Stimme. Sie schien mit jemandem zu scherzen. Eine Männerstimme rief ihr auf Deutsch zu: »Schneewittchen, pass auf, dass der Apfel nicht vergiftet ist!« Dann ihr Lachen. »Keine Sorge!«, antwortete sie mit vollem Mund. Sie kam näher, war jetzt so nah, dass Jonah hören konnte, wie sie in einen Apfel biss. Dann das leise Knirschen des Sandes unter ihren nackten Füßen. Ein kühler Schatten fiel auf sein Gesicht. Sie kniete neben ihm. Apfelatem.

»Wer ist da?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Der Teufel«, antwortete sie in der gleichen Tonlage.

»Was bringst du mit?«

»Furchtbare Strafen.« Ihre Stimme klang verführerisch.

»Welche?«

Anstatt einer Antwort legte sie einen Apfel auf seinen Bauch.

»Was noch?«

Sie küsste ihn und knabberte sanft an seiner Lippe.

»Aufhören«, sagte er, als der Biss zu fest wurde. »Was noch?«

»Einen mächtigen Rivalen«, sagte sie theatralisch.

Sein Gesicht verdüsterte sich, doch Jette lachte.

»Ich habe den Brief übersetzt. Und stell dir vor, er ist tatsächlich von einem arabischen Scheich! Ich les ihn dir vor.« Sie raschelte mit dem Papier und holte tief Luft.

Sehr geehrter Herr Lindner!

Ich möchte für meinen Sohn respektvoll um die Hand Ihrer wunderschönen Tochter Jette anhalten. Mein Sohn hat Ihre Tochter im Juni aus der Ferne beim Zelten an einem See gesehen. Er hat sich ihr natürlich in keinster Weise unziemlich genähert. Dafür verbürge ich mich. Mein Sohn war mit seinem Falken unterwegs. Er hat beobachtet, wie Ihre Tochter von einer Vampirfledermaus gebissen wurde, die ein fremder Mann auf sie angesetzt hatte. Um die Ehre Ihrer Tochter wiederherzustellen, befahl mein Sohn seinem Falken, die Fledermaus zu töten. Dies geschah noch vor Ort.

Der Besitzer der Fledermaus trug allerdings eine Pistole bei sich und erschoss daraufhin den von meinem Sohn sehr geliebten Falken. Es handelte sich hierbei um ein sehr wertvolles und einzigartiges Tier. Mein Sohn hat sehr viel in den Falken investiert. Das Tier war sogar in der Lage, in hellen Nächten zu jagen. Mein Sohn verfolgte den Täter noch in der Nacht. Besonnen, wie er war, stellte er allerdings nur die Identität des Täters fest. Der Mann heißt Wim Tanner.

Die folgenden Ereignisse konnte mein Sohn nur aus der Ferne verfolgen, da er bei mehreren internationalen Pferderennen anwesend sein musste. Zwei Diener, die mein Sohn in Deutschland zurückgelassen hatte, erstatteten ihm Bericht. So musste mein Sohn erfahren, dass der Mann mit dem Namen Wim Tanner einige Tage später Ihre Tochter entführte und sie an immer neuen Orten versteckte. Mein Sohn, der von seinen Pflichten unabkömmlich war, verlangte schriftlich von dem Entführer, Ihre Tochter sofort freizulassen. Um unser Königshaus zu diesem Zeitpunkt in keinen Skandal zu verwickeln, schickte er das Schreiben anonym. Auch bat er seine Bediensteten, zunächst nicht einzugreifen, da mein Sohn Ihre schöne Tochter selbst retten wollte. Vergangene Woche nun hätte es sein dichter Terminplan erlaubt, nach Deutschland zu reisen. Mit Freude erreichte ihn dann aber die Nachricht, dass Sie Ihre Tochter bereits wieder in Ihre Arme schließen konnten.

Mein Sohn ist Ihrer Tochter in tiefer Liebe verbunden. Als liebender Vater möchte ich daher um Ihre Gunst für meinen Sohn bitten. Es stört ihn auch nicht, dass Ihre Tochter in der Hand dieses Mannes gewesen ist. Die jungen Leute heute sind ja etwas anders als wir früher.

Was das Schicksal von Herrn Tanner betrifft, muss ich natürlich die erforderlichen diplomatischen Wege unserer Länder einhalten. Aber es sei Ihnen bereits so viel gesagt, dass Herr Tanner in unserem Land wegen Mordes an dem Falken des Königssohnes angeklagt ist und der Prozess in Anwesenheit des Beschuldigten bald beginnen kann.

Mit den besten Wünschen und in Hoffnung auf eine positive Antwort

Scheich Hisham bin Sultan al-Nabil

»Nicht schlecht, was?«, sagte Jette.

»Hm.«

»Ich glaube, die haben Wim Tanner.«

»Wenn der Brief echt ist.«

»Wer soll sich so etwas schon ausdenken? Außerdem weiß der Absender ziemlich gut Bescheid. Und der Briefkopf macht einiges her.«

»Du meinst, es war ein echter Königssohn, dem der Falke gehört hat und der Wim Tanner den anonymen Brief geschrieben hat?«, fragte Jonah völlig perplex.

»Sieht so aus.«

»Ich glaub’s nicht!«

»Na ja«, wandte Jette ein, »ist aber eigentlich auch nicht soo überraschend. Wieso habt ihr denn nie an einen Königssohn gedacht, wenn doch unter dem Brief Königssohn stand?«

»Das meinst du jetzt nicht ernst?«

»Und ehrlich gesagt, wenn jemand Falken züchtet, dann sind das doch meistens diese Beduinen von der Arabischen Halbinsel. Ich hatte da mal so ein Kinderbuch …«

»Ich hatte dieses Buch zufällig nicht«, fiel Jonah ihr gereizt ins Wort. Das war ja jetzt wirklich die absolute Höhe. »Du meinst also, wir hätten das alles …?«

Aber noch ehe er weitersprechen konnte, hörte er von Jette ein unterdrücktes Gekicher, das immer lauter wurde, und schließlich konnte sie sich vor Lachen nicht mehr halten.

»Also ich bin der Meinung, man sollte immer zuerst an einen echten Prinzen denken!«, prustete sie. »Ich mach das auch so. Als ich dich zum Beispiel das erste Mal gesehen habe, dachte ich gleich, du bist ein echter Prinz!«

»Verarschen kann ich mich selbst«, sagte er grummelnd. Aber dann musste er auch lachen. Nach einer Weile wurde er wieder ernst und sagte: »Die wussten die ganze Zeit, wo du bist, und haben dich nicht gerettet! Die sind doch nicht ganz dicht. Was antwortest du denn jetzt auf den Brief?«

»Das macht wohl eher mein Vater.«

»Ich meine, was soll dein Vater dem Scheich schreiben?«

»Na ja«, sagte Jette, »ich wollte ja schon immer mal reiten lernen.«

Einfach umbringen, dachte Jonah. Ich sollte sie einfach umbringen.

»So ein Kontakt zu einem Königshaus …«, sinnierte Jette.

Sie ist echt ein Biest, dachte er, und legte seine Hand auf ihren Mund.

Die Sonne war untergegangen, und es wurde bereits dunkel. Jonah und Jette lagen immer noch am Strand. Nebeneinander. Nur ihre Köpfe berührten sich. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon so dalagen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Der Trick war, einfach dazuliegen und nichts zu tun: Wenn man nicht aktiv war, verging die Zeit langsamer. Dann hatte man mehr von ihr. Von Jonah.

Ein paar Meter entfernt pickte eine Möwe an dem Brief des Scheichs herum. Der Wind hatte ihn in den Sand geweht.

Sie spürte die Stelle genau, an der sich ihre Köpfe berührten. Ihre Sinnesnerven schienen nur auf diese paar Zentimeter ausgerichtet zu sein. Das Zentrum ihres Körpers. Warme Haut. Weiche Haare. Pulsierende Adern. Ihr war, als seien sie beide Teil eines einzigen Blutkreislaufs. Sie hob ihre Füße und legte sie an die seinen. Jetzt war der Kreis geschlossen.

Der Himmel verdunkelte sich. Sie blickte hoch. Über ihnen schossen lautlos Tiere vorbei. Ein ganzer Schwarm. Hunderte. Tausende. Ihre Flügel waren kaum zu erkennen, so schnell bewegten sie sich. »Fledermäuse«, sagte sie leise. Sie mussten aus den alten Mayatempeln am Strand kommen. Dann stürzte etwas zu ihnen hinab und schlug mitten auf Jonahs Bauch auf. Er zuckte zusammen und fasste mit der Hand hin. Nur ein Federball, nichts weiter. Eine junge Frau tauchte neben ihnen auf und entschuldigte sich wortreich auf Spanisch.

Jonah richtete sich auf. »Es ist nichts passiert«, sagte er. »Nothing happened.«