Jette und Jonah

Jette spürte die warme Rinde des Baumes in ihrem Rücken. Der Junge neben ihr hatte sich vorgebeugt und sprach in ihre Richtung. Aber er hielt seinen Kopf etwas zu weit rechts. Er kann nicht einmal meine Umrisse erkennen, dachte Jette. Er ahnt nur, wo ich sitze.

»Dieser Dr. Saalfeld«, sagte der Junge, »will unbedingt eine Blutprobe von dir, Lina …«

LINA. Der Name traf sie erneut mit voller Wucht. Ihr war, als wirble sie durch tiefes Wasser, als verschlucke sie sich und müsse nach Luft schnappen. Der Junge nannte sie weiter Lina. Sie griff mit ihren Händen nach hinten und umfasste den warmen Stamm des Baumes. Langsam ließ der Schwindel nach.

Sie wusste, dass sie als Lina Sandwey geboren worden war. Ihre Adoptiveltern hatten ihr das schon vor langer Zeit erzählt. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals Lina genannt worden wäre. Mit ihrer leiblichen Mutter war sie nur sieben Tage zusammen im Krankenhaus gewesen. Danach hatte ihre Mutter das Leben auf der Straße wieder aufgenommen.

»Außerdem ist dieser Schönheitswettbewerb eine Falle, Lina …« Wie selbstverständlich er den Namen aussprach. Jette fühlte Sehnsucht in sich aufsteigen. Wie in dem Märchen von Rapunzel, dachte sie, wo die Frau unbedingt den Salat auf der anderen Seite der Mauer haben will. Wie gern hätte sie ihre Mutter einmal gesehen. Nur einmal. Einfach um zu wissen, wie sie so war. Ihre Eltern hatten immer wieder versucht, sie zu finden. Aber nichts. Alle Nachfragen in Drogenambulanzen, Gefängnissen und Sozialämtern waren erfolglos geblieben.

Der Junge sprach immer noch. Jette sah ihn an. Wieder fiel ihr Blick zuerst auf die Sonnenbrille. Die Gläser waren sehr dunkel und die Augen dahinter nicht zu erkennen. Eigentlich war die Brille gar nicht so groß. Genau betrachtet handelte es sich sogar um ein eher dezentes Modell mit einem feinen kupferfarbenen Gestell. Und doch hatte die Brille etwas Monströses an sich. Sie schien das gesamte Gesicht zu dominieren, als wäre sie das Zentrum von allem. Ein totes Zentrum, dachte Jette. Wie ein schwarzes Loch, das alle Lebensenergie aufsaugt. Sie erschrak bei dem Gedanken. Am liebsten hätte sie dem Jungen ihre Hand auf die Wange gelegt – wie um die Macht der Sonnenbrille zu bannen.

»Hörst du mir eigentlich zu?«, fragte er plötzlich und hob den Kopf.

»Klar«, sagte Jette automatisch.

Der Junge wirkte mit einem Mal hilflos. Er kann mein Gesicht nicht sehen, dachte Jette. Er weiß nicht, ob ich zuhöre oder nicht.

»Erzähl bitte weiter«, sagte sie.

»Du kannst natürlich zur Polizei gehen«, fuhr er fort. »Aber wir haben keine Beweise. Man wird dir wahrscheinlich nicht glauben. Und …« Der Junge stockte. »… meine Eltern arbeiten für die Saalfelds. Wir wohnen in der Villa. Wenn Dr. Saalfeld herausbekommt, dass ich das alles weitererzählt habe, fliegen meine Eltern raus. Ich habe eine andere Idee, Lina …«

Da war der Name wieder. Sie hatte sich fast schon ein bisschen an ihn gewöhnt. Eine Szene in einem Film fiel ihr ein, den sie einmal im Fernsehen gesehen hatte. Darin ging ein junger Mann durch eine verbotene Tür, um herauszufinden, wie die richtige Welt dahinter aussah – jenseits der Grenzen seiner eigenen kleinen Kunstwelt, in der er aufgewachsen war. Auch ich gehe jetzt gleich durch eine solche Tür, dachte sie.

»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte sie den Jungen. »Weißt du etwas über meine Mutter?«

Der Junge hob irritiert den Kopf. Er brauchte einen Augenblick, um dem abrupten Themenwechsel zu folgen. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein, ich kenne deine Mutter nicht.«

»Aber du weißt doch etwas über sie?«

Der Junge überlegte. »Ich hab gehört, sie war hübsch.«

»War?«

»Wahrscheinlich ist sie es noch. Ich weiß wirklich nichts.«

»Aber du kennst meinen Namen von früher«, sagte Jette und blickte auf das Schild im Gras. Es war eine weiße Magnettafel, die der Junge mit einem dicken schwarzen Stift beschrieben hatte. Die Buchstaben waren gut leserlich, wenngleich sie am Ende einer Zeile in die Höhe flogen.

»Dr. Saalfeld hat ihn einmal erwähnt«, sagte der Junge. »Das ist alles. Ich kenne nur den Namen. Wie heißt du denn jetzt?«

Die Tür zur anderen Welt war nicht aufgegangen. Jette war enttäuscht. Sie hätte so gerne mehr über ihre Mutter erfahren. »Du hast also eine Idee?«, fragte sie. Sie fühlte sich auf einmal elend.

Der Junge zögerte eine Sekunde, aber dann sprach er weiter. »Du könntest dir selbst Blut abnehmen und es an einem geheimen Ort hinterlegen. Dann teilst du Dr. Saalfeld mit, dass, falls dir etwas passiert, dein Blut plus schriftliche Erklärungen an die Polizei gehen und zudem an alle wichtigen Unternehmen der Kosmetikindustrie. Dann kann er eigentlich kein Interesse mehr daran haben, dich in seine Gewalt zu bekommen. Verstehst du, Lina?«

»Nenn mich nicht Lina!«, fauchte Jette. »Ich heiße Jette.«

Der Junge machte ein dummes Gesicht.

»Ähm …«, stotterte er. »Gut, okay. Jette also.«

»Genau.«

»Ob das mit dem hinterlegten Blut eine Lösung auf Dauer ist, weiß ich nicht.« Der Junge redete unbeirrt weiter, doch er wirkte dabei immer unsicherer. Ihm war wohl inzwischen klar, dass Jette ihm kaum zuhörte. »Du solltest dir überlegen, ob du deine Gene generell der Forschung zur Verfügung stellen willst. Dann müsstest du eigentlich für immer sicher sein …«

Ich habe nicht einmal ein Foto von meiner Mutter, dachte Jette. Ich habe gar nichts. Kein Amulett, keinen Teddy, keine Stoffwindel mit Initialen oder was immer Mütter ihren Kindern normalerweise auf den Lebensweg mitgeben. Nichts außer einem Namen. Und den trage ich nicht mehr.

Jette lehnte sich vor und fragte: »Kannst du mich noch mal Lina nennen?«

Der Junge lachte. »Kann es sein, dass du dich nicht entscheiden kannst?«

»Wieso?«, gab Jette patzig zurück.

Der Junge überlegte einen Moment. Dann sagte er: »Wie findest du Lina-Jette?«

»Doof.«

»Jette-Lina?«

»Ich mag keine Doppelnamen.«

»Dann: Je…lina«, schlug er feierlich vor.

»Jelina?«, fragte Jette. »Das passt nicht zu mir. Das ist zu lieb und total langweilig.«

»Du willst einen bösen, aufregenden Namen?«

»Ja.«

»Ich weiß einen.«

»Welchen?«

»Hm«, machte der Junge und wand sich etwas. »Kann ich nicht sagen.«

»Wieso nicht?«

»Nur gute Freunde würden dich so nennen. Und ich kenne dich ja fast noch gar nicht.«

»Aber wenn du mir den Namen nicht sagst, dann werde ich ihn vielleicht nie erfahren.«

»Ich sag ihn dir später«, erklärte der Junge.

Jette lehnte sich wieder an den Baumstamm. Die Wärme des Holzes kroch in ihren Rücken. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Zeit zu haben. Sie lächelte. Der Junge konnte es nicht sehen, was ihr aber egal war.

»Ich habe Spritzen zum Blutabnehmen dabei«, sagte er nach einer Weile und zeigte auf seine Hosentasche. »Wenn du willst, helfe ich dir. Wir sollten es sofort machen.«

»Okay«, sagte Jette. Sie wusste zwar nicht wirklich, worum es ging, aber der Junge hatte sicher recht.

»Weißt du, wo wir hinkönnen? Wir brauchen einen Ort, wo uns niemand stört.«

»Komm mit!«, sagte Jette.

Der Junge erhob sich. Mit einer Hand stützte er sich am Boden ab. Mit der anderen schützte er seinen Kopf vor den herabhängenden Zweigen.

»Hast du keinen Stock?«, fragte Jette. »Oder einen Blindenhund?«

»Nein«, antwortete er knapp.

»Wie gehen wir dann?«

»Wenn es dir recht ist«, sagte er etwas hölzern, »lege ich meine Hand auf deine Schulter und laufe neben dir her.«

»Gut«, sagte Jette und klemmte sich das Schild unter ihren freien Arm.

Seine Hand war leicht. Unwillkürlich hob Jette den Blick, um ihn anzuschauen. Er war etwas größer als sie. Aber seinem Gesicht fehlte das Wesentliche – die Augen. Wie zurückgewiesen sah Jette zur Seite. »Gehen wir«, sagte sie tonlos.

Der Junge passte seinen Schritt dem ihren an. Wie ein einfühlsamer Tänzer reagierte er auf die kleinsten Bewegungen. Eine angedeutete Drehung ihres Oberkörpers reichte, und auch er änderte seine Richtung. Lief sie schneller, zog er noch im selben Moment nach. Er war so flink im Umsetzen ihrer Signale, dass Jette den Eindruck hatte, als wisse er noch vor ihr, wohin sie gingen.

Jette wählte den Weg über die Ampel. Sie sprang gerade auf Rot, als sie ankamen. »Wie siehst du eigentlich aus?«, fragte der Junge.

»Dunkle Haare, dunkle Augen, helle Haut«, antwortete Jette. »Und ziemlich große Ohren.«

»Quatsch.«

»Doch.« Jette lachte. »Man sieht sie nur nicht unter den Haaren.«

»Also hast du dicke Haare?«

»Ja. Mit Locken.«

»Aha.«

Sie schwiegen.

»Weißt du, für mich gibt es zwei Arten von Gesichtern«, sagte Jonah nach einer Weile. »Die, die ich schon kannte, als ich noch sehen konnte, und von denen ich weiß, wie sie aussehen. Und dann die, die ich nie gesehen habe.« Sein Tonfall war zwar sachlich, aber Jette konnte die Verzweiflung heraushören.

»Du kannst aber doch tasten, oder?«, versuchte sie ihn aufzuheitern.

»Ja, klar«, sagte er bitter.

»Wenn du willst, kannst du mein Gesicht abtasten.«

»Ich will aber nicht.«

»Und wenn ich dich darum bitte?«

»Was dann?«

»Tust du’s dann?«

Er schwieg.

»Komm, mach schon«, sagte Jette und legte seine Hände auf ihr Gesicht.

Die Hände des Jungen bedeckten fast ihr ganzes Gesicht. Jette spürte ihren warmen Atem unter seiner Hand. Sie versuchte, die Augen offen zu halten, strich beim Blinzeln aber mit ihren Wimpern an seiner Hand entlang und schloss die Augen schließlich.

Der Junge blieb eine Weile regungslos stehen. Dann öffnete er seine Hände und strich mit den Fingerspitzen ihre Stirn entlang nach außen. An den Schläfen drückte er seine Hände leicht an, und Jette spürte unter seiner Berührung das Blut in ihren Adern pochen. Er schob seine Hände weiter Richtung Stirn, spreizte die Finger, glitt tief in ihr Haar hinein und hielt es fest. So verharrte er einen Augenblick.

Dann wanderten seine Hände ihr Gesicht hinab. Mit den Fingerspitzen fuhr er ihre Augenbrauen nach, berührte die geschlossenen Augenlider, strich ihre Nase entlang, malte die Nasenflügel nach und erreichte fast die Lippen. Er formte mit seinen Händen eine weite Schale, und eine Weile ruhte ihr Gesicht darin.

Danach führte er seine Hände nach außen zu ihren Wangen, entdeckte dort ihren Leberfleck, umkreiste ihn, strich über ihn hinweg, schien sich irgendwie über dieses Muttermal zu freuen und wanderte weiter zu den Haaren und Ohren. »Segelohren«, stellte er nüchtern fest. Jette versuchte zu antworten. Aber ihr Gehirn produzierte eine Fehlschaltung, und sie biss sich stattdessen auf die Lippe. »Komm«, sagte der Junge. »Die Ampel ist grün, oder?« Er nahm ihre Hand.

Sie sagten nichts mehr, bis sie vor Annas Büdchen standen. Jette wies den Jungen auf eine Stufe am Eingang hin, wobei ihr auffiel, dass sie immer noch nicht wusste, wie er hieß. Im Innern des Kiosks lehnte die sechsundsiebzigjährige Anna weit über der Theke und beteiligte sich an den Gesprächen ihrer Kundschaft. Ein paar Leute aus der Nachbarschaft hatten sich an den zwei Stehtischen eingefunden.

»Hallo, meine Hübsche«, sagte Anna und strahlte die Neuankömmlinge an. Jette war ihre unangefochtene Lieblingskundin. Anna hatte sie aufwachsen sehen. Hier, in diesem Kiosk, hatte Jette mit drei Jahren ihr erstes Kaugummi bekommen, zur Einschulung durfte sie die Süßigkeiten aus ihrer Schultüte nach Belieben gegen andere eintauschen, und zu ihrem achten Geburtstag erfüllte Anna ihr ihren sehnlichsten Wunsch: mit einer Freundin im Kiosk zu übernachten und von allem naschen zu dürfen.

Jette fragte, ob sie im Hinterzimmer eine Cola trinken dürften. Anna nickte. Als sie mit dem Jungen an der Hand das Zimmer betrat, fiel ihr Blick wie immer auf die unzähligen Tanzfotos, die die Wände schmückten. Anna als Dornröschen, Anna als Cinderella, Anna im Schwanensee. Die Kioskbesitzerin war früher Tänzerin gewesen. Jette liebte die Bilder, die in einfachen Glasrahmen an der Wand hingen und von einer vergangenen Zeit erzählten. Der Junge neben ihr konnte sie natürlich nicht sehen.

Links neben der Tür stand ein Sofa mit einem kleinen Tisch. Daneben hing eine Wanduhr, deren Pendel weit ausschlugen. Die Uhr tickte laut. Es war kurz nach zwei. Auf der rechten Seite gab es einen kleinen Bistrotisch mit zwei Stühlen. Und vor dem Fenster stand ein Schaukelstuhl. Annas Katze hatte sich darauf zusammengerollt und blickte hoch. Als sie Jette erkannte, stand sie auf, sprang gegen die Lehne und rollte sich wieder zusammen.

»Die Katze schubst den Schaukelstuhl selbst an«, sagte Jette zu dem Jungen und lachte.

Sie setzte sich mit ihm an den Bistrotisch, und sie tranken ein paar Schlucke Cola.

»Anna war früher Tänzerin«, erzählte Jette.

»Aha.«

Stille.

»Hast du alles zum Blutabnehmen dabei?«, fragte sie den Jungen.

»Nur die Spritzen.« Er kramte in seinen Hosentaschen und förderte zwei Spritzen mit Kanülen zutage. »Wir brauchen noch etwas zum Abbinden. Vielleicht einen Gummihandschuh. Sollte nicht zu alt sein, damit er nicht reißt. Und etwas zum Desinfizieren. Am besten Schnaps. Und Taschentücher.«

»Willst du es selbst machen?«, fragte er, als Jette mit den Sachen zurückkam. Anna hatte ihr alles gegeben. Zum Glück hatte sie keine Fragen gestellt.

»Ich?« Jette zuckte zusammen. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. »Ich weiß nicht.«

»Ich kann dir das Blut auch abnehmen.«

»Du?«

»Ich hab das zwar noch nie gemacht, aber im Krankenhaus haben sie mir dauernd Blut abgenommen. Und manche Ärzte haben auch erklärt, was sie tun. Soll ich?«

»Ja.«

»Wir machen es am Arm.« Der Junge zeigte auf seine Armbeuge. »Als Erstes musst du die Einstichstelle desinfizieren. Schütte dir etwas Schnaps auf die Haut.« Er klang ruhig und bestimmt.

»An dem einen Arm hat mich was gebissen«, sagte sie. »Und an dem anderen hat mir jemand Blut abgenommen. Welchen willst du haben?«

»Wim Tanner?«

»Wer? Welchen Arm denn jetzt?«

»Den mit dem Einstich. Nicht den mit dem Biss.«

Jette griff nach der Flasche. Sie war schwer und mit einer Hand kaum zu halten. Als sie sich die Stelle desinfizieren wollte, ergoss sich ein ganzer Schwall Flüssigkeit über ihren Arm. Auf dem Boden bildete sich eine Lache.

»Mmh … Himbeeren«, sagte der Junge.

»Stimmt.« Jette lachte. »Himbeergeist.«

Der Junge ließ sich den Handschuh reichen, dehnte ihn, legte ihn um Jettes Oberarm und machte einen festen Knoten. »Trocknest du die Einstichstelle noch ab?«, bat er. »Und jetzt pumpen«, sagte er und öffnete und schloss zur Demonstration seine Faust. Dann packte er die Spritzen und Kanülen aus und setzte sie zusammen. Er arbeitete ruhig, tastete nach den Dingen, und Jette stellte fest, dass er gut zurechtkam. »Kannst du die Venen schon sehen?«, fragte der Junge.

»Ja«, sagte Jette und blickte auf ihre prall gefüllten, dunkelblauen Adern in der Armbeuge.

»Am besten legst du den Arm auf den Tisch«, sagte der Junge. Er fuhr mit den Händen über ihre Haut, tastete nach den angeschwollenen Venen, legte den Zeigefinger schließlich auf eine besonders große und sagte: »Die nehmen wir.« Er ließ sich von Jette die Nadel geben, setzte sie unter seinem Finger an, sagte behutsam »Achtung!« und stach vorsichtig in die Haut. Sofort sickerte dunkelrotes Blut in die Spritze. »Fließt es?«, fragte der Junge.

»Ja«, sagte Jette.

Der Junge zog langsam am Kolben der Spritze, und die Kammer füllte sich. Als der Anschlag erreicht war, wechselte er die Kammer aus und füllte eine zweite. Dann zog er die Nadel aus der Haut, drückte ein Taschentuch auf die Wunde und löste den Gummihandschuh.

Jette schüttelte ihren Arm. Er fühlte sich taub und schwer an. Das Blutabnehmen selbst hatte jedoch kaum wehgetan.

»Woher weißt du, wie tief du stechen musst?«, fragte sie.

»Man spürt es«, erklärte der Junge. »Wenn der Widerstand nachlässt, bist du in der Vene. Das hat mir mal ein Arzt gesagt. Es ist tatsächlich so.«

»Du bist echt mutig«, sagte Jette.

Kurz darauf standen sie wieder auf der Straße und lutschten Brausebonbons, die Anna ihnen mitgegeben hatte. Der Junge hielt sein Handy in der Hand und wollte ein Taxi rufen. In der Ferne säuberte ein Straßenkehrer mit schnellen Bewegungen den Rinnstein. Jette schaute dem Jungen zu, wie er mit den Fingerspitzen über die Tastatur fuhr. Er kenne jemanden in der Uniklinik, wo sie das Blut zwischenlagern könnten, hatte er gesagt. Wo sie es danach hinbrächten, müssten sie sich noch überlegen. Er hielt seinen Kopf etwas geneigt und wirkte sehr konzentriert. Seine blonden Haare, die er auf einer Seite länger trug als auf der anderen, fielen ihm ins Gesicht. Hinter den Rändern seiner Sonnenbrille schauten dichte dunkelblonde Augenbrauen hervor. Er hatte eine mittelgroße, fein geschnittene Nase. An den Schläfen konnte Jette jeweils eine lange schmale Narbe erkennen. Sie waren fast symmetrisch und schienen das Gesicht einzurahmen. »Warteschleife«, sagte der Junge und lauschte weiter in sein Handy.

Jette stellte auf einmal fest, dass die Sonnenbrille sie gar nicht mehr erschreckte. Jetzt muss ich nur noch wissen, wie er heißt, dachte sie. Aber irgendwie hatte sie den richtigen Zeitpunkt verpasst, um ihn nach seinem Namen zu fragen. Der Junge kam ihr inzwischen schon so vertraut vor. Und einen alten Freund fragte man ja auch nicht: Hey, wie heißt du eigentlich?

»Hallo!«, rief in dem Moment eine Frau neben ihnen und berührte den Jungen leicht am Arm. Sie hielt einen Autoschlüssel in der Hand. »Was macht ihr denn hier?«

»Carmen!«, stieß der Junge überrascht hervor und drehte sich zu ihr hin. »Und du?«, entgegnete er, ohne ihre Frage zu beantworten.

»Ich war bei Marie«, antwortete die Frau und klimperte mit ihrem Autoschlüssel. »Sie wohnt direkt da vorn, auf der anderen Straßenseite. Sie ist krank. Nur ’ne leichte Grippe, nichts Schlimmes. Ich habe ihr ein Buch vorbeigebracht. Und was macht ihr hier?«, wiederholte Carmen ihre Frage.

»Wir wollen zur Uniklinik«, sagte der Junge. »Einen Klassenkameraden besuchen.«

»Wenn ihr wollt, fahre ich euch. Das ist kein großer Umweg.«

»Das wär klasse«, sagte der Junge.

Der Beifahrersitz war mit Tüten voll gestellt, deshalb setzten sie sich nach hinten. Sie saßen dicht nebeneinander, zwischen ihnen nur ein kleiner Freiraum. Der Junge und Carmen unterhielten sich. Marie … Personal … Gartenfest … Jette hörte nicht genau hin. Der Junge roch nach Brausebonbons und Himbeerschnaps.

Die Frau sagte, sie müsse kurz halten, um einen Brief einzuwerfen. Der Wagen fuhr rechts ran, aber sie stieg nicht aus. Stattdessen wurden hinten plötzlich die Türen aufgerissen, und zwei Männer mit Motorradhelmen drängten sich neben sie. Bevor Jette etwas sagen konnte, spürte sie einen Stich im Nacken. Der Mann neben ihr hielt eine Nadel in der Hand. Jette wurde schwindelig. Der Junge rief: »Lassen Sie uns in Ruhe! Sie kriegen das Blut nicht! Dr. Saalfeld hat kein Recht …« Jette wollte aus dem Auto springen, aber der Mann drückte sie in den Sitz zurück und hielt sie fest. Ihr wurde auf einmal sehr übel. Sie versuchte zu schreien, bekam aber kein Wort heraus. In ihren Ohren rauschte es. Sie griff nach der Hand des Jungen. Mit letzter Kraft wandte sie ihm ihren Kopf zu. »Wie heißt du?«, fragte sie.

»Jo…«, antwortete er.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.