Die Blutprobe

Wim Tanner griff missmutig nach dem Autoschlüssel. Es war jetzt eine Woche her, dass er sein Mädchen, die Fledermaus, am See verloren hatte, und er hatte sich von dem Schlag noch nicht erholt. Es würde Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis er eine andere Fledermaus ebenso weit haben würde wie sein Mädchen. Und wer wusste schon, ob es überhaupt gelang? Vielleicht hatte sie ja eine besondere Begabung gehabt. Wim Tanner warf einen kurzen Blick in den Spiegel: Bundfaltenhose, Schlips, Halbschuhe. Ein ungewohntes Äußeres, aber so sah er wohl seriös aus. Er steckte sich noch eine Krawattennadel mit dem Emblem des Roten Kreuzes an und langte nach seinem Sakko. Auf zu Jette Lindner!

Er parkte das Auto ein paar Meter vom Hauseingang der Lindners entfernt. Auf der anderen Straßenseite bemerkte er einen seiner Partner, der in dieser Schicht die Beschattung übernommen hatte. Der Mann hatte sich als Eisverkäufer getarnt. Ist ja gar nicht auffällig, dachte Wim Tanner ungehalten. Ein Eiswagen mitten in einem Wohngebiet! Einfach so, ohne Grund. Am Abend würde er um eine bessere Tarnung bitten. Wim Tanner trat an die Haustür und klingelte. Die Eltern des Mädchens waren nicht da. Das hatte er vorher natürlich überprüft. Es wurde sofort aufgedrückt. Mit ruhigen Schritten ging er die Treppe hoch. Oben stand die Tür offen. Niemand war zu sehen. Er wartete einen Augenblick und rief dann fragend: »Hallo?«

Jette Lindner kam aus einem der Zimmer in den Flur und guckte überrascht. »Guten Tag?«, sagte sie. Sie hatte offensichtlich jemand anders erwartet. Wim Tanner erkannte unter ihrem weißen T-Shirt das Bikini-Oberteil vom See und war einen Moment irritiert. Doch dann lächelte er freundlich, schaute dem Mädchen in die Augen und räusperte sich. Jette Lindner erwiderte den Blick neugierig, und Wim Tanner war sofort klar, dass sie ihn nicht aus Verlegenheit abwenden würde, dafür war sie zu selbstbewusst. Er zog einen gefälschten Mitarbeiterausweis und ein kleines Faltblatt aus der Jackeninnentasche.

»Manfred Weiland. Deutsches Rotes Kreuz«, sagte er und hielt dabei seinen Ausweis hoch. »Sie haben vielleicht im Fernsehen oder durch unsere Aushänge mitbekommen, dass wir dringend eine junge Knochenmarkspenderin suchen. Darf ich Ihnen ein Informationsblatt geben?«

Das Faltblatt zeigte ein fröhlich lachendes Mädchen. Daneben stand in großen Buchstaben: »Sissi Rüter sucht einen Knochenmarkspender!« Und weiter: »Die achtjährige Sissi hat myeloische Leukämie. Das ist eine bei Kindern seltene Blutkrebsart. Sissi braucht sofort eine Knochenmarkspende. Bitte lassen auch Sie Ihr Blut untersuchen, damit wir klären können, ob Sie als Spender in Frage kommen. Die kleine Blutentnahme tut nicht weh und kann vielleicht Sissis Leben retten.«

»Ja, ich habe die Anschläge gesehen«, sagte Jette Lindner. »Sie hängen hier an fast jedem Baum. Wie geht es dem Kind denn?«

»Es hat hohes Fieber«, sagte Wim Tanner. »Die Zeit läuft uns davon. Wir finden einfach keinen passenden Knochenmarkspender. Aber die Eltern geben nicht auf.«

»Und jetzt möchten Sie, dass ich eine Blutprobe abgebe?«

»Wenn es Ihnen nicht zu viel Umstände bereitet.« Eigentlich hatte Jette mit Klara gerechnet. Sie hätte schon längst da sein sollen. Es war Samstag, Jettes Eltern waren gestern Abend nach Venedig geflogen, und Klara würde Jette Gesellschaft leisten, solange sie allein war.

Der Mann vom Roten Kreuz wirkte irgendwie seltsam. Aber wahrscheinlich machte es nicht gerade Spaß, Leute an der Haustür um eine Blutspende zu bitten. »Es dauert nicht lange, vielleicht fünf Minuten«, sagte der Mann in einem bittenden Tonfall.

Was sollte sie tun?

Sie ließ sich den Ausweis reichen und bat den Mann, vor der Tür zu warten. Dann ging sie ins Wohnzimmer, suchte im Telefonbuch nach der Nummer des Roten Kreuzes und rief dort an. Ein Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung bestätigte ihr die Angaben von Herrn Weiland: Ja, der Herr sei ehrenamtlicher Mitarbeiter. Jette ging zurück in den Flur. Auf halbem Weg hörte sie den Besucher ungeduldig mit den Fingern schnippen. Als er sie bemerkte, hörte er damit auf.

»Kommen Sie herein«, sagte Jette. Sie führte den Mann ins Wohnzimmer und bat ihn, auf der Couch Platz zu nehmen. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Ein Wasser, gern.«

Sie brachte ihm ein Glas, setzte sich auf den Sessel ihm gegenüber und fragte: »Wie möchten Sie das Blut abnehmen?«

»Bleiben Sie ruhig dort sitzen. Das geht gut«, sagte er. Der Mann öffnete eine Arzttasche und nahm eine Spritze, eine Kanüle und einen Schlauch heraus. »Darf ich?«, fragte er und stand auf.

Jette nickte.

Er nahm ihren Arm, an dem sie schon ein Pflaster hatte. »Was ist denn da passiert?«, fragte der Mann freundlich.

»Ein Biss. Oder vielleicht auch was anderes. Nehmen Sie besser den anderen Arm.«

»Okay.«

»Wo haben Sie eigentlich gelernt, Blut abzunehmen?«, fragte Jette.

»Ich war früher Krankenpfleger«, sagte der Mann.

»Und heute?«

»Gärtner.«

Jette schaute zu, wie er mit dem Daumen nach einer geeigneten Vene tastete. Es war ein sehr sauberer Daumen mit einem sorgfältig geschnittenen Nagel. Ohne Dreckrand. Und das als Gärtner, dachte Jette.

»Ein schöner Beruf«, sagte Jette laut. »Setzlinge ziehen, Blüten abstützen, Erdbeeren ernten. Aber wahrscheinlich gibt es auch schwere Arbeiten, Beete ausheben, Erde aufschütten und so weiter?«

»So ist es«, antwortete der Mann.

»Für jemanden, der sich die Hände nicht schmutzig machen möchte, ist das sicher nichts.«

»Das stimmt …«, sagte der Mann. Er hielt inne und sagte dann: »Ich habe zum Glück viele Mitarbeiter.«

»Wie schön für Sie«, sagte Jette.

»Ich lege jetzt den Schlauch an.« Er beugte sich über sie. Sein Jackett streifte ihr Gesicht. Jette roch Seife und frischen Schweiß. Sie blickte von unten in sein angespanntes Gesicht. »Wenn Sie jetzt bitte einen Augenblick warten«, sagte er und trat wieder zurück.

»Was muss man denn mitbringen, wenn man Gärtner werden will?«, fragte Jette.

Der Mann wirkte etwas irritiert angesichts ihres anhaltenden Interesses an seinem Beruf. »Liebe zu Pflanzen, Geduld, Fleiß, Geschick«, erklärte er.

»Wahrscheinlich darf man auch nicht zimperlich sein?«

»Da haben Sie recht«, sagte er. »Holz hacken, Teiche ausheben, Kies aufschütten, gehört alles dazu.«

»Und Sie müssen alles aus dem Weg räumen, was stört.«

»Steine, Wurzeln, Gestrüpp, natürlich.«

»Auch Lebendiges?« Wieso fragte sie das? Irgendwie fühlte sie sich von dem Mann provoziert.

Er antwortete nicht. Seine Augen blickten kalt.

»Zum Beispiel Schnecken?«, fuhr Jette plaudernd fort. »Wie machen Sie es? Schnipp, schnapp?« Sie machte mit den Fingern ihrer freien Hand eine Schnittbewegung.

»Wir streuen biologische Schneckenmittel aus«, sagte er ruhig.

Wim Tanner desinfizierte die Einstichstelle und setzte die Spritze an. Als er zustach, zuckte das Mädchen kurz zusammen. Sie saß kerzengerade in ihrem Sessel und blickte in sein Gesicht. Was sollten die ganzen Fragen? Ob sie etwas ahnte? Auf jeden Fall beobachtete sie ihn. Aber die Umleitung des Telefons hatte perfekt geklappt.

Aus Jettes Vene tropfte dunkles Blut und füllte die Spritze. Als der Blutfluss etwas abebbte, lockerte Wim Tanner den Schlauch. Sofort schwoll der Strom wieder an. Das Mädchen war ihm ausgeliefert, dachte er. Wie sie so dasaß und an seiner Nadel hing. Wenn sie sich jetzt bewegte, täte es ihr weh. Die Vorstellung gefiel ihm. Er schaute sie an, um seine Überlegenheit auszukosten, schrak aber sofort zurück. In ihrem Gesicht spiegelte sich glühender Stolz. Diese Jette Lindner saß in ihrem Sessel, als wäre sie die Königin von Saba und er allenfalls ein Liebesdiener. Und dabei könnte er sie, hier und jetzt, einfach aussaugen. Anderthalb Liter würde sie entbehren können. Mehr nicht. Danach hätte ihr Körper nicht mehr genug Blut, um alle Zellen mit Sauerstoff zu versorgen. In diesem Augenblick hob sie ihren Kopf noch etwas weiter in die Höhe, was eigentlich kaum noch möglich war, und sah ihm in die Augen. Wim Tanner wurde langsam wütend, aber er war Profi. Gefühle hatten bei der Arbeit nichts zu suchen. Er konzentrierte sich wieder auf das Blutabnehmen.

»Drücken Sie noch eine Weile auf das Pflaster«, sagte der Mann vom Roten Kreuz, »dann gibt es keinen Bluterguss.«

»Okay«, sagte Jette.

Der Mann beschriftete die Blutprobe und packte dann seine Sachen.

»Vielen Dank«, sagte er.

»Keine Ursache. Wenn es hilft …«, antwortete Jette. »Wie geht es denn jetzt weiter?«

»Wir melden uns, falls Sie als Spenderin infrage kommen.«

Jette begleitete den Mann zur Tür und öffnete sie. Fast gleichzeitig klingelte es. Klara schien endlich zu kommen. »Auf Wiedersehen«, sagte Jette. Der Mann nickte ihr zu und ging schnell die Treppe hinunter. Als Klara an ihm vorbeikam, blickte er nicht auf.

Klaras Blick fiel als Erstes auf das Faltblatt mit dem lachenden Mädchen, das auf der Konsole im Flur lag.

»Das ist nicht echt«, sagte Klara.

Jette zog fragend ihre Augenbrauen hoch.

»Meine Schwester wollte ihr Blut untersuchen lassen und hat beim Roten Kreuz angerufen. Die wussten nichts davon. Die haben damit nichts zu tun. Das müssen Betrüger sein.«

»Komisch«, sagte Jette, »ich habe mir gerade von dem Mann Blut abnehmen lassen.« Sie machte eine Handbewegung in Richtung Treppenhaus.

»Bist du verrückt?«, fragte Klara entgeistert. Dann befahl sie: »Los, hinterher! Hol deinen Schlüssel! Mach schon!«

Unten auf dem Bürgersteig fragte sie: »Ist er das?« Ein paar Meter weiter stieg ein Mann gerade in ein parkendes Auto. »Ja«, sagte Jette und die beiden rannten los. Doch bevor sie ihn erreichten, fuhr der Mann weg. »Verdammt, zu spät«, sagte Klara. »Der hatte einen Mietwagen.«

»Wir passen ihn vorne ab«, sagte Jette. »Wo man auf die Hauptstraße kommt.« Klara verstand. Aus Jettes Wohnviertel führte nur ein einziger Weg zur Hauptstraße, und dieser auch nicht direkt, sondern wegen verschiedener Einbahnstraßen über einen Umweg. Man brauchte eine Weile, bis man mit dem Auto draußen war.

»Kannst du mir mal sagen«, fragte Klara im Laufen, »warum du dir von wildfremden Leuten Blut abnehmen lässt?«

»Er hatte einen Ausweis«, rechtfertigte sich Jette. »Außerdem hab ich beim Roten Kreuz angerufen, und die sagten, dass er ehrenamtlich für sie arbeite.«

»Versteh ich nicht«, sagte Klara.

»Ich fand den Typ auch komisch.«

»Und wieso hast du ihn dann überhaupt reingelassen?«

»Hm«, machte Jette und schnappte nach Luft. »Es war ja nur so ein Gefühl von mir. Ich meine, wenn die wirklich einen Knochenmarkspender suchen, muss man doch helfen.«

»Du solltest vorsichtiger sein.«

»Als der bei uns im Wohnzimmer stand, hab ich …« Jette zögerte. »… so eine Grausamkeit an ihm gespürt. Ich hab ihn gefragt, ob er auch Lebendiges aus dem Weg räumt.«

»Du hast was?« Klara wirkte nun wirklich beunruhigt.

»Na ja, also nicht direkt, nur so durch die Blume. Er ist Gärtner.«

»Pass bitte besser auf dich auf.«

»Du redest ja wie meine Mutter«, sagte Jette japsend.

»Und wenn schon.«

»Du weißt doch: Ich hab in Drachenblut gebadet.«

»Bleib doch mal ernst, Jette.«

»Da ist er«, keuchte Jette auf einmal und zeigte auf einen Mietwagen, der sich langsam näherte. Sie waren keine Sekunde zu früh. »Und jetzt?«

»Du holst dir dein Blut zurück«, sagte Klara.

»Und wie bitte?«, fragte Jette.

Der Wagen war nur noch ein paar Meter entfernt. Jette und Klara duckten sich hinter einem parkenden Auto. Eine Mutter mit einem Kinderwagen drängte sich an ihnen vorbei. Die Frau hatte das weinende Baby auf dem Arm und schob mit der freien Hand den Wagen. Plötzlich stand Klara auf, sagte: »Darf ich mal?«, und schubste den Kinderwagen direkt vor den heranrollenden Mietwagen. Der Fahrer bremste scharf, hatte aber keine Chance. Das Auto erfasste den Kinderwagen und schleuderte ihn zur Seite. Dort blieb er verbogen liegen. Der Fahrer stürzte aus dem Auto und eilte zu dem kaputten Kinderwagen. »Ich lenk ihn ab«, flüsterte Klara. »Hol du das Blut.«

Jette kroch hinter den parkenden Autos den Bürgersteig entlang, bis sie sich auf der Rückseite des Mietwagens befand. Sie hörte Klara den Mann anbrüllen, er solle doch besser aufpassen. Jette ging von hinten auf das Auto zu, sah die Arzttasche auf dem Rücksitz liegen, öffnete leise die Tür, griff die Tasche und schlenderte davon. Sie hörte den Mann noch zu Klara sagen: »Dich hab ich doch eben schon mal gesehen …«, dann war sie um die Ecke verschwunden.

Jette rannte los. Hin und wieder schaute sie sich um, aber niemand folgte ihr. Völlig außer Atem bog sie in eine Hauseinfahrt ein. Wo sollte sie überhaupt hinlaufen? Nach Hause? Und wenn der Mann zurückkam? Zur Polizei? Die einzige Dienststelle, die sie kannte, lag genau in der Richtung, aus der sie gerade kam. Womöglich lief sie dem Betrüger so direkt in die Arme. Jette entschied sich, zu Klara zu gehen. Das war die Richtung, in die sie gerade lief, und Klara würde sicher auch gleich dort vorbeikommen. Bevor Jette weiterging, öffnete sie die Arzttasche und schaute nach, ob die Blutprobe auch da war. Ja, dort lag eine mit ihrem Namen beschriftete Probe. Sie nahm sie heraus und hielt sie unschlüssig in der Hand. Dann stopfte sie sie in ihren rechten Strumpf und zog ihn bis zum Knie hoch. Das Gummiband saß fest und schnitt unter ihrer Kniekehle in die Haut ein. Wie gut, dass sie am Morgen nur Kniestrümpfe gefunden hatte.

Sie ging zur Straße zurück und spähte vorsichtig um die Hausecke. Verdammt, der Mann stand etwa hundert Meter entfernt auf dem Bürgersteig und suchte mit den Augen die Straße ab. Jette war sich nicht sicher, ob er sie gesehen hatte. Wenn ja, saß sie hier in der Einfahrt in der Falle. Sie griff nach der Tasche und trat die Flucht nach vorn an – sie rannte los. Einen Augenblick später hörte sie die Schritte ihres Verfolgers hinter sich.

Der Mann holte schnell auf. Fliegen wäre jetzt gut, dachte Jette. Sie lief an einem Mädchen vorbei, das auf dem Bürgersteig einen Motorroller startete. Es trug Zöpfe und keinen Helm. Es sah nett aus. Jette stoppte scharf. »Kannst du mich mitnehmen?«, keuchte sie. »Der verfolgt mich.« Sie machte eine Armbewegung hin zu dem Mann, der sie fast erreicht hatte. Das Mädchen nickte und fuhr fast in derselben Sekunde an. Jette schwang sich auf den fahrenden Roller. Mit der einen Hand hielt sie sich an dem Mädchen fest, mit der anderen umklammerte sie die Tasche.

»Was wollte der denn?«, fragte das Mädchen, das mit hoher Geschwindigkeit durch die Seitenstraße sauste.

»Mein Blut«, sagte Jette matt.

Das Mädchen kicherte. »Ein Vampir?«

»Vielleicht«, sagte Jette. »Wo fährst du hin?«

»Ins Stadion. Bin viel zu spät. Wenn ich Glück hab, komm ich noch zur Halbzeit. Ich hab Dienst, bin Sani.«

»Sani … was?«, fragte Jette.

»Sanitäter.«

Ein Taxi drängelte sich neben sie auf die Spur.

»Idiot!«, schimpfte das Mädchen. »Kann der nicht hinter uns bleiben?!«

Hinter den Autoscheiben erkannte Jette das kantige Gesicht ihres Verfolgers.

»Welchen Weg nimmst du?«, fragte sie das Mädchen.

»Über die Wiese. Das ist am schnellsten.«

»Dürfen da Autos fahren?«

»Nein.«

»Gut«, sagte Jette erleichtert. So würde sie den Mann abhängen können.

Als sie die Wiese erreicht hatten, hielt das Taxi an. Jette sah, wie der Mann ihnen zu Fuß hinterherlief. Doch der Abstand zwischen ihnen wurde schnell größer. Der Mann hatte keine Chance.

»Komm doch mit mir rein«, sagte das Mädchen, während sie den Roller abschloss. »Ist kein Problem. Wir nehmen den Angestellteneingang. Und wenn das Spiel vorbei ist, gehst du mit dem ganzen Pulk raus. Da findet dich garantiert niemand.«

»Danke«, sagte Jette.

Als sie drinnen waren, hob das Mädchen den Mittelfinger ihrer geschlossenen Hand in die Höhe. »Zeig’s ihm!«, sagte sie grinsend.

Jette lachte und winkte ihr hinterher. Dann kaufte sie sich eine Cola und schlenderte zur halb leeren Zuschauertribüne. Sie lehnte sich an das Geländer, setzte die Tasche auf dem Boden ab und legte ihre Jacke darüber. Sie ließ den Blick schweifen. Das Stadion war riesig. Es war zur letzten WM extra neu gebaut worden. Sie hatte es jedoch noch nie von innen gesehen. Es besaß ein gläsernes Vordach, Tausende von orangefarbenen Sitzplätzen und eine riesige Leinwand. Aus den Lautsprechern dröhnte Musik. Ein paar Meter weiter schlenderte ein Mann vorbei, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Es war der Eisverkäufer, der vorhin mit seinem Wagen noch vor ihrem Haus gestanden hatte. Merkwürdig.

»Wo ist die Blutprobe?«, hörte Jette plötzlich eine wütende Stimme hinter sich. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand auf einmal der Mann vom Roten Kreuz neben ihr. Sie spürte seinen eisernen Griff am Handgelenk. »Her damit!«, befahl er und quetschte ihr Armgelenk.

»Lassen Sie mich los! Sonst rufe ich die Polizei.«

»Das wirst du schön bleiben lassen.«

»HALLO! … HILFE!«, rief Jette in Richtung zweier Männer, die ein paar Meter entfernt Bier trinkend auf ihren Sitzen saßen. Aber ihr Rufen ging in der Musik des Stadions unter. »HALLO!!!?«, brüllte Jette noch einmal, so laut sie konnte. Endlich blickten die Männer auf.

»Die Po…«, setzte Jette an.

»Könnten Sie bitte die Polizei holen«, kam ihr Verfolger ihr mit kräftiger, verbindlicher Stimme zuvor. »Diese Göre hat meine Brieftasche gestohlen.«

Die Männer kamen herüber. Sie trugen Fußballtrikots.

»Bitte rufen Sie die Polizei«, sagte Jette. »Der Mann ist ein Betrüger.«

Die beiden Fußballfans schauten verdutzt in die Runde. In ihren Gesichtern spiegelte sich ein großes Fragezeichen. Dann murmelte einer von ihnen »Okay, okay« und machte sich auf den Weg. Der andere blieb stehen, wo er war, und starrte Jette unverhohlen an.

Der Mann vom Roten Kreuz hielt sie mit der einen Hand fest, mit der anderen tastete er ihre Hosentaschen ab.

»Lassen Sie mich los!«, schrie Jette.

Doch er achtete nicht auf sie.

»Helfen Sie mir!«, rief Jette dem Mann zu, der immer noch mit Glotzen beschäftigt war.

»Könnten Sie das Mädchen bitte in Ruhe lassen, bis die Polizei kommt?«, sagte der Fußballfan lahm.

Der Mann vom Roten Kreuz drängte sie ans Geländer und bückte sich zu der Arzttasche hinunter. Er änderte seinen Griff und hielt sie jetzt am Knöchel fest. Jette versuchte zu treten, hatte aber keinen Platz. Der Mann durchsuchte die Arzttasche. Er ging systematisch vor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Blutprobe in ihrem Strumpf fand. Sie musste abhauen. Oder den Mann zumindest hinhalten, bis die Polizei kam. Bloß wie? Sie schaute sich um. In ihrer Reichweite gab es nur das Geländer, an dem ein überquellender Aschenbecher befestigt war. Irgendjemand hatte eine halb volle Tüte mit Gummibärchen hineingestopft. Eine Armada von Ameisen machte sich über die süßen Reste her.

Der Mann durchwühlte immer noch die Arzttasche. Sein T-Shirt war etwas hochgerutscht, und durch die gebückte Haltung stand seine Hose hinten am Bund ab. Das Gummiband einer bunten Unterhose war zu sehen.

Einen Augenblick zögerte Jette. Dann zog sie mit spitzen Fingern die Süßigkeitentüte aus dem Aschenbecher und griff hinein. Im Innern klebte und wuselte es. Die Ameisen waren ihre Chance. Sie nahm eine Handvoll Gummibären aus der Tüte, hob die Unterhose des Mannes kurz an und schob das klebrige Zeugs schnell hinein. Der Mann richtete sich auf. Er hielt sie jetzt wieder am Arm fest. »Was soll das denn?«, fragte er irritiert und fasste sich an den Hintern.

Eine Zeit lang suchte der Mann einfach weiter. Dann aber griff er sich hinten in die Hose und förderte ein paar zerdrückte Gummibärchen zutage. Ungläubig blickte er auf das Süßzeug. Jette sah eine Ameise auf seiner Hand, die versuchte, sich schnell in Sicherheit zu bringen. Der Mann schleuderte die Bären auf den Boden und wandte sich erneut der Tasche zu. Aber er hatte jetzt ein Problem, das war offensichtlich. In immer kürzeren Abständen presste er seine Pobacken zusammen. Und dann ging es auf einmal richtig los: Der Mann sprang völlig unvermittelt wie ein junges Zicklein zur Seite, bewegte wiederholt das Becken vor und zurück und rieb auf obszöne Weise die Oberschenkel aneinander. Sein Gesicht war verzerrt. Der Mund fest zusammengepresst. Eine ganze Menge Ameisen mussten in der Hose zurückgeblieben sein. Jette sah dem Schauspiel etwas unsicher zu.

Im Stadion wurden bereits Stimmungslieder gespielt. Die Pause schien fast zu Ende zu sein. »Gehen Sie doch auf die Toilette …«, sagte der Mann im Fußballtrikot, dem die Verrenkungen nicht verborgen geblieben waren. Aber Jettes Verfolger achtete nicht auf ihn. Er wühlte weiter in seiner Hose herum, biss die Zähne zusammen, atmete tief durch und knetete seine Lippen. Dann stöhnte er kurz auf und griff sich einmal mehr an die Hose. Die Zuschauer im Stadion grölten.

Einem plötzlichen Impuls folgend hob Jette den Kopf und erstarrte. Auf der Leinwand sah sie überlebensgroß den Mann, der ihr gegenüberstand und sie immer noch festhielt, während er verzweifelt mit dem Po wackelte. Im ersten Moment dachte Jette an eine Täuschung. Aber dann wurde ihr klar, dass irgendeine Kamera die Szene einfing und direkt übertrug. Als Pausenfüller. Ihr Verfolger bekam davon nichts mit. Die Leinwand befand sich hinter seinem Rücken.

»Verdammt!«, schrie der Mann plötzlich. Er ließ Jette los und riss sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit die Hose herunter. Zum Vorschein kam ein Herrenslip mit einem hellen bunten Wellenmuster. Der Mann bückte sich, und ohne den Slip auszuziehen, schüttelte und wischte er an ihm herum. Dann erhob er sich schnell wieder und zog die Hose hoch. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck völliger Erschöpfung. Nichts wie weg!, dachte Jette. Doch da drehte sich der Mann um und blickte auf der Stadionleinwand direkt in das Muster seiner Unterhose. Dort wurde mit ein paar Sekunden Verzögerung das Ameisenfinale live übertragen. Der Mann schaute abwechselnd zu Jette und zur Leinwand. Langsam verwandelte sich sein Gesichtsausdruck von Ungläubigkeit zu schrecklicher Gewissheit. Er machte einen Schritt auf Jette zu.

Jetzt rannte sie endlich los. Aber mehr als Laufschritt war nicht drin. Zwei Schritte nach rechts, einen nach links, dann ein kleiner Frontalzusammenstoß mit einem Senioren. Und weiter, die ganze Zeit die »Kannst-du-nicht-Aufpassen«-Rufe im Ohr. Irgendwann blickte sie hastig zurück. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Sie suchte die Menge nach ihm ab, doch er schien ihr nicht gefolgt zu sein. Sie verschnaufte und ließ den Oberkörper nach vorn fallen. Ihr war elend zumute. Sie hatte jetzt einen Feind. Und wusste nicht einmal, wer der Mann war.