Eine schlimme Nachricht

Als Jonah durch die Tür in Annas Hinterzimmer trat, dachte er eine Sekunde lang, Jette wäre da. Alles war wie an jenem Nachmittag, als sie sich kennengelernt hatten. Er hätte schwören können, dass ein leichter Geruch von Himbeergeist in dem Raum hing.

Die Wanduhr tickte wie immer übertrieben laut vor sich hin. Und auch jetzt bewegte sich der Schaukelstuhl am Fenster mit einem leisen Knarren. An jenem Tag hatte ihn die Katze in Bewegung gehalten. Jetzt saß dort wahrscheinlich eines der Mädchen.

»Hallo«, sagte Jonah in das Zimmer hinein.

»Hi«, sagte Charlie.

»Dukie hat gerade angerufen«, sagte Klara. »Er hat was herausgefunden. Hat aber nicht gesagt, was. Er kommt, so schnell er kann.«

»Typisch Dukie«, murmelte Jonah. »Wenn er irgendwann mal direkt sagt, was Sache ist, werde ich mir ernsthaft Sorgen um ihn machen.«

Sie hatten jetzt bei Anna eine Art Hauptquartier. Er, Dukie, Klara und Charlie. Nachdem Wim Tanner Jette auf dem Acker mitgenommen hatte, war ihnen sofort klar gewesen, dass sie gemeinsam nach ihr suchen mussten. Daher hatten sie auch Annas Angebot, das Hinterzimmer des Kiosks als Treffpunkt zu nutzen, gleich angenommen. Hier kamen sie nun jeden Morgen zusammen, tauschten Informationen aus, besprachen das weitere Vorgehen und machten sich Mut. Da Sommerferien waren, konnten sie sich ganz auf die Suche konzentrieren.

Jette war inzwischen seit zwei Wochen verschwunden. Sechs Tage war sie mit Jonah im Tropenhaus eingesperrt gewesen. Acht lange Tage wurde sie nun an einem anderen Ort gefangen gehalten, allein, ohne Jonah. Sie war jetzt schon länger in der Gewalt von Wim Tanner, als Jonah sie kannte. Das war ihm heute Morgen beim Zähneputzen aufgefallen, und er hatte plötzlich eine unbändige Angst davor bekommen, dass er Jette womöglich niemals wiedersehen würde.

»Wir fangen am besten direkt mit der Lagebesprechung an«, sagte Jonah jetzt und setzte sich an den kleinen Tisch. »Wer weiß, wann Dukie hier auftaucht …« Er wandte seinen Kopf zur Couch, wo er Klara vermutete. »Gibt’s was Neues von der Polizei?«

Klara raschelte mit Papier. »Eine ganze Menge«, sagte sie und holte tief Luft.

Jonah war ihr dankbar. Sie akzeptierte, dass er das Tempo vorgab, und schien zu verstehen, dass er nicht anders konnte. Vom ersten Augenblick an, als er im Krankenhaus ohne Jette aufgewacht war, hatte er das Gefühl gehabt, voranstürmen zu müssen, sie mit aller Kraft finden zu müssen. Er hatte seine Aussage gemacht, sich einen Blindenstock besorgt und dann das Krankenhaus verlassen. Noch am selben Nachmittag hatten er und Dukie der Polizei beim Durchsuchen der Villa geholfen. In den folgenden Tagen hatte er ein Täterprofil von Wim Tanner erstellt. Und mit Hilfe von Charlie hatte er mehrere Lehrbücher über Ermittlungsarbeit gelesen und zahlreiche Fachartikel durchgearbeitet. Sie hatten nicht vor, sich nur auf die Polizei zu verlassen, und sich daher so viel Wissen wie möglich angeeignet. Was immer sie selbst leisten konnten, mussten sie tun. Darüber hinaus ging es aber auch darum, der Polizei klarzumachen, dass sie ihr Vorgehen sorgfältig verfolgten. Jonah hoffte, dass die Polizei dann besonders gründlich ermitteln würde. Vielleicht war das aber auch gar nicht mehr nötig. Es gab inzwischen ein neues Ermittlungsteam, das mit Hochdruck nach Jette suchte.

Was ihr eigenes »Ermittlungsteam« betraf, hatte Jonah jeden an der Stelle eingesetzt, wo er am nützlichsten war. Dukie hörte natürlich wieder die Villa ab. Allerdings hatte er damit bisher keinen Erfolg gehabt. Auf den Bändern war entweder gar nichts drauf gewesen oder nur Rauschen. Sehr ärgerlich war, dass Dukie die alten Bänder in der Villa zurückgelassen hatte und Dr. Saalfeld sie offenbar weggeschafft hatte. Womöglich hätte irgendein Tontechniker doch noch eines der alten Gespräche retten können. Nun waren die Beweise verschwunden.

Klara hatte die Aufgabe, sie mit allen erdenklichen Informationen aus dem Polizeipräsidium zu versorgen. Sie ließ sich fast täglich unter irgendwelchen Vorwänden Termine bei den ermittelnden Kommissaren geben, dehnte diese bis ins Unermessliche aus und sog in dieser Zeit alles, was sie aufschnappen konnte, in sich auf. Sie hatte auch keine Probleme mehr damit, vorgelassen zu werden. Seitdem der Polizeipräsident einen Rüffel vom Oberbürgermeister erhalten hatte, weil seine Leute den Ernst der Lage zu spät erkannt hatten, wurden potenzielle Zeugen geradezu hofiert.

Charlie, die Vierte im Bunde, war wie von Geisterhand sowieso immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und dann gab es seit Neuestem noch Benno Krawtschik, den Aufzugführer von Stayermed. Bis vor Kurzem hatte er den Vorstandsfahrstuhl bedient, war dann aber zum Kantinenaufzug strafversetzt worden. Benno Krawtschik hatte ihnen angeboten, sich mit seinem unerschöpflichen Krimiwissen nützlich zu machen. Einmal am Tag meldete er sich telefonisch, fragte nach dem neuesten Stand und besprach mit ihnen das weitere Vorgehen. Während Jonah die Telefonate anfangs als Zeitverschwendung empfand, wusste er sie inzwischen zu schätzen. Benno Krawtschik hatte exzellente Antennen für alles Auffällige und wusste erstaunlich gut über neue kriminaltechnische Errungenschaften Bescheid. Und auch ansonsten hatte er von vielen Dingen Ahnung. Er war es, der ihm erklärt hatte, warum das mit dem Strom im Tropenhaus nicht funktioniert hatte. »Noch nie was von Überspannungsschutz gehört?« Das Elektrikbuch war einfach zu alt gewesen.

Es gab nur eine Sache, über die Jonah mit niemandem sprach, während er Jette fieberhaft suchte: Er hatte nicht den Eindruck, dass es seine eigene Kraft war, die ihn antrieb. Die war vor langer Zeit unter einem Lastwagen geblieben. Jette war wie ein Komet in sein Leben gerast und riss ihn mit sich fort. Er bewegte sich in ihrem Kraftfeld, folgte ihrer Bahn. Manchmal kam er sich wie ein blinder Himmelsstern vor, der unversehens in das Energiefeld eines mächtigen Kometen geraten war und nun durchs Weltall geschleudert wurde.

»Am interessantesten ist vielleicht, dass diese Carmen ihre Aussage bei der Polizei zurückgezogen hat«, sagte Klara.

»Weiß ich schon«, antwortete Jonah schroff. »Brauchen wir nicht drüber zu reden.« Er spürte regelrecht, wie sich auf den Gesichtern der Mädchen Fragezeichen bildeten. »Sie hat mich angerufen und es mir erzählt.« Er hatte keine Lust, näher darauf einzugehen. Carmen! Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sie gemocht hatte. Sie hatte sich bei ihm entschuldigt, aber er hatte ihr gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren. Sie hatte ihm trotzdem von ihrem nichtsnutzigen Freund erzählt, der vor vielen Jahren einmal Geld bei Stayermed unterschlagen hatte und nur deshalb nicht aufgeflogen war, weil Dr. Saalfeld die Sache vertuscht hatte. Saalfeld habe sie erpresst, und was sie denn hätte tun sollen, heulte sie. Ihr Freund habe doch schon öfter im Gefängnis gesessen und würde es dort keinen weiteren Tag aushalten. Dr. Saalfeld hätte ihn wegen der Sache von damals doch noch angezeigt, wenn sie nicht … Und außerdem habe Dr. Saalfeld ihr versprochen, dass er Jonah und dem Mädchen nichts tun würde und dass er sie schnell wieder freiließe.

»Der blonde Gangster hat übrigens gestanden«, fuhr Klara schließlich fort. »Er sagt, er habe seine Befehle von Wim Tanner erhalten. Dr. Saalfeld ist also wieder mal fein raus. Außerdem sucht die Polizei noch den Mann, der die Hebebühne bedient hat. Aber der Blonde sagt, er habe ihn nicht gekannt. Ansonsten habe ich noch jede Menge Kleinigkeiten.« Bei dem letzten Satz hatte sie fragend ihre Stimme gehoben.

»Sag schon«, forderte Charlie sie auf.

»Als ich beim Kommissar drin war, ist fast pausenlos die Tür aufgegangen, und irgendwelche Beamten haben von ihren ›Ermittlungserfolgen‹ berichtet.« Klara raschelte mit ihren Notizen. »Sie haben die Mutter gefunden, deren Kinderwagen ich auf die Straße gestoßen habe, als wir Wim Tanner verfolgt haben, um uns Jettes Blut wiederzuholen. Außerdem wissen sie inzwischen, bei welcher Mietwagenfirma er sich das Auto besorgt hat. Sie haben herausgefunden, wo Wim Tanner die Infobriefe für die Knochenmarkspende gedruckt hat. Sie haben das Mädchen gefunden, das Jette mit dem Roller ins Stadion gefahren hat. Außerdem haben sich die beiden Fußballfans gemeldet. Dann gibt es Kontakt zu einer Frau vom Jugendamt, mit der Jonah telefoniert hat. Sie entschuldigt sich, dass sie damals nicht weiterhelfen konnte. Jettes Daten waren bei der Umstellung auf Computer verloren gegangen. Außerdem hat die Polizei Blutproben im Auto von dieser Carmen gefunden. Das sind die, die Jonah da versteckt hat …«

Was für ein Wust von unbedeutenden Kleinigkeiten! Jonah schnürte es die Kehle zu. Von einer richtigen Spur schienen die Beamten meilenweit entfernt zu sein. Die Polizei hatte schon einmal versagt, als sie ihn und Jette im Affenhaus hätte suchen sollen. Und sie schienen aus ihren Fehlern nichts gelernt zu haben.

Der Polizeipräsident hatte direkt nach Jonahs Aussage eine Pressekonferenz einberufen und von »mehreren Hundertschaften junger Beamter«, »diversen Hundestaffeln« und »erfahrenen Polizeipsychologen« gesprochen, die alle zur Suche herangezogen würden. Es sei eigens eine »Soko Affenhaus« gegründet worden. Meine Güte, hatte Jonah gedacht, warum nicht gleich »Soko Tollhaus«? Der alte Kommissar war »wegen krasser Fehleinschätzung«, wie es in einem internen Papier der Polizei hieß, mit dem Klara eines Tages bei ihnen aufgetaucht war, von dem Fall abgezogen worden.

Als Klara mit ihrem Bericht fertig war, blieb es eine Weile still im Raum. Dann sagte Jonah: »Vielleicht ist Dukie ja tatsächlich auf etwas Wichtiges gestoßen.« Er versuchte, optimistisch zu klingen. »Wir brauchen eine Strategie«, murmelte er. »Einen Plan.« Wenn sie nur genauer wüssten, was eigentlich vor sich ging! Vor ein paar Tagen war nachts das prächtige Glasdach der Villa eingestürzt. Einfach so. Obwohl Jonah sich fragte, ob es wirklich einfach so eingestürzt war. Auch das hatte Klara von der Polizei erfahren. Die Beamten hatten in der Nacht einen Blick auf das Grundstück geworfen, waren aber wieder abgerückt, weil sie nichts Ungewöhnliches entdeckt hatten. Dukie war auch noch einmal vor Ort gewesen und hatte sich alles genau angeschaut. Auch er hatte nichts gefunden, was irgendwie auf Jette hingewiesen hätte. Sein Vater war nicht da gewesen, und den einzigen Menschen, den er gesehen hatte, war der neue Gärtner, der in einer fernen Ecke des Gartens Unkraut zupfte.

Die Tür ging auf. Tee- und Kaffeegeruch zogen in das Zimmer. Anna kam herein. Ihren leichtfüßigen Schritten nach zu urteilen, hätte Jonah auf eine Achtzehnjährige getippt. Die alte Frau stellte ein Tablett mit duftenden Croissants vor ihm ab. Außerdem gab es Süßigkeiten. Für jeden das, was er am liebsten aß. »Kommt ihr zurecht?«, fragte Anna. Sie nickten. Jonah nahm sich ein Brausebonbon. Wie immer lagen die Bonbons rechts unten auf dem Tablett. Charlie riss das Papier ihres Eises auf. Sie aß zu jeder Tages- und Nachtzeit am liebsten Eis. Für Klara waren sicher Karamellbonbons dabei. Und für Dukie Lakritzfische.

Für Anna war es eine Frage der Persönlichkeit, welche Süßigkeit man am liebsten aß. Entsprechend umsichtig versorgte sie sie. Am Anfang hatten sie es noch komisch gefunden, sich den Bauch vollzuschlagen, während Jette gefangen war. Aber dann hatte Klara kategorisch erklärt: »Man kann Süßigkeiten essen und arbeiten.« Und dabei war es geblieben. Zudem hätten sie sich sowieso kaum wehren können. Sie hatten von Anna den eindeutigen Auftrag erhalten, ihr Jette zurückzubringen. Und Anna sah es als ihre Aufgabe an, ihnen die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu bieten. »Lasst euch nicht stören«, sagte sie und verließ das Zimmer.

»Nächstes Thema«, sagte Jonah und nahm einen Schluck Tee. »Was machen wir mit diesem Medienrummel? Einfach laufen lassen?«

»Es wird immer schlimmer«, gab Charlie zu bedenken, während sie in ihrem Schaukelstuhl mit dem Kaffee hantierte. Sie war die Einzige, die Kaffee trank.

»Jetzt gibt es Jette schon als Poster. Doppelseitig. Zum Herausnehmen. Hat mir Anna heute Morgen gegeben.« Sie klopfte mit den Fingerknöcheln auf ein Papier in ihrer Hand.

Seit einigen Tagen spielte die Presse völlig verrückt. Anfangs hatten sich die Zeitungen noch mit Jettes offiziellem Vermisstenfoto zufriedengegeben. Aber dann hatte Jonah Jettes Eltern vorgeschlagen, auch ein paar private Fotos weiterzugeben. »Je mehr Leute wissen, wie sie aussieht, desto eher erkennt sie vielleicht jemand«, hatte er gesagt.

In kürzester Zeit war das Land süchtig gewesen nach immer mehr Jette-Fotos. Sie galt inzwischen als das schönste Mädchen im ganzen Land. Täglich tauchten neue Bilder von ihr auf. »Jette am Strand«, »Jette auf dem Fahrrad«, »Jette beim Einkaufen«. Wer immer irgendwann einmal ein Foto von ihr geschossen hatte, schien es in diesen Tagen für viel Geld zu verkaufen.

Die Journalisten legten täglich mit neuen Berichten über das »traurige Schneewittchen« nach, und dabei schien es niemanden zu stören, dass sie meistens gar keine neuen Informationen hatten. Sie rührten einfach aus den Zutaten »schönes Mädchen«, »Verbrechen«, »Geheimnis« und »Tragödie« immer neue Geschichten an.

Die Medien hatten begonnen, Jette als tragischen Popstar zu inszenieren, als fernes, melancholisches Idol. Eine Rolle, in der sie immer präsenter wurde und durch die sie die Jette aus Fleisch und Blut, die Jonah kannte, immer mehr zu verdrängen schien. Am Anfang hatten die anderen Jonah noch auf die Bilder aufmerksam gemacht. Aber seit einigen Tagen ließen sie es bleiben. Es war klar, dass er litt. Er wünschte sich die lebendige Jette zurück.

»Wir müssen uns überlegen, ob es Jette nützt oder schadet, dass überall Fotos von ihr gezeigt werden und alle über sie reden«, sagte Jonah. »Die Polizei könnte von der Presse schließlich auch Stillschweigen verlangen.«

»Auf jeden Fall darf es nicht passieren«, sagte Charlie, »dass sich Wim Tanner in die Enge getrieben fühlt und in einer Kurzschlussreaktion …« Sie verstummte.

»Vielleicht sollten wir erst mal mit Jettes Eltern sprechen und sie fragen, wie sie das sehen«, sagte Klara.

Die Tür ging auf. »Hi«, sagte Dukie. Leichter Fischgeruch zog ins Zimmer. Jonah fühlte sich in das Dachgeschoss der saalfeldschen Villa versetzt. Inzwischen lebte Dukie allerdings mit seiner Mutter bei Verwandten und, soweit Jonah wusste, ganz ohne Seen- und Ozeanlandschaft. Dukie hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Das Verschrobene, Eigenbrötlerische, was er an sich gehabt hatte, war verschwunden, als hätte sich ein eingesperrter Geist gereckt und gestreckt und wäre frei ins Leben hinausgetreten.

Jonah hatte Dukie vor ein paar Tagen darauf angesprochen, und sein Kumpel hatte sehr überlegt geantwortet: »Ich wollte immer, dass mein Vater mich mag. Dass er sich um mich kümmert. Mit dem Abhören wollte ich ihm eigentlich nur ein weiteres Mal zeigen, was ich alles kann. So von hinten durchs Knie. Verstehst du? Als du dann Jette warnen wolltest, hatte ich Angst, dass alles auffliegt. Dass mich mein Vater rausschmeißt und alles verloren ist. Deshalb hab ich dir nicht geholfen. Aber als er euch dann entführt hat, war für mich auf einmal Schluss. Es war gar nicht schwierig. Ich bemühe mich nicht mehr um ihn. Es ist vorbei.«

Noch bevor Jonah etwas erwidern konnte, hatte Dukie den Ball zurückgespielt. »Und seit wann fährst du allein Straßenbahn?«, wollte er wissen.

Jetzt knackte Dukie mit den Fingerknöcheln. Ein Zeichen, dass er sich unwohl fühlte. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte er launig. »Welche wollt ihr zuerst hören?«

»Die gute, um uns zu wappnen«, sagte Klara und stieg auf den lockeren Tonfall ein. »Die schlechte danach. Um die müssen wir uns sowieso länger kümmern.«

»Gute Wahl«, sagte Dukie. »Mmh, Lakritzfische …«

»Dukie!!«, unterbrach ihn Jonah. »Mach schon!«

»Es gibt jemanden, der von Wim Tanner verlangt, dass er Jette freilässt!«, verkündete Dukie geheimnisvoll.

»Kenn ich mehrere«, sagte Jonah.

»Ich mein den Mann mit dem Falken!«

»Bitte, was?«, fragte Jonah perplex.

»Die Geschichte am See?«, fragte Klara.

»Ja«, sagte Dukie. »In der Villa ist ein anonymer Brief an Wim Tanner angekommen. Ich hab ihn in der Hausbar im Esszimmer gefunden. Eigentlich war ich nur auf der Suche nach einem guten Versteck für meine Mikros. Der Brief war geöffnet. Wahrscheinlich hat mein Vater ihn einfach aufgemacht. Ich hab den Brief mitgebracht. Ich les ihn euch vor. Es sind nur ein paar Zeilen.«

Sehr geehrter Herr Tanner!

Sie haben am 3. Juni vorsätzlich meinen Falken getötet. Ein solches Verbrechen bleibt nicht ungesühnt. Für den Moment verlange ich allerdings lediglich, dass Sie sofort das Mädchen freilassen. Ich weiß, wo sie ist. Halten Sie sich an meine Anweisungen.

Hochachtungsvoll

ein reisender Königssohn

»Was soll denn das?«, fragte Jonah. »Irgendein Absender?«

»Nein«, sagte Dukie.

»›Ein reisender Königssohn!‹ Was ist das denn für ein Spaßvogel?«

»Einer, der viel weiß«, sagte Dukie. »Der weiß, wo Jette ist. Der in der Nacht am See war. Der Wim Tanner droht.«

»Und warum befreit er Jette nicht?«

»Keine Ahnung. Vielleicht will er unerkannt bleiben?«

»Und was machen wir jetzt damit?«

»Nachdenken, Junge. Schmeiß dein Hirn an. Das sieht nach einem Verbündeten aus. Einem, der was bewegen kann.«

»Mit Absender wäre auch nicht schlecht gewesen«, sagte Jonah sarkastisch. Dann fügte er langsam hinzu: »Erinnert ihr euch an den Namen ›Norbert Königssohn‹? Den Mann, der behauptet hatte, dass er bei Jette als Baby diese Mutation entdeckt hatte?«

»Königssohn …«, wiederholte Charlie. »Klar!«

»Aber das macht die Sache nicht einfacher«, sagte Klara. »Der Mann ist schon seit Ewigkeiten verschwunden. Und warum sollte er so einen Brief schreiben? Wenn er es überhaupt ist.«

Sie schwiegen. Nur die Standuhr tickte unverdrossen weiter.

»Und die schlechte Nachricht?«, fragte Klara schließlich.

Jonah hörte, wie die Katze auf einen Stuhl sprang. Sie hatte sich die ganze Zeit noch nicht bemerkbar gemacht. Jetzt raschelte sie mit einem Stück Papier, das auf dem Stuhl lag, und ließ sich darauf nieder.

»Ich habe ein Gespräch zwischen meinem Vater und Wim Tanner aufnehmen können.«

»Du hast was?«, fragten Jonah und die Mädchen fast gleichzeitig.

»Warum sagst du das nicht gleich?«, herrschte Jonah ihn an. »Wo ist Wim Tanner denn?«

»Sie waren bei meinem Vater im Auto. Und hatten laute Musik an. War echt schwer, überhaupt etwas herauszufiltern. Die Aufnahme ist von gestern.«

»Und worüber reden die?«, fragte Klara.

»Ja, also …«

»Dukie, los!«

»Hört’s euch selbst an.« Dukie schaltete das Gerät an.

»Und?« Dr. Saalfelds Stimme. Gut erkennbar.

»Ich habe einen Kunden.« Wim Tanner.

»Gratuliere. War’s schwierig?«

»Nein.«

»Was zahlt er?«

»Sechsstellig.«

»Nicht schlecht.«

»Ein Anfang.«

»Du willst öfter liefern?«

»So oft es geht.«

»Wer macht die Operationen?«

»Ich kenne einen Arzt, der nicht viel fragt, wenn das Geld stimmt.«

»Du lieferst nur die Eizellen?«

»Ja. Der Kunde ist dann für alles Weitere selbst verantwortlich. Seine eigene Frau ist unfruchtbar. Sie wollen es mit den Eizellen des Mädchens versuchen.«

»Na gut. Glaubst du eigentlich, dass die zweite Titanenwurz noch blüht?«

Dukie schaltete das Gerät aus.

»Mein Gott«, stieß Charlie hervor.

»Er will ihre Eizellen verkaufen«, flüsterte Klara.

»Kann man das denn so einfach?«, fragte Jonah fassungslos.

»Ganz so einfach wohl nicht«, sagte Charlie. Ihre Stimme zitterte. »Hast du ja gehört. Muss man herausoperieren.«

»Wer kauft so etwas denn?«, fragte Jonah verzweifelt.

»Es gibt für alles Käufer«, sagte Klara leise. »Jeder weiß, wie schön Jette ist. Überall sind ihre Bilder. Das war kostenlose Werbung für Wim Tanner. ›Jette‹ ist ja fast schon eine Marke. Wahrscheinlich musste er nur an den richtigen Stellen durchblicken lassen, zu was er in der Lage wäre …«

»Und jetzt?«, fragte Jonah.

»Wir müssen sie schnell finden«, sagte Dukie. »Und wir sollten der Polizei sagen, dass mein Vater und Wim Tanner sich getroffen haben.«

Klara und Charlie sagten nichts. Die Katze miaute und sprang vom Stuhl.

Jonah fühlte sich so elend, dass er das Gefühl hatte, es nicht mehr auszuhalten. Braune flirrende Fetzen zogen vor seinen Augen vorüber. Jette war in den Händen von richtigen Verbrechern. Sie war nicht einfach nur eingesperrt, damit man ihr Blut untersuchen konnte, was ja schon schlimm genug war. Sie war in ernsthafter Gefahr. Und er hatte es so weit kommen lassen. Warum war er nicht direkt zur Polizei gegangen, als er im Dachgeschoss von den heimtückischen Plänen erfahren hatte? Warum hatte er Jette in jener Nacht nicht schnell genug auf dem dunklen weiten Acker versteckt? Warum hatte er ihren Eltern vorgeschlagen, noch mehr Fotos an die Presse zu geben?

»Ich geh zur Polizei«, sagte Dukie. »Charlie, kommst du mit?«

Wieso Charlie?, dachte Jonah.

»Lass uns lieber gehen«, sagte Klara und stand auf. An der Tür blieb Dukie noch einmal stehen, als wolle er noch etwas sagen. Aber offenbar fiel ihm nichts Passendes ein. Ohne ein weiteres Wort verließ er mit Klara den Raum.

»Weißt du«, sagte Charlie nach einer längeren Pause, »als Baby hat Jette einmal in der Nacht aufgehört zu atmen. Das war noch auf der Säuglingsstation. Genau in dem Moment ist ein Arzt in das Zimmer gekommen, der sich eigentlich nur in der Tür geirrt hatte. Er hat sie sofort beatmet, und es ist nichts passiert. Das hat sie mir mal erzählt. Als Dreijährige ist sie bei ihrer Oma aus dem Fenster gefallen. Zweiter Stock. Unten stand eine Schafherde. Sie hat sich nichts getan. Aber zwei Tiere hatten die Beine gebrochen. Der Schäfer musste die Beine schienen. Und mit sieben Jahren hat sie eine Handvoll Eibenbeeren gegessen. Auch da ist nichts passiert. Sie hat auf keinen einzigen Kern draufgebissen, denn das Giftige sind die Kerne. Und letzten Sommer hing sie mit ihrem Handkettchen unter Wasser an einer Pflanze fest. Das war am Baggersee. Sie hat gezogen und gezerrt und ist nicht losgekommen. Auf dem Grund lag an genau der Stelle eine Glasscherbe. Mit der hat sie die Pflanze abgeschnitten.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte Jonah.

»Jette hat einen Schutzengel«, sagte Charlie.