Nach der Party

Kai Saalfeld stand auf der Veranda vor seinem Arbeitszimmer. Die Gäste waren inzwischen gegangen. Der Trubel hatte sich im vorderen Teil des Gartens und auf der Familienveranda abgespielt. Ihm war es recht. Hier, an seinem persönlichen Rückzugsort, konnte er keine Barbaren gebrauchen. Die Leute pusteten den Rosen ungeniert ihren Zigarettenqualm entgegen. Sie überschritten die sorgfältig gezogenen Wege und traten auf junge Keimlinge. Sie lachten wiehernd, sodass die kleinen Enzianpflanzen ihre Kelche schlossen. Aber nun war es erst einmal vorbei.

Gesellschaftliche Verpflichtungen wie diese ließen sich leider nicht vermeiden. Erst recht nicht im Moment. Das erste Mal in all den Jahren, seitdem er Chef des Stayermed-Konzerns war, hatte er ernsthafte finanzielle Probleme. Der Kurs der Aktie fiel. Und das bereits seit Monaten. Am Anfang waren die Verluste noch gering gewesen, aber inzwischen gab es richtige Kursstürze. Es hatte damit begonnen, dass ihnen ein Mitbewerber ein wichtiges Patent vor der Nase weggeschnappt hatte. Seither hatte er das Ruder nicht wieder herumreißen können. Genau das war aber seine Aufgabe. Er musste die Talfahrt aufhalten. Sonst würde ihn der Aufsichtsrat an die Luft setzen, die fackelten nicht lange.

Dr. Saalfeld war während des Festes unkonzentriert gewesen. Fast hätte er es sogar versäumt, den Oberbürgermeister zu begrüßen. Zudem hatte er vergessen, sein Arbeitszimmer abzuschließen. Er war mit seinen Gedanken die ganze Zeit woanders gewesen. Der Falke, der nachts am See aufgetaucht war, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Kein wilder Falke jagte in der Dunkelheit. Da hatte er sich noch einmal informiert. Und der Falke gehörte wohl auch kaum einem arabischen Beduinen, die ja für ihre Vernarrtheit in Greifvögel bekannt waren. Das Wahrscheinlichste war, dass Norbert Königssohn seine Finger im Spiel hatte. Der Mann, der damals Lina Sandweys Blut genetisch untersucht hatte. Er kam nämlich aus einem Haushalt, in dem es Falken gegeben hatte. Sein Vater war Förster gewesen. Er hatte sich sofort daran erinnert, als Wim ihm die Geschichte von der Fledermaus am See erzählt hatte. Doch natürlich hatte er den Gedanken für sich behalten und Wim Tanner nichts gesagt – schließlich mussten auch die engsten Mitarbeiter nicht alles wissen.

Einen Trumpf, einen echten Joker, das war es, was er jetzt brauchte. Damit würde er es allen zeigen können. Ob er einen solchen Trumpf in seiner Hosentasche hatte? Kai Saalfeld öffnete hinten an seiner Hose einen kleinen Reißverschluss und zog ein Papier hervor. Es war ein angegilbtes Blatt in DIN-A4-Größe. Er faltete es auf und studierte es, wie er es bereits so oft getan hatte. Das Schreiben war mit einem etwa fünfzehn Jahre alten Datum versehen. Oben rechts stand der Name von Norbert Königssohn, und auf dem Blatt standen nur wenige Worte: »Ich habe heute auf dem NF1-Gen des neugeborenen Kindes Lina Sandwey eine genetische Mutation entdeckt, die ihr eine perfekte Haut beschert. Konkret ist …« An dieser Stelle brach der Satz ab. Was hielt er hier in der Hand? Eine Lizenz zum Gelddrucken? Oder wertlosen Quatsch?

Vor fünfzehn Jahren hatten sie alle zusammen auf derselben Station im Krankenhaus gearbeitet. Er selbst als Assistenzarzt, Wim als junger Hilfskrankenpfleger, Norbert als Doktorand für Humangenetik. Norbert Königssohn, der brillante Wissenschaftler. Bereits als Student hatte er bei der Entschlüsselung des NF1-Gens mitgearbeitet, einem Gen, das Vorgänge der Haut und des Nervensystems regelte. Niemand im Krankenhaus hatte das Gen damals so gut gekannt wie Norbert Königssohn.

Als diese Lina Sandwey geboren wurde, hatte Norbert von heute auf morgen seine laufenden Forschungen eingestellt und sich nur noch um das Baby gekümmert. Er hatte gehofft, eine genetische Erklärung für ihre perfekte Haut zu finden. Jeden Tag hatte es auf der Station neue Babys gegeben. Aber keines hatte auch nur annähernd eine so makellose Haut gehabt wie diese Lina Sandwey. Und dann war etwas Komisches passiert. Noch während das Baby auf der Station lag, war Norbert verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Der vielversprechende, ehrgeizige, mit den besten Verbindungen ausgestattete junge Mann war auf einmal weg gewesen – ohne irgendeinen Hinweis auf seinen neuen Aufenthaltsort zu hinterlassen. Norbert Königssohn war nie wieder aufgetaucht, und die Polizei ging schließlich von einem Verbrechen aus. Irgendwann musste sie die Akten geschlossen haben.

Vor zwei Wochen hatte Oberschwester Barbara einen alten Schrank ausgemistet und einen Stapel Papiere gefunden. Weil die Notizen aus der Zeit stammten, als Kai Saalfeld auf der Station arbeitete, hatte sie ihm die Sachen kurzerhand zu einer Sitzung des Fördervereins der Klinik mitgebracht. Er hatte zunächst kaum einen Blick darauf verwandt. Aber als die Sitzung ihren üblichen langweiligen Verlauf nahm, hatte er sich in die Aufzeichnungen vertieft. Und von der letzten Seite, die er jetzt in der Hand hielt, war er wie elektrisiert gewesen.

Ob es stimmte, was dort stand? Norbert war nie ein Angeber gewesen. Das hatte er nicht nötig gehabt. Doch an der entscheidenden Stelle auf dem Blatt hatte Norbert aufgehört zu schreiben. Warum? Wo genau auf dem Gen lag diese Mutation, wenn es sie denn wirklich gab? In den vergangenen Jahren hatte die Wissenschaft große Fortschritte erzielt. Wenn die Mutation existierte, würde er sie finden können. Das Wichtige war, dass Norbert das Gen genannt hatte. Man musste eigentlich nur das Blut des Mädchens mit einer normalen Variante des NF1-Gens vergleichen. Die Computer, die es heutzutage gab, konnten so etwas. Er würde die Arbeiten notfalls sogar selbst durchführen. Bereits als Student hatte er mit den »Sequenziermaschinen« gearbeitet, die dafür nötig waren. Heute gab es natürlich viel schnellere. Auch Stayermed besaß welche.

Mit dem Wissen um die Mutation würde er die Konkurrenz abhängen können. Er würde analoge Pflegeprodukte auf den Markt bringen, die ähnlich wie das Gen des Babys wirkten. Er konnte sich schon jetzt vorstellen, in welche Aufregung das den Pharma- und Kosmetikmarkt versetzen würde. Und wenn er die Mutation tatsächlich fand, würde die Stayermed-Aktie wie ein Pfeil in die Höhe schießen. Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung gewesen, das Mädchen gar nicht erst zu fragen, ob sie in die Untersuchungen einwilligte, dachte Dr. Saalfeld. Womöglich hätte sie sich geweigert oder alles ausgeplaudert. Und dann hätte bald jeder versucht, sich eine Genprobe von ihr zu sichern.

Doch es gab noch ein weiteres Geheimnis rund um dieses Gen. Norberts Notiz trug das Datum vom 21. Mai 1991. Da Kai Saalfeld sich nicht mehr genau an den Tag seines Verschwindens erinnerte, hatte er alte Zeitungen gesichtet, und den Berichten der Journalisten zufolge war Norbert an genau diesem Tag das letzte Mal in der Öffentlichkeit gesehen worden. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Norbert ihr Leben all die Jahre aus der Ferne womöglich mitverfolgt? Hatte er etwas mit dem Falken zu tun? Oder lebte er wirklich nicht mehr?

Dr. Saalfeld hatte es bisher nie bereut, seine Stelle im Krankenhaus aufgegeben zu haben, denn bei Stayermed verdiente er ein Vielfaches dessen, was er jemals als Arzt hätte erzielen können. Und er bedauerte auch nicht, dass er Wim damals aus dem Krankenhaus mit zu Stayermed genommen hatte, da der ehemalige Krankenpfleger immer gut gearbeitet hatte. Die Sache am See war der erste große Patzer gewesen. Doch schließlich hatte Wim all die Jahre viele Dinge für ihn erledigt, die er selbst wegen seines guten Rufes nicht hatte übernehmen können. Außerdem war er der beste Gärtner, den er je gehabt hatte – die Blüte der Titanenwurz war ihm zu verdanken. Und der Garten war eigentlich das Wichtigste in Kai Saalfelds Leben, auch wenn er das niemals laut sagen würde. Aber ihm war aufgefallen, dass Wim Tanner in letzter Zeit etwas unzufrieden wirkte – das musste man im Blick behalten.

Nachdenklich zog sich Kai Saalfeld in sein Arbeitszimmer zurück.