Vorsicht, Enten!

Jonah lag im Dachgeschoss auf dem Bett, und die Tür zum Flur erschien ihm unerreichbar weit entfernt. Viel weiter als Mexiko damals. Dorthin wäre er ohne mit der Wimper zu zucken gefahren. Alles war schon geplant gewesen, sein Kumpel hatte dort Verwandtschaft. Lediglich an der Erlaubnis seiner Eltern hätte er noch arbeiten müssen. Aber dann war der Unfall dazwischengekommen. Wobei »dazwischengekommen« der falsche Ausdruck war. Um genau zu sein, hatte der Unfall das Thema ein für alle Mal vom Tisch gefegt. Wie nah war ihm Mexiko damals erschienen! Und wie unüberwindbar weit weg lag jetzt nur schon die Tür vor ihm. Es ging einfach nicht.

Nach einer Weile ging die Tür auf und Carmen guckte herein. »Lust auf Schokoladenkuchen?«, fragte sie. Jonah nickte. Er ließ sich den Teller aufs Bett reichen und nahm einen Bissen. Er schmeckte nach echter Schokolade. Nicht nach diesem Instant-Kakaozeug. Sondern dunkel, bitter, aufregend und gleichzeitig süß. Der Kuchen war so leicht, dass er im Mund sofort zerfiel. Jonah aß alles auf und kratzte die Krümel zusammen. Wo war eigentlich sein Rucksack, den er sich damals gekauft hatte? Ob er ihn irgendwann doch noch brauchen würde? Musste ja nicht unbedingt Mexiko sein. Aber im Moment waren ihm ja schon ein paar Schritte zu viel. Jonah versuchte, sein rechtes Bein zu bewegen, aber er schaffte es einfach nicht. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand mit unsichtbaren Ketten ans Bett gefesselt.

»Memme«, murmelte er.

»Hast du was gesagt?«, fragte Dukie, der Kabel sortierte.

»Memme!«, sagte Jonah etwas lauter.

»Was ist denn jetzt los?«

»Nichts.«

»Kannst ja gehen, wenn dir was nicht passt.«

»Genau«, sagte Jonah und stand auf. Er machte zwei Schritte, und ihm wurde schwindelig. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle zu Boden gesunken. Aber er spreizte die Beine, sodass er wie ein Revolverheld in der Mitte des Zimmers stand. Dukie sagte nichts. Als der Schwindel vorüber war, ging Jonah weiter bis zur Tür. Er öffnete sie, trat hinaus und schloss sie hinter sich.

Im Treppenhaus war es still. Normalerweise holte seine Mutter ihn abends im Dachgeschoss ab, und sie gingen gemeinsam hinunter in die Wohnung. Oder er begleitete Carmen, wenn sie das Geschirr holte. Er machte wenig allein. Die anderen kümmerten sich um ihn, und er ließ sie gewähren.

Er musste das Mädchen unbedingt warnen. Er hatte schließlich geschworen, das zu tun, wenn die Schlange ihn verschonte.

Sie hatten noch zwei Gespräche belauscht. Das eine erst am Vormittag. Da war Dr. Saalfeld richtig außer sich gewesen. Wenn Wim Tanner nicht anders an das Blut herankomme, müsse er das Mädchen eben entführen, hatte Dr. Saalfeld gesagt. Er solle aber unerkannt bleiben und dem Mädchen für die Blutentnahme ein Schlafmittel geben. Danach könne er das Mädchen ja wieder freilassen.

Offenbar hatte Wim Tanner gestern wieder vergeblich versucht, eine Blutprobe zu beschaffen. Am Nachmittag hatte er im Stadion vor aller Augen die Hose heruntergelassen. Marie hatte es Jonah kichernd erzählt. Anscheinend hatte diese Lina Sandwey irgendwas damit zu tun gehabt. So hatte er Dr. Saalfeld und Wim Tanner am Morgen verstanden.

Das andere Gespräch lag schon ein paar Tage zurück. Und was er da gehört hatte, war sehr beunruhigend. Er wusste jetzt, dass Dr. Saalfeld hoffte, bei dem Mädchen ein verändertes Gen zu finden, das ihm seine makellose Haut bescherte. Aus diesem Grund war er auch so scharf auf die Genprobe. Den Hinweis auf das besondere Gen hatte er offenbar aus alten Aufzeichnungen aus der Klinik. Sie stammten von diesem Norbert Königssohn. Die Konkurrenz sollte von den neuen Forschungen nichts mitbekommen. Und dann hatte Dr. Saalfeld gesagt, dass in dem Moment, in dem es Hinweise darauf gebe, dass die Konkurrenz von seinen Forschungen Wind bekomme, man sich sehr genau überlegen müsse, ob man das Mädchen nicht früh genug »grundsätzlich verschwinden« lasse. So hatte er sich ausgedrückt.

Jonah musste jetzt handeln und durfte nicht länger zögern. Er ging auf das Geländer zu, griff nach dem glatten, kühlen Handlauf und nahm die ersten Stufen. Nach ein paar Schritten hob er die Hand und tastete nach dem Wandteppich. Die Venus von da Vinci. Der Teppich hing schon seit seiner Kindheit an dieser Stelle. Jonah spürte unter seinen Fingerkuppen die krausen Fäden der Muschel, den fein gesponnenen Frauenkörper und die blonden fransigen Kopfhaare der Frau.

Er war noch auf der Treppe, als er Dr. Saalfeld in seiner Bibliothek ins Telefon brüllen hörte. Wörter wie »alle entlassen« und »völlig unfähig« fielen. Den Geräuschen nach zu urteilen lief der Hausherr dabei hektisch im Raum umher. Einen Augenblick kam kein Laut mehr aus dem Zimmer. Dann stürmte Dr. Saalfeld zur Tür und riss sie auf.

»Guten Tag, Herr Dr. Saalfeld«, sagte Jonah, der den Treppenabsatz fast erreicht hatte, in Richtung des Hausherrn.

»Hallo, Jonah«, sagte Dr. Saalfeld und beruhigte sich etwas.

»Wie geht’s Ihrem Ausreißer?«, fragte Jonah und ärgerte sich sofort über seine Freundlichkeit. Warum schleimte er hier herum, wo Dr. Saalfeld plante, ein Mädchen zu beseitigen?

»Prächtig, prächtig«, antwortete der Hausherr. Seine Laune schien sich aufzuhellen. »Hat heute Morgen ein ganzes Mäuschen gefressen. Ein neugeborenes ohne Fell. Aber ab nächster Woche ist Schluss mit der Babynahrung. Dann gibt es normale Mäuse. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Bis dann. Hab noch was zu tun. Toi, toi, toi.« Damit drehte er sich um und verschwand wieder in seiner Bibliothek.

Wahrscheinlich muss er noch die Siegerehrung für den Schönheitswettbewerb organisieren, dachte Jonah grimmig. Los jetzt!, trieb er sich selbst an. Wenn ich so weitermache, bin ich morgen früh noch nicht unten. Im nächsten Moment rutschte er auf der Treppe aus und schlug sich die Kante einer Stufe voll ins Kreuz. Er versuchte noch, sich am Geländer festzuhalten, was allerdings nur dazu führte, dass er sich auch noch den Daumen verstauchte.

»Scheiße!«, fluchte Jonah, als er sich mühsam wieder aufrappelte. Irgendjemand hatte ein Blatt Papier oder einen Brief auf die Treppe gelegt. Die letzten Meter zur Einliegerwohnung seiner Eltern humpelte er. Drinnen setzte er sich erst mal an den Küchentisch. Es war niemand da. Montagnachmittag. Sein Vater machte den Wocheneinkauf, und seine Mutter war mit der Wäsche beschäftigt. »Lina Sandwey«. Er hatte sich den Namen gemerkt. Leider hatten Dr. Saalfeld und Wim Tanner nicht gesagt, wie das Mädchen heute hieß. Bestimmt trug sie jetzt einen anderen Namen. Aber vielleicht gab es Verwandte mit dem alten Namen.

Jonah stand auf und holte sich das Telefon. Er tippte die Nummer der Auskunft ein. Eine Computerstimme wiederholte, was er gewählt hatte. Dann ertönte das Freizeichen.

Dieses Telefon war eines der ersten Dinge gewesen, die seine Eltern nach dem Unfall für ihn gekauft hatten. Sie waren dafür mit ihm nach Marburg gefahren, wo es einen gut sortierten Blindenshop gab. Der Tag war einer von vielen Tiefpunkten in jenen ersten Wochen gewesen.

In dem Laden waren sie auf ein Panoptikum von Absonderlichkeiten gestoßen. Eine Verkäuferin führte sachlich durch das Sortiment. Es gab Messbecher mit Sprachausgaben, Halter für Socken, damit man vor dem Waschen immer die richtigen zusammenstecken konnte, gläserne Herdplatten, die sich meldeten, wenn die Milch überlief. Außerdem natürlich auch jede Menge sprechender Uhren, wobei die meisten vor der Zeitansage erst einmal mit einem »Guten Morgen« oder »Guten Tag« nervten. Dann Geldbörsen mit verschiedenen Fächern für die einzelnen Euromünzen. Schreibtafeln, auf denen man sich unterwegs in Brailleschrift Notizen machen konnte – sofern man denn diese Schrift beherrschte. Kurz, der Laden führte alles, was das blinde Herz begehrte.

Jonah hatte danach drei Tage lang nicht mehr geredet. Und seine Eltern hatten nie mehr vorgeschlagen, nach Marburg zu fahren. Die Uhr, die er jetzt trug und die auf Knopfdruck die Zeit ansagte, hatte seine Mutter in einem Onlineshop bestellt.

Endlich meldete sich die Auskunft. »Sandwey?«, buchstabierte der Telefonist. »Zu diesem Namen haben wir leider keinen Eintrag.« Jonah legte auf und überlegte. Vielleicht stimmte die Schreibweise nicht? Er rief noch einmal an und ließ alle Varianten des Namens prüfen. Aber wieder Fehlanzeige.

Okay, okay, okay, dachte Jonah. So leicht ist es eben doch nicht. Er stand auf, ging zur Spüle, drehte das kalte Wasser auf und hielt seinen schmerzenden Daumen unter den Strahl. Dann nahm er sich ein Glas, ließ es etwa bis zur Hälfte volllaufen und drehte das Wasser wieder ab. Er trank das Glas in einem Zug leer. Ich telefoniere, kann mich mit Wasser versorgen, klappt doch alles ganz gut, dachte er und spürte eine unglaubliche Wut in sich aufsteigen. Wie viel Mühe ihn diese alltäglichen Verrichtungen kosteten!

Er setzte sich wieder an den Tisch. Was wusste er alles über das Mädchen? Sie war als Baby adoptiert worden und musste etwa fünfzehn Jahre alt sein. Und das Mädchen war offenbar in dem Krankenhaus geboren worden, in dem Dr. Saalfeld und Wim Tanner früher gearbeitet hatten. Das Krankenhaus befand sich hier in der Stadt. Außerdem war das Mädchen ein dunkler Typ. Und hübsch. Ihr besonderes Merkmal war ein Leberfleck auf der Wange. So hatten sie es beschrieben. Jonah tippte wieder die Nummer der Auskunft ein und ließ sich mit dem Jugendamt verbinden. Dort verlangte er die Adoptionsstelle. Der Hörer an der Nebenstelle wurde sofort abgenommen.

»Wölflin, Adoptionsvermittlung, guten Tag.« Eine Frau.

»Ääh …«, stotterte Jonah, »… guten Tag.«

»Mit wem spreche ich bitte?«

»Jonah Mint.«

»Was kann ich für Sie tun?« Die Frau klang routiniert, aber nicht unfreundlich.

Jonah hatte es die Sprache verschlagen.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja«, sagte Jonah. »Ich suche ein Mädchen.« Wie blöd das klang, dachte er. »Ich suche ein Mädchen, das vor fünfzehn Jahren adoptiert wurde«, fügte er schnell hinzu.

»Sind Sie ein Verwandter?«, fragte die Frau.

»Nein.«

»Dann können wir leider keine Auskunft geben.«

»Hm«, machte Jonah.

Die Frau in der Leitung wartete.

»Tja, dann …«, sagte Jonah, »…auf Wiedersehen«, und legte auf. Völlig regungslos blieb er am Tisch sitzen. Um ihn herum war es dunkel wie immer. Er haute mit der Faust auf das schwere Holz. Und gleich noch einmal. Seine Hand schmerzte. Blind und blöd, dachte er. Er rief noch einmal an.

»Wölflin, Adoptionsvermittlung, guten Tag.«

Ohne Überleitung sagte er: »Es ist wichtig.«

»Warum wollen Sie das Mädchen denn finden?«, fragte die Frau.

»Sie ist in Gefahr.«

»Dann gehen Sie am besten zur Polizei.«

»Das geht nicht.«

Die Frau überlegte. Dann sagte sie: »Vielleicht könnte ich einen Brief von Ihnen weiterleiten. Wie heißt das Mädchen denn?«

»Lina Sandwey. Das ist ihr Geburtsname. Wie sie heute heißt, weiß ich nicht.«

»Einen Moment, ich schaue nach.« Die Frau legte den Hörer zur Seite, und Jonah hörte sie auf eine Tastatur tippen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder meldete.

»Tut mir leid, aber ein Mädchen mit diesem Namen haben wir nicht vermittelt.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Ich kann das sehen. Die ganzen alten Akten wurden vor ein paar Jahren digital erfasst. Jetzt ist alles im Computer. Ich hab ihren Namen eingegeben. Da kommt nichts.«

»Aber sie ist hier in der Stadt geboren worden und wurde als Baby adoptiert.«

»Vielleicht kamen die Eltern aus einer anderen Stadt. Dann werden die Kinder von den dortigen Jugendämtern erfasst. Oder sie wurde vielleicht gar nicht adoptiert, sondern kam erst mal als Pflegekind in eine Familie. Dann ist das auch nicht bei uns erfasst. Und manchmal, es kommt nicht oft vor, aber …«

»… Sie meinen, es können auch Daten verloren gehen?«

»Na ja.«

»Also, danke für Ihre Mühe«, sagte Jonah und legte auf. Er wusste nicht mehr weiter. Er nahm sich einen Apfel aus der Obstschale, ließ seine Hände über die glatte Schale gleiten und biss hinein. Sofort verzog er das Gesicht. Das musste einer dieser neuen Weirouge-Äpfel sein, die sein Vater mitgebracht hatte. Sie waren wahnsinnig sauer. Karminrot seien die Äpfel, hatte sein Vater geschwärmt. Das war Jonah völlig egal, er konnte die Farbe ja ohnehin nicht sehen. Er aß den Apfel auf und hatte immer noch keine Idee. Sollte er zur Polizei gehen? Aber was konnte er den Beamten sagen? Die Bänder waren längst überspielt. Und Dukie würde verstockt schweigen. Passiert war bislang auch nichts. Das einzige Ergebnis wäre, dass Dr. Saalfeld herausfinden würde, dass er ihn angezeigt hatte. Und dann konnten er und seine Eltern ihre Sachen packen. Dem Mädchen würde das nicht helfen.

»Jonah!?« Das war sein Vater. »Wo bist du denn?« Er kam in die Küche gerannt. »Ich hab dich schon im ganzen Haus gesucht. Du musst zum Arzt.«

»Hatte ich ganz vergessen«, sagte Jonah. »’tschuldigung.«

»Ich hol das Auto«, sagte sein Vater. »Geh du schon mal raus.«

Draußen war es warm. Ein schöner Junitag. In der Ferne hörte Jonah einen Laster rangieren. Dr. Saalfeld baute auf einem angrenzenden Acker ein riesiges Gewächshaus. Es sollte ein Tropenhaus werden. Der Junge setzte sich auf die Stufen und wartete.

»Hi, Jonah.« Das war Carmens Stimme. »Ich hab was für dich.« Sie berührte leicht seine Hand, öffnete sie und legte etwas hinein.

»Eine Kastanie«, sagte Jonah überrascht.

»War in meinem Mantel.«

»Es gibt doch jetzt gar keine Kastanien.«

»Die ist von letztem Jahr. Ganz verschrumpelt und leicht. Lustig, nicht?« Carmen lachte. »Die bringt Glück!«

Man sollte Carmen nicht alles glauben, was sie sagte, dachte Jonah und grinste. Wahrscheinlich beulte die Kastanie ihre Manteltasche aus, und sie wollte sie loswerden. Aber abergläubisch, wie sie war, getraute sie sich nicht, sie wegzuwerfen. »Danke!«, rief er ihr hinterher. Aber Carmen war längst verschwunden. Jonah blinzelte in die Sonne. Wie sollte er diese Lina Sandwey bloß finden?

Sein Vater fuhr vor. »Steig ein!«

Jonah setzte sich auf den Vordersitz und schnallte sich an.

»Was hast du denn unten in der Wohnung gemacht?«

»Nichts.«

»Aha.«

Im Radio lief »Hit the Road, Jack«. Nerviger Song, dachte Jonah. Aber er summte trotzdem mit.

»Gut gelaunt?«

»Nein.«

»Klingt aber so.«

»Ist aber nicht so.«

Sein Vater gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Was ist denn los?«

»Nichts«, sagte Jonah und fügte in Gedanken hinzu: Und das ist das Problem.

»Aha, verstehe.«

Jonah spürte, dass sein Vater ihn anschaute, und sagte: »Papa, guck nach vorne.«

Die Straßen waren voll. Berufsverkehr. Jonahs Vater stöhnte. Sie waren viel zu spät dran. Er überholte zweimal und versuchte die ein oder andere Ampel noch mitzunehmen. »Ist doch egal, wenn wir zu spät sind«, sagte Jonah.

Plötzlich schrie sein Vater: »Festhalten!«, und Jonah wurde nach vorn in den Sicherheitsgurt geschleudert. Sein Vater bremste scharf. Das Auto scherte aus und kam ins Schleudern. Jonah stützte sich mit den Händen am Armaturenbrett ab. Ein harter Ruck, und das Auto stand. Hinter ihnen quietschten Reifen. Aber es folgte kein Aufprall.

»Alles okay?«, fragte sein Vater besorgt.

Jonah nickte. Sein verletzter Daumen tat wieder weh. Er hatte sich auf ihm abgestützt. Und der Sicherheitsgurt hatte in seine Haut geschnitten.

Sein Vater stieg aus. »Was soll das denn?«, hörte Jonah ihn brüllen. »Bist du völlig verrückt? Wegen ein paar Enten? Ich hätte dich fast überfahren! Scheiße! Das hier ist eine Straße…« Jonah hörte niemanden antworten. Sein Vater brüllte immer weiter.

Schließlich kurbelte Jonah das Fenster hinunter und rief: »Papa, komm jetzt!«

»Nur ein paar Meter weiter ist eine Ampel«, schrie sein Vater wütend. »Da kann man prima über die Straße gehen!«

»Papa!!!«

Endlich ging die Fahrertür auf, und sein Vater ließ sich schwer seufzend in den Sitz fallen. Er ließ den Wagen an und fuhr los. Ein paar Minuten sagte keiner von ihnen etwas.

»Da hat ein Mädchen tatsächlich eine Ente mit ihrem Küken über die Straße geführt«, erklärte sein Vater schließlich und betonte dabei jedes Wort. »Nicht zu fassen. Sie sagte, sie sei gerade hier vorbeigekommen und habe die Tiere auf der Straße gesehen. Da habe sie schnell helfen müssen. Die seien ja sonst überfahren worden! Und dass ja alles gut gegangen sei, aber jetzt müsse sie schnell weiter, Süßigkeiten kaufen.« Nach einer Weile fügte Jonahs Vater noch hinzu: »Die tat, als ob sie unsterblich wäre. Und hübsch war sie. Dunkle Haare. Helle Haut.«

Ja, dachte Jonah, genau so ein Mädchen suche ich.

»Irgendwoher kenne ich die«, sagte sein Vater.

Jonah hörte nicht genau zu. Diese Lina Sandwey spukte weiter in seinem Kopf herum.

»Jetzt weiß ich’s!«, sagte sein Vater triumphierend.

Ich wüsste auch gern, wo sie steckt, dachte Jonah.

»Sie stand im Fernsehen neben Wim Tanner, als der sich im Stadion ausgezogen hat«, sagte sein Vater und schien mit dieser Erkenntnis sehr zufrieden.

»Wahrscheinlich hatte sie auch noch einen Leberfleck auf der Wange«, murmelte Jonah sarkastisch, dem nicht ganz klar war, was sein Vater da gerade gesagt hatte.

»Stimmt«, sagte sein Vater überrascht.

»Papa!«, schrie Jonah plötzlich. »Du musst sofort zurückfahren!« Fast hätte er seinem Vater ins Lenkrad gegriffen. »Ich muss sie unbedingt finden!«

An der nächsten Ampel wendete sein Vater. Er fuhr den Streckenabschnitt zweimal in jede Richtung ab. Auf Bitten Jonahs bog er auch noch in einige Nebenstraßen ein.

Aber vergebens.

Das Mädchen war weg.