Die Blüte der Titanenwurz

»Was sagst du dazu?« Dukie verschluckte sich fast vor Eifer. »Ich hab im Gewächshaus über der Titanenwurz ein Mikro montiert. In der Lampe. Und das Beste: Es hat einen Parabolspiegel! Der leitet dir die Töne alle ins Mikro, egal woher sie kommen. Der Spiegel reflektiert die da rein. Die Leute können stehen, wo sie wollen, wir kriegen alles mit. Wie findest du das?«

Jonah verzog gelangweilt sein Gesicht. Seit zwei Stunden erzählte Dukie ihm, welchen Sender er wo im Garten versteckt hatte und wie das Zeug funktionierte. Nicht dass sie in der Zeit irgendein Gespräch mitgehört hätten. Dukie war ganz mit dem Optimieren seiner Technik beschäftigt. Wenigstens begann jetzt langsam die Feier. Der Geräuschpegel auf der Familienveranda war bereits angeschwollen, und das Orchester spielte sich ein. Durch das geöffnete Fenster bekamen sie alles mit.

Dr. Saalfeld und seine Frau erwarteten hundertfünfzig ausgewählte Gäste. Wie immer wenn die Titanenwurz blühte, richteten sie kurzfristig ein Fest aus. Die Titanenwurz besaß die größte Blüte der gesamten Pflanzenwelt, und Dr. Saalfeld hatte sie vor einigen Jahren aus Sumatra mitgebracht. Wim Tanner schaffte es regelmäßig, sie zum Blühen zu bringen, was in der Fachwelt als ziemlich schwierig galt. Glücklicherweise stand die Titanenwurz in einem Gewächshaus im hinteren Teil des Gartens. Denn wenn sie blühte, stank sie mörderisch. Sie roch nach verwesendem Tierkadaver.

Pflichtschuldig warfen die meisten Gäste einen Blick auf die stinkende Pracht. Tatsächlich aber kamen sie wegen des gesellschaftlichen Ereignisses und des unglaublich schönen und großen Gartens des Gastgebers. Seit seiner Kindheit war Dr. Saalfeld ein Pflanzennarr gewesen und hatte dieses Hobby inzwischen perfektioniert. Von der etwas höher gelegenen Terrasse, auf der das Orchester spielte, führten kleine Kieswege vorbei an kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen und Rosenbeeten zu einer Wasserlandschaft. Mehrere alte Linden spendeten den Gästen Schatten. Unzählige kleine Hecken, verwitterte Mäuerchen, Steinfiguren, Pavillons und Springbrunnen schienen den Garten in einen verwunschenen Ort zu verwandeln. Nach Osten hin begrenzte ein Bauerngarten das Anwesen, nach Westen eine Margeritenwiese mit Weiden. Zur Straße hin lag das Gewächshaus, das von einem kleinen Wald aus alten Ahornbäumen und Eichen umgeben war.

»Stell doch das Mikro mit dem Parabolspiegel endlich mal an«, sagte Jonah. Ihm war zum Erbrechen langweilig.

»Gleich«, sagte Dukie. Dann feixte er. »Übrigens hab ich ein neues Computerprogramm, das die Gerüche gleich mittransportiert.«

»Du meinst, ich würde mir bald wünschen, dass bei dem Unfall auch meine Nase draufgegangen wäre?«, sagte Jonah aggressiv. Dukie antwortete nicht und schaltete stattdessen das Mikro ein.

»Liebe Freunde«, begann Herr Saalfeld gerade seine Rede. »Sie haben ganz recht: Diese braun-purpurne Blüte ist wirklich beeindruckend – und stinkt unglaublich!«

Im Hintergrund waren vereinzelt Stimmen zu hören.

»Barbarisch!«, sagte eine Frau und würgte laut.

»Raus hier!«, flüsterte ein Mädchen.

»Wie Leichengeruch«, fügte ein Mann hinzu.

»Wim, erzähl uns ein paar Einzelheiten«, bat Dr. Saalfeld.

»Meine Herrschaften …« Wim Tanner war direkt zur Stelle. »… was dem einen Ekel bereitet, ist dem anderen Genuss …« Einige der Anwesenden lachten. »Diese kleinen Käferchen hier, von denen Sie im Moment nur wenige sehen, die nachts aber in ganzen Scharen aktiv sind, fühlen sich durch den Geruch dieser Pflanze magisch angezogen …«

Jonah schaltete innerlich ab. Auf die biologischen Ergüsse Wim Tanners konnte er gut verzichten. Außerdem hatte der Mann einen unangenehm pfeifenden Atem, den das Mikrofon schonungslos übertrug. Wahrscheinlich Polypen, dachte Jonah.

»Hast du nichts Besseres?«, fragte er Dukie.

»Wieso, ist doch interessant.«

Jonah drängte nicht weiter. Das Orchester spielte Pretty Woman. Ob jemand tanzte? Seine alte Klasse hatte im vergangenen Jahr einen Tanzkurs gemacht. Sie hatten ihn gefragt, ob er mitgehen wolle, doch er hatte abgelehnt und seither von niemandem mehr etwas gehört. Jetzt ging er auf eine Sehbehindertenschule. Seine Eltern fuhren ihn morgens hin und holten ihn mittags wieder ab. Die ganze Veranstaltung nervte unendlich. Warum mit sechzehn Jahren noch mal lesen lernen?, hatte er sich mehr als einmal gefragt. Mit Punkten, die man unter den Händen kaum spürte? Und die ganzen Computerprogramme mit ihren Sprachausgaben ließen sich auch nicht gerade einfach bedienen. Er saß dort nur seine Zeit ab. Hin und wieder versuchte seine Mutter, ihm ins Gewissen zu reden. Er müsse sich kleine Ziele setzen, zum Beispiel sich wieder Notizen machen zu können. Mit ein paar Brailleschrift-Kenntnissen ließen sich die entsprechenden Schreibmaschinen ohne viel Aufwand benutzen. Doch Jonah ging nie auf diese Vorschläge ein und war froh, dass wenigstens sein Vater ihn in Ruhe ließ, der erst mal abzuwarten schien. Worauf, war Jonah allerdings nicht ganz klar. In der Zwischenzeit machte er ihm jedenfalls köstliche Nachtische.

Im Gewächshaus schwoll der Geräuschpegel plötzlich stark an. Dann verebbte er. Die Leute gingen hinaus. Dukie wollte den Sender gerade ausstellen, als die Stimme seines Vaters erklang.

»Wim, gute Nachrichten.«

»Was denn?«, fragte Wim Tanner.

»Das Mädchen hat angebissen«, sagte Dr. Saalfeld. »Sie hat sich beworben. Als eine der Ersten. Diese Gören sind alle gleich. Träumen von einer Karriere als Model … Wir warten noch ein paar Tage, damit der Wettbewerb glaubhaft ist. Dann laden wir sie zur Siegerehrung ein.«

»Läuft ja bestens.«

»Du besorgst trotzdem wie besprochen die Blutprobe. Das geht schneller. Ich will endlich anfangen.«

Es war wieder still.

Sie hat sich also beworben, dachte Jonah. Und ahnt wahrscheinlich nichts. Wie sie wohl hieß? Und wo sie wohnte? Jonah wollte Dukie gerade fragen, ob er in den vergangenen Tagen noch etwas über das Mädchen erfahren hatte, als dieser zu einem seiner Technikmonologe ansetzte. Er wollte von dem Thema ablenken, das war Jonah völlig klar. Seit dem Tag, als sie das Abendessen von Dr. Saalfeld und Wim Tanner belauscht hatten, waren sie nicht mehr auf das Mädchen zu sprechen gekommen.

»Soll ich die Mikros am Büfett laut schalten?«, fragte Dukie schließlich.

Jonah seufzte und nickte. Aber er war abgelenkt. Das Mädchen geisterte in seinem Kopf herum. Auf der Terrasse spielte das Orchester weiter irgendwelchen Quatsch. Jonah schnupperte und konnte einen vagen Duft nach Mandel und Vanille ausmachen. Sein Vater buk Amarettosoufflés. Hier im Dachgeschoss vermischte sich der süße Duft des Desserts mit dem Geruch der ausgestopften Fische, die von der Decke baumelten. In Jonah weckte das die Erinnerung an einen Nordseeurlaub, wo er vor vielen Jahren einmal auf einem Kutter Butterkuchen gegessen hatte. Sein Vater würde ihnen sicherlich gleich ein paar Soufflés hochbringen lassen. Das vergaß er nie. Auch nicht im größten Stress.

Direkt vor der Villa fuhr ein Auto vor. Das musste irgendein Super-V IP sein. Die zehn Stellplätze der Tiefgarage blieben bei festlichen Anlässen nur den wichtigsten Gästen vorbehalten. Vielleicht die Familie Hagenau, der ein beachtlicher Teil der Stayermed-Aktien gehörte. Oder Dr. Berger, der Aufsichtsratsvorsitzende, der so fett war, dass er kaum noch laufen konnte. Vielleicht auch der Oberbürgermeister.

Eine Autotür wurde geöffnet. Ein paar Gäste stiegen aus. Leises Gemurmel. Die Stimmen waren nicht zu erkennen. Dann Benno Krawtschiks tiefes Organ. Er bat um den Autoschlüssel, um den Wagen parken zu können.

Benno Krawtschik half bei Festen im Haus oft aus. Eigentlich war er Aufzugführer bei Stayermed, wo er den Vorstandsaufzug bediente. Wie er Jonah einmal anvertraut hatte, hätte er es nicht besser treffen können. Denn Benno Krawtschik war leidenschaftlicher Krimileser, und während die Herren in ihren Büros ihrem täglichen Kampf nachgingen, las er jeden Tag ein ganzes Buch.

»Hör dir das an!«, sagte Dukie plötzlich aufgeregt und rüttelte Jonah unsanft an der Schulter. »Das ist echt der Hammer!«

»Was denn?«

»Diese Blagen! Die Kinder vom Oberbürgermeister sind im Arbeitszimmer von meinem Vater. Keine Ahnung, wie die da reingekommen sind. Eigentlich schließt mein Vater immer ab. Die machen am Terrarium rum.«

»Wo die Puffotter drin ist?«

»Genau.«

»Niedliches Tier«, klang eine Knabenstimme aus dem Äther.

»Weiß nicht, vielleicht ist die giftig«, sagte ein zweiter Junge.

»Soll ich sie mal streicheln?«

»Bist du verrückt!«

»Puff …«

»Hast du das gehört?« Dukie flüsterte. »Das war die Schlange. Die hat puff gemacht.«

Natürlich hatte Jonah das gehört. War ja nicht zu überhören gewesen. Er grinste – Biologieunterricht am lebenden Objekt. Puffottern machten also puff, wie Klapperschlangen eben klapperten. War irgendwie logisch. »Die Schlange pufft wahrscheinlich, wenn sie sich bedroht fühlt«, sagte Jonah.

»Ja«, flüsterte Dukie. »Und ich sag dir was. Die haben den Deckel abgenommen.«

»Komm, wir machen den Kasten wieder zu«, sagte einer der Jungen.

»Uuh, scheißschwer … Hilf doch mal … Autsch!« Es folgte ein lautes Krachen, dann war es kurz still.

»Los, wir hauen ab.«

»Das war’s«, sagte Dukie. »Die haben ganz schön die Hosen voll.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Jonah.

»Was weiß ich«, sagte Dukie. »Der Deckel ist runtergefallen. Vielleicht ist er kaputtgegangen. Ich hab auch nicht mehr gehört als du.«

»Und jetzt?«

»Jetzt hören wir mal woanders rein.«

Dukie war wirklich gnadenlos. Jonah überlegte, ob er auch dann noch an seinem Schaltpult sitzen bliebe, wenn das Haus in Flammen stünde. Wahrscheinlich schon.

»Was willst du hören?«, fragte Dukie.

»Sag mir Bescheid, wenn du deinen Alten und Wim Tanner findest und sie über das Mädchen sprechen«, sagte Jonah.

»Wieso denn immer das?«, beschwerte sich Dukie. »Wie wäre es mit dem Oberbürgermeister? Oder dem Mädchen am Eisstand?«

»Moderatoren besorgen das, was die Leute hören wollen, kapiert? Und du bist der Moderator.«

»Schon gut.«

Es klopfte. Eine junge Angestellte brachte ein paar Soufflés. Sie war neu und hieß Marie. In null Komma nichts roch der ganze Raum nach Mandeln, Vanille und Amaretto. Marie wurde in letzter Zeit häufiger damit betraut, das Essen ins Dachgeschoss zu bringen. Weil sie ziemlich schüchtern war, vermied Jonah es, sie anzusprechen. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber sie hatte eine nette Stimme, und Jonah freute sich, wenn sie kam.

Er aß das Soufflé im Bett und konnte alle Zutaten einzeln herausschmecken. Jonah schloss die Augen und sah ein helles, orange glänzendes Soufflé mit einer leicht verwehten Schicht Puderzucker vor sich. Es schmeckte warm und süß und nach Sehnsucht. Er nahm sich noch ein zweites und biss genüsslich hinein.

»Ich hab meinen Vater zusammen mit Wim Tanner!«, sagte Dukie mit vollem Mund. »Ich glaube, sie sprechen über das Mädchen«, fügte er in triumphierendem Tonfall hinzu. »Die haben gerade was über eine Genprobe gesagt.«

»Wo sind sie denn?«

»Unter unserem Baumhaus. Die sitzen bestimmt auf der Bank am Teich. Hab da natürlich auch ein Mikro versteckt.«

»Zieh hoch, Dukie«, sagte Jonah, bevor sein Kumpel weiterreden konnte.

»Das stimmt doch gar nicht«, sagte Wim Tanner in dem Augenblick. »Ihr wart alle verrückt nach dem Baby. Nicht nur Norbert Königssohn. Du auch. Lina Sandwey hier, Lina Sandwey da, Lina Sandwey dort. Ist zwar fünfzehn Jahre her, aber ich erinnere mich trotzdem noch verdammt gut. Sie war das hübscheste Baby auf der Station: weiße Haut, dunkler Flaum auf dem Kopf, rote Lippen, ein Muttermal auf der Wange. Ihre Mutter war genauso hübsch, nur leider drogenabhängig. Ich weiß noch, dass du dem Baby viermal am Tag die Flasche gegeben hast – als Arzt! Womit du recht hast: Norbert war überhaupt nicht mehr ansprechbar. Er arbeitete damals rund um die Uhr. Seine gesamten Forschungen drehten sich nur noch um sie. Wenn du mich fragst, er war besessen von ihr. Ich erinnere mich auch noch an den Tag, als sie von ihren Adoptiveltern in der Klinik abgeholt wurde …«

»Und wann kriege ich jetzt endlich diese Genprobe?«, unterbrach Dr. Saalfeld den Redestrom.

»Morgen.«

»Wirklich?«

»Ja, ich besorge dir das Blut.«

»Das ist gut.«

»Brauchst du dann auch noch Haare, wenn ich Blut habe?«

»Nein, Blut reicht.«

»Guten Tag, Herr Dr. Saalfeld …«

»Verdammt!«, schimpfte Dukie. »Die sind unterbrochen worden.«

»Hast du das Gespräch aufgenommen?«, fragte Jonah.

»Klar«, sagte Dukie. »Mach ich immer.«

»Kannst du es speichern? Ich mein, für länger?«

»Nee, geht nicht. Das überspielt sich nach ’ner Zeit von selbst.«

»Speichre es doch bitte.«

»Nee, geht nicht.«

Dann eben nicht, dachte Jonah genervt. Er würde sich eben das Wichtigste merken. Das Mädchen hieß Lina Sandwey. Und dann gab es noch einen Norbert Königssohn. Und jetzt?

»Dukie, du solltest das Mädchen warnen«, sagte Jonah.

»Lass mich in Ruhe«, antwortete Dukie.

Jonah reichte es. Er rutschte zur Bettkante, stand auf, ging vorsichtig an den Muschelfeldern vorbei zur Tür und verließ den Raum. Weil er keine bessere Idee hatte, schlug er den Weg zum Klo ein. Nach sechs Schritten geradeaus stand er auf der Galerie im Treppenhaus. Er ging bis zum Geländer, machte dort kurz Halt und lauschte den Stimmen aus den unteren Stockwerken. Die Party war in vollem Gang. Gedämpftes Gemurmel drang zu ihm herauf. Jonah hörte die Garderobiere mit den Kleiderbügeln klappern. Dann vernahm er die Stimme von Frau Menzel, Dr. Saalfelds Chefsekretärin, die ihren Mantel verlangte. Frau Menzel galt bei den Herren im Konzern als überaus attraktiv, fähig und bestens informiert. Jetzt hörte Jonah auch Dr. Saalfelds Schritte. Sie näherten sich der Garderobe. »Sie verlassen uns bereits?« Er hatte einen charmanten Ton angeschlagen. »Nehmen Sie bitte noch ein Canapé. Die sind wirklich sehr gut. Mein Koch …« Dann klirrte Glas, und Marie rief erschrocken: »Oje!« Kurz darauf Frau Saalfelds dunkle warme Stimme: »Hol den Handfeger. Ich pass auf, dass keiner reintritt.« Frau Saalfeld rutschte immer wieder das Du heraus, wenn sie mit ihren Angestellten sprach. Meistens verbesserte sie sich dann schnell. Jonah hörte das Klirren der Scherben, als Marie sie zusammenkehrte. »Ist nicht so schlimm«, hörte er Frau Saalfeld noch sagen. Der Rest ging im Schlagen der großen Standuhr im Erdgeschoss unter. Es war fünf Uhr. Jonah drehte sich um. Er würde jetzt erst einmal aufs Klo gehen.

Plötzlich hörte er ein Zischen. Puff, puff, puff. Er blieb abrupt stehen, die linke Hand noch an der Brüstung, das rechte Bein bereits in der Luft. Stille. Dann wieder puff, puff. Jonah rührte sich nicht und horchte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Er wartete. Und dann spürte er auf einmal die Schlange. Sie kroch direkt an seinem Fuß vorbei. Zunächst stieß ihr Kopf sacht gegen seinen Knöchel, dann folgte ihr schlängelnder Rumpf und ihre kitzelnde Schwanzspitze. Im nächsten Moment war sie weg. Sie ist wirklich nicht lang, dachte Jonah, eben eine Babyschlange.

Er traute sich nicht weiterzugehen. Wenn die Schlange noch in der Nähe war, würde sie ihn vielleicht doch beißen. Sollte er um Hilfe rufen? Und wenn er die Schlange damit erschreckte? Er wartete noch eine Weile, dann wagte er es. »Dukie!«, rief Jonah mit gedämpfter Stimme. Die Antwort war ein Puff, Puff, Puff, Puff. Scheiße, dachte er. Und plötzlich spürte er Angst in sich hochsteigen, eine dunkle mächtige Angst. Da kam die Schlange zurück. Ihre trockene, kühle Haut streifte erneut seinen Knöchel. Aber diesmal kroch sie nicht vorbei. Sie rollte sich an seinem Fuß zusammen und blieb dort liegen.

Jonah stand da wie erstarrt. Sein ganzer Körper war in Aufruhr, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Er stand immer noch mit der einen Hand an der Brüstung und dem rechten Bein in der Luft. Wie lange würde er in dieser Haltung ausharren können? Alle seine Sinne waren geschärft, er hatte sich noch nie so wach gefühlt. Er erinnerte sich plötzlich an ein abgehörtes Gespräch, bei dem Wim Tanner geprahlt hatte, dass Babypuffottern giftiger als ihre Mütter seien. »Sie machen ihre geringe Größe durch ein besonders starkes Gift wett«, hatte er gesagt.

Das Bein, auf dem Jonah stand, begann zu schmerzen. Er wartete. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Er merkte, wie die Angst ihn verließ. Er fühlte sich mit einem Mal frei. Jetzt, in diesem Augenblick, konnte er zwischen Leben und Tod wählen. Jonah wurde übermutig. Soll ich mich ein bisschen bewegen?, überlegte er. Die Schlange würde wahrscheinlich nicht lange zögern und ihre Giftzähne in sein Bein bohren. »Ein tragischer Unfall«, würden die Leute sagen. Nicht unbedingt eine schlechte Idee. Schließlich konnte er nicht sein ganzes Leben im Dachgeschoss der Villa verbringen. Dukie würde spätestens nach dem Abitur ausziehen. Und dann musste auch er wieder zu den Menschen da unten hinabsteigen. Zu den Sehenden. Ohne lange nachdenken zu müssen, wusste er, dass er darauf keine Lust hatte. Das Leben hatte es mit ihm nicht gut gemeint. Warum sollte er sich jetzt besonders ins Zeug legen? Warum überhaupt in einer Welt leben, die nicht mehr die seine war? Warum in einen Wettbewerb treten, den man nur verlieren konnte? Er würde sich sowieso entscheiden müssen, wie es weiterging. Warum die Entscheidung nicht jetzt treffen? Hier zu seinen Füßen lag eine elegante Lösung.

Jonah bewegte das Bein in der Luft ein wenig, wie um die Bewegung, die ihn töten könnte, anzutesten. Die Schlange wurde sofort unruhig. Sie stieß mit ihrem Kopf an seinen Knöchel, richtete sich auf und züngelte seine Wade entlang. Es kitzelte. Aber wenn die Schlange mich beißt, wird niemand das Mädchen warnen, dachte Jonah plötzlich. Und er kannte jetzt immerhin ihren Geburtsnamen. Es gab nur einen Grund, sich nicht von der Schlange umbringen zu lassen, und der war, dass er das Mädchen warnen musste. Wollte er das wirklich? Was ging sie ihn überhaupt an? Aber wenn er ehrlich war, interessierte er sich schon für sie. Er hatte immer genau hingehört, wenn Dr. Saalfeld und Wim Tanner über sie gesprochen hatten. Er hatte Dukie gedrängt, ihr zu helfen. Warum? Irgendwie fühlte er sich moralisch dazu verpflichtet. Und er hatte das Gefühl, dass es vielleicht der erste Schritt zurück ins Leben sein könnte. Er wollte zurück. Und dass er das wollte, war das Ätzende. Er wollte nicht wollen. Am schwersten war zu ertragen, dass einen das Leben mit Füßen trat und man dennoch an ihm hing. Warum drehte man sich nicht einfach um und verließ die Bühne?

Und dann war die Angst wieder da. Wie ein schweres Tier legte sie sich erst in seinen Bauch und kroch dann weiter in seine Beine, Arme, den Kopf und in die Haarspitzen. Ja, auch in die Haare. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie wie elektrisch geladen von seinem Kopf abgestanden hätten. Die Uhr im Erdgeschoss schlug Viertel nach fünf. Bissen Schlangen eigentlich auch zu, wenn man sich nicht bewegte? Konnte ja sein. Er war jetzt nass geschwitzt – und wartete weiter. Wenn die Schlange mich nicht beißt, warne ich das Mädchen, sagte er sich. Es war ein Schwur.

Er war so darauf konzentriert, sich nicht zu bewegen, dass er Carmen nicht kommen hörte. Sie musste die Schlange sofort gesehen haben, denn noch auf der Treppe machte sie wieder kehrt. Erst da nahm Jonah ihre klappernden, sich schnell entfernenden Schritte wahr. Ein paar Minuten später kam Wim Tanner die Stufen hoch. Er hatte einen Behälter mit verängstigt piepsenden Küken dabei, den er vorsichtig auf den Boden stellte. Kurz darauf richtete sich die Schlange an Jonahs Knöchel auf und kroch davon. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, sagte Wim Tanner: »Ich hab sie. Hattet ihr Spaß miteinander?«