Klara handelt

Die Papiere lagen auf dem Bistrotisch. Klara ließ sie nicht aus den Augen. Sie hatte einen Aschenbecher, eine kleine Blumenvase und einen Bierdeckelhalter auf den dünnen Stapel gestellt. So konnten die Dokumente nicht wegfliegen. Nicht dass es in dem Café windig gewesen wäre. Aber Klara hatte das dringende Bedürfnis, sie zu sichern. Der Nachteil war, dass das bunte Sammelsurium von Gegenständen den Text verdeckte. Sie hatte noch kein Wort gelesen. »Möchtest du etwas trinken?« Klara zuckte zusammen. Die Bedienung war unbemerkt an sie herangetreten. »Eine heiße Schokolade bitte«, antwortete Klara automatisch. Dann rief sie Charlie auf dem Handy an und bat sie, sofort zu kommen. Charlie passte nicht weit vom Café entfernt auf die Kinder einer Lehrerin auf. In zehn Minuten sei sie fertig, sagte sie.

Jette war jetzt seit vier Tagen verschwunden. Vier lange Tage. Unzählige Male hatten Jettes Eltern bei Klara angerufen. Ob sie nicht irgendeine Idee habe, wo Jette sein könnte? Ob ihr nicht etwas aufgefallen sei? Jettes Eltern waren krank vor Angst. Und Klara auch. Gleich am Freitag hatte sie ihre Aussage bei der Polizei gemacht. Sie hatte ihnen von dem Betrüger vom Roten Kreuz erzählt. Ob das etwas mit dem Verschwinden von Jette zu tun haben könnte, wollte sie wissen. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, war die Standardantwort des Kommissars gewesen.

Sie und Charlie hatten alle Freunde und Bekannten von Jette angerufen. Und noch bevor die Polizei irgendwie tätig geworden war, hatten sie zusammen mit Jettes Eltern ihr Zimmer durchsucht. Sie hatten Jettes Notizbuch auf Termine hin durchforstet, ungelöschte Nachrichten auf ihrer Mailbox abgehört und sogar ihr Tagebuch gelesen. Nichts. Es gab nicht einen Hinweis, wo sie sich aufhalten könnte. Jette war wie vom Erdboden verschluckt. Und diesen Jungen, mit dem sie kurz vor ihrem Verschwinden bei Anna gewesen war, kannten weder Klara noch Charlie. Das machte die Sache nicht besser.

Klara hob den Aschenbecher etwas in die Höhe. »Persönliche Daten der vernommenen Personen«, las sie. »Hier, deine Schokolade!« Klara wirbelte herum und stieß mit dem Ellbogen an das Tablett der Kellnerin. Die Schokolade schwappte über den Tassenrand und das Tablett schwankte bedrohlich. Aber die Kellnerin bekam es wieder zu fassen, und mit triumphierender Miene stellte sie es vor Klara ab. »Wichtige Unterlagen?«, fragte sie mit Blick auf die Papiere.

Klara schwieg. Dann schossen ihr unvermittelt die Tränen in die Augen. Schnell beugte sie sich über die Kakaotasse, trank einen Schluck und verbrannte sich den Mund.

Sie war am Mittag im Polizeipräsidium gewesen, um dem Kommissar ihre Hilfe anzubieten. Niemand kannte Jette so gut wie sie und Charlie. Klara hätte der Polizei sagen können, wie sich Jette in bestimmten Situationen verhalten würde. Was realistisch war und was nicht. Eine unschätzbare Hilfe für die Polizei, hatte sie gedacht. Doch der Kommissar wollte sie nicht einmal vorlassen. Er habe zu tun, hieß es. Aber Klara hatte sich nicht abwimmeln lassen. Schließlich war sie tatsächlich im Zimmer des Abteilungsleiters gelandet, dem Chefs des Kommissars. Der Abteilungsleiter bereitete gerade seine Abschiedsfeier vor. Er ging in Pension.

»Klara!« Charlie ließ sich neben sie auf den Stuhl fallen. Von ihr ging eine wohltuende Ruhe aus, und Klara fühlte sich sofort besser. »Was ist das?«, fragte Charlie und zeigte auf die Blätter.

»Na ja«, sagte Klara ausweichend.

»Du warst doch bei der Polizei, oder?«, fragte Charlie.

Klara nickte. Und dann erzählte sie. Wie sich der Abteilungsleiter nur für sein Büfett interessiert hatte, das gerade aufgebaut wurde. Wie er mit der hübschen Küchenhilfe über den gelieferten Mettigel gefachsimpelt hatte, der nichts anderes als ein ekelhafter Hackfleischkloß mit Zwiebelaugen und Salzstangenstacheln war. Wie er die Buletten, Schnitzel und Blutwürste selbst am Tisch angerichtet hatte und es einfach nicht möglich gewesen war, mit ihm über Jette zu sprechen.

»Und dann ist seine Sekretärin mit einer ausgedruckten E-Mail reingekommen«, sagte Klara und schaute Charlie bedeutungsvoll an. »Eine ausgedruckte E-Mail!«

»Ja und?«, fragte Charlie.

»Auf seinem Schreibtisch stand kein Computer. Verstehst du? Gar keiner. Kein PC, kein Laptop. Und dann hat der Abteilungsleiter aus einem Aktenschrank einen Hängeordner geholt und die E-Mail dort abgeheftet. ›Vermisstensache Lindner und Mint‹ stand drauf. Und den Ordner hat er auf seinem Schreibtisch liegen lassen.«

Charlies Blick wanderte zu den Papieren auf dem Bistrotisch. Begreifen machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Und wie hast du das gemacht?«, fragte sie begeistert. »Du bist echt unglaublich.«

»Die Küchenhilfe hat ein Spanferkel reingebracht. Auf einem Wohnzimmergrill. Die beiden haben den Grill angeschlossen und das Feuer angemacht. Und dann wollte der Abteilungsleiter den Rauchmelder abmontieren. Also Stuhl in die Mitte rollen, hochklettern, abschrauben und … cool und lässig wieder runterspringen. Aber Mister-jung-Geblieben hatte sich auf einen Drehstuhl gestellt, und der hat sich beim Runterspringen weggedreht.« Bei der Erinnerung daran musste Klara grinsen.

»Und?«, fragte Charlie lachend.

»Er ist auf dem Spanferkel gelandet! Bum! Ein dumpfer Aufprall. Fleisch auf Fleisch. Hat kurz gezischt, dann war das Feuer aus. Hat es mit seiner Wampe ausgedrückt.« Klara kicherte. »Glück für ihn, dass er keinen Gyrosspieß bestellt hat …« Sie prustete. »Er hat sich dann tausendmal entschuldigt. Vor allem bei der Küchenhilfe, die voll mit Fett war. Ich hab gesagt, ich muss mal auf die Toilette, um mir ein paar Fettspritzer abzuwaschen. Und dann bin ich mit der Mappe aus dem Zimmer gegangen. Einfach so. Er hat’s nicht gemerkt. Das Klo war gleich nebenan. Ich hab mich da eingeschlossen und wusste nicht weiter. Ich dachte, mit der ganzen Mappe komme ich nie aus dem Polizeipräsidium raus. Das merken die auf jeden Fall. Deshalb hab ich die wichtigsten Seiten rausgerissen, in meine Hosentasche gesteckt und die Mappe zurückgelegt.«

Charlie schaute ihre Freundin bewundernd an.

»Manchmal hat man keine Wahl«, sagte Klara.

Charlie stimmte ihr zu. »Komm, wir sehen uns an, was du mitgebracht hast«, sagte sie und nahm vorsichtig die Blätter in die Hand. Es waren acht Seiten Computerausdrucke. Alles Berichte des Kommissars an den Abteilungsleiter. Um genau zu sein: gekürzte Vernehmungsprotokolle. Auf den letzten zwei Seiten hatte der Kommissar noch notiert, welche Maßnahmen er vorschlug und wie er den Fall einschätzte. Außerdem gab es noch ein Blatt mit den Personalien der Zeugen.

Sie begannen mit den Protokollen.

Joachim Mint, Vater des vermissten Jungen, 14.6. (Donnerstag), 21 Uhr. (Vernehmungsprotokoll, gekürzt.)

Jonah ist blind und geht normalerweise nicht allein aus dem Haus. Jetzt ist es schon neun Uhr, und er ist spurlos verschwunden. Ich meine, wenn er irgendwo auf der Straße wäre: Das müsste doch auffallen. Ein blinder Junge allein! Aber niemand hat ihn gesehen. Wir machen uns solche Sorgen. Ich habe ihn heute Morgen in die Schule gefahren. Als meine Frau ihn am Mittag abholen wollte, sagte die Lehrerin, er sei gar nicht im Unterricht gewesen! Wir verstehen das nicht. Jonah wirkte in letzter Zeit so aufgeregt und ruhelos. Irgendetwas beschäftigte ihn. Und dann gab es auch noch eine merkwürdige Begebenheit. Vor ein paar Tagen ist mir ein Mädchen vors Auto gelaufen. Jonah war auch dabei. Zum Glück ist nichts passiert. Als wir weiterfuhren, fiel mir auf, dass ich das Mädchen schon einmal gesehen hatte. Sie war während eines Fußballspiels neben Wim Tanner, unserem Gärtner, im Fernsehen gewesen. Als ich meinem Sohn das sagte, war er ganz außer sich und wollte unbedingt, dass ich zu dem Mädchen zurückfahre und es anspreche. Aber wir haben sie nicht mehr gefunden.

Martina Lindner, Mutter des vermissten Mädchen, 14.6. (Donnerstag), 22 Uhr.

Jette wollte zu Anna ins Büdchen, um sich Süßigkeiten zu kaufen. Der Kiosk ist nur fünf Minuten von uns entfernt. Sie geht oft dorthin. Aber dann ist sie einfach nicht wiedergekommen. Ihre Freundin Klara hat bei uns auf sie gewartet. Die beiden wollten zusammen lernen. Wir haben dann irgendwann bei Anna angerufen. Aber da war Jette schon längst weg. Anna sagte, sie sei mit einem blinden jungen Mann fortgegangen. Wir haben keine Ahnung, wer das sein könnte. Wir verstehen das alles nicht. Wo ist sie bloß? Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Können Sie sie suchen? – Nein, uns ist nichts aufgefallen. Jette war wie immer. Bitte, Sie müssen unser Kind finden.

Carmen Serrano, Hausangestellte, hat die Vermissten als Letzte gesehen, 15.6. (Freitag), 10.30 Uhr.

Ich habe Jonah und das Mädchen gestern Nachmittag zufällig auf der Straße getroffen. Es war vielleicht halb drei. Sie standen in der Beethovenstraße vor einem Kiosk. Ich habe in der Nähe einen Besuch gemacht. Jonah wohnt im Haus meines Arbeitgebers. Er ist der Sohn des Kochs. Ich kenne ihn gut (weint). Jonah ist blind. Ich habe die beiden gefragt, ob ich sie mit dem Auto mitnehmen soll. Sie wollten zur Uniklinik, um dort jemanden zu besuchen. Ich habe sie hingefahren. Mehr kann ich nicht sagen. Jonah und das Mädchen waren eindeutig verliebt. Sie haben sich zusammen auf den Rücksitz gesetzt und, na ja, miteinander rumgemacht. Sie waren in Partylaune. Ich sage es nicht gern, aber sie hatten auch getrunken. Also, ehrlich gesagt, rochen sie nach Schnaps. Das Mädchen erzählte etwas von Italien. Ich glaube, die beiden planten eine Italienreise. (Bricht wieder in Tränen aus.)

»Verstehst du das?«, fragte Klara ratlos.

Charlie schüttelte den Kopf.

»Jette hat noch nie Schnaps getrunken«, murmelte Klara. »Und wieso Italien?«

»Von diesem Jungen hat sie auch nie etwas erzählt«, sagte Charlie. »Nicht einmal ihrem Tagebuch.«

Die Mädchen lasen weiter.

Anna Seifert, Kioskbesitzerin (76), hat die Jugendlichen kurz vor ihrem Verschwinden gesehen, 15.6. (Freitag), 16 Uhr.

Jette war gestern Mittag bei mir. Die Uhrzeit weiß ich nicht mehr. Sie hatte einen Freund dabei. Der Junge war blind. Ich hab ihn noch nie gesehen. Die beiden haben bei mir im Hinterzimmer eine Cola getrunken. Sie wollten allein sein. Jette kommt oft zu mir. Fast jeden Tag. Ich kenne sie von klein auf. Ich weiß noch, wie sie das erste Mal »Anna« gesagt hat. Sie konnte fast noch gar nicht reden, aber »Anna« hat sie gesagt. Die beiden sind nicht lange geblieben. – Wie lange? Nicht lange, sagte ich doch. Schnaps? Ja, Jette hat nach Schnaps gefragt. Ich hab ihr welchen gegeben. Ich glaube, sie brauchte ihn, um damit eine Wunde zu desinfizieren. Dann sind sie gegangen. Sie wollten noch einen Krankenbesuch machen. Jette wirkte wie immer. Ganz normal. Die beiden haben ein Schild bei mir stehen lassen, da steht etwas von einer Entenmutter mit einem Küken drauf. Ich kann mir keinen Reim drauf machen. Bitte, finden Sie sie schnell. Jette ist der beste Mensch auf der Welt. Sie ist heute noch gar nicht da gewesen.

Klara Winter, Schülerin und Freundin des vermissten Mädchens, 15.6. (Freitag), 17 Uhr.

Vor einigen Tagen hat ein Mann Jette Blut abgenommen. Bei ihr zu Hause. Ich bin dazugekommen, als sie gerade fertig waren. Der Mann war ein Betrüger. Er hatte Jette gesagt, er wäre vom Roten Kreuz, aber das stimmte gar nicht. Ich habe Jette gesagt, sie soll sich das Blut wiederholen. Wer weiß, was der Mann damit vorhatte! Wir haben ihn dann verfolgt, und Jette hat ihm das Blut aus seinem Auto geklaut. Aber er hat es gemerkt und ist hinter ihr her. Im Fußballstadion hat er sie erwischt und wollte sich das Blut wiederholen. Aber Jette hat sich gewehrt. Der Mann ist dann abgehauen. War eine peinliche Situation für ihn. Und das Blut hat er auch nicht gekriegt. Meinen Sie, der Mann hat Jette entführt? Kennen Sie ihn? Ich habe den Mann gesehen. Wir können ein Phantombild machen. Wir müssen Jette finden.

Wim Tanner, Gärtner, ist mit dem vermissten Mädchen im Fußballstadion gesehen worden, und ein Arbeitskollege des Vaters des vermissten Jungen, 15.6. (Freitag), 19 Uhr. (Dieser Zeuge kennt also beide vermissten Personen!)

Ich stand im Stadion tatsächlich neben ihr. Sie war sehr hübsch und hat mich angesprochen. Ehrlich gesagt fühlte ich mich geschmeichelt. Wir flirteten etwas, aber ich war zurückhaltend. Sie war ganz offensichtlich zu jung für mich. Dann stellte ich aber fest, dass meine Brieftasche weg war. Als ich sie zur Rede stellte, versuchte sie abzuhauen. Ich konnte sie festhalten. Zwei weitere Besucher haben mir geholfen. Das Mädchen war außer sich vor Wut, als ich meine Brieftasche bei ihr fand und wieder an mich nahm. Sie hat mir dann aus Rache … Also das ist mir jetzt wirklich unangenehm. Müssen Sie das so genau wissen? Nun, sie hat mir aus Rache Gummibärchen mit Ameisen in die Hose gesteckt. Es war das erste und einzige Mal, dass ich das Mädchen gesehen habe. Und, ehrlich gesagt, bin ich auf weitere Treffen auch echt nicht scharf.

»Jette, eine Diebin!«, rief Klara empört aus.

»Und ein Flittchen«, antwortete Charlie leise. »Schau, da kommst du noch mal.«

Klara Winter, Schülerin und Freundin des vermissten Mädchens, im Präsidium wg. Identifizierung von Herrn Tanner (Vorlage eines Fotos), 15.6. (Freitag), 21 Uhr.

Ja, das ist der Mann. Er hat meiner Freundin das Blut abgenommen. Ich bin mir sicher. Ich erkenne ihn wieder. Haben Sie ihn festgenommen? Hat er Ihnen gesagt, wo Jette ist?

Alexander Saalfeld, Freund des vermissten Jungen und Sohn des Arbeitgebers, bei dem der Vater des vermissten Jungen beschäftigt ist, 16.6. (Samstag), 11 Uhr.

Jonah ist jetzt seit zwei Tagen verschwunden. Ich mache mir Vorwürfe. Ich wusste, dass er das Mädchen warnen wollte. Oder ich habe es zumindest geahnt. Aber ich wollte damit nichts zu tun haben. Sie werden das nicht verstehen, aber ich mische mich in die Angelegenheiten meines Vaters nicht ein. Das hat eine lange Geschichte. Aber jetzt denke ich, dass ich Ihnen sagen sollte, was ich weiß: Ich bin mir sicher, dass mein Vater und Wim Tanner hinter der ganzen Sache stecken. Eigentlich wollten die beiden nur das Mädchen kidnappen. Warum Jonah jetzt auch verschwunden ist, weiß ich nicht. Vielleicht war er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. – Warum mein Vater das Mädchen entführen wollte? Er vermutet, dass sie ein besonderes Gen hat, das für seinen Kosmetikkonzern sehr wertvoll sein könnte. Sie soll eine makellose Haut haben. Ich glaube, mein Vater hat sich das so vorgestellt, dass sie ihr ein Schlafmittel geben und ihr dann heimlich Blut abnehmen. Wenn mein Vater die Mutation dann tatsächlich findet, weiß niemand, wie er darauf gekommen ist. Er muss dann keine Konkurrenz fürchten. Aber ich verstehe nicht, warum er die beiden nicht längst wieder freigelassen hat. Blutabnehmen dauert ja nicht so lange. Vielleicht haben sie ihn erkannt? – Ob Jonah und Jette ein Paar sind? So ein Quatsch. Die kannten sich doch gar nicht. Woher ich das alles über meinen Vater weiß? Ich habe ihn belauscht. Müssen Sie ihm von meiner Aussage erzählen?

»Kosmetikindustrie …«, sagte Charlie. »Hoffentlich machen die keine Menschenversuche.«

»Quatsch«, sagte Klara. Aber ihre Stimme klang unsicher. Sie nahm sich schnell das nächste Papier vor.

Dr. Kai Saalfeld, Chef von Stayermed, Arbeitgeber des Vaters des vermissten Jungen, 16.6. (Samstag), 14.30 Uhr.

Ich kenne das vermisste Mädchen nicht. Ich habe sie noch nie gesehen. Mein Sohn sagt, ich sei an dem Blut des Mädchens interessiert? Bin ich ein Vampir? (Lacht.) Nein, im Ernst, natürlich forschen wir permanent nach neuen Wirkstoffen. Aber dafür kidnappen wir doch keine jungen Mädchen. Sie müssen meinen Sohn entschuldigen. Er ist sehr sensibel und hat immer wieder psychotische Schübe. Er meint es nicht so. Aber manchmal fällt es ihm schwer, Realität und Fiktion zu unterscheiden. Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen.

Marie Kosta, Hausmädchen bei Dr. Saalfeld, 16.6. (Samstag), 18 Uhr.

Ich war krank. Deshalb habe ich erst jetzt mitbekommen, dass Jonah und seine Freundin verschwunden sind. Die Eltern der beiden sollen sich ja große Sorgen machen. Ich wollte Ihnen sagen, dass ich die beiden noch vor einigen Tagen gesehen habe, und zwar im Gewächshaus an der Villa. Genauer gesagt habe ich sie dort überrascht. Sie hatten sich im Palmenhain ein richtiges Liebesnest gebaut. Ich habe sie überhaupt nur bemerkt, weil ich für die Küche Kokosnüsse pflücken sollte. Die beiden waren bester Stimmung. Sie tranken Sekt, rauchten und hatten fast nichts mehr an – im Gewächshaus ist es ja schön warm. Sie sagten, ich solle mich zu ihnen setzen. Weil ich, ehrlich gesagt, von meiner Arbeit ziemlich bedient war, hab ich’s getan. Das Mädchen hat mir erzählt, dass sie ihre leibliche Mutter suchen wolle. Sie habe eine Spur von ihr in Italien. Jonah werde auch mitkommen. Für mich hörte sich das so an, als seien sie in Gedanken bereits in Italien. Wahrscheinlich bekommen ihre Eltern bald Post von ihnen, und alles klärt sich auf.

»Die Frau lügt«, flüsterte Klara.

»Und schon wieder Italien«, murmelte Charlie. »Das hat diese …« Sie blätterte in den Unterlagen. »… Carmen auch gesagt.«

Durchsuchung des Anwesens der Familie Saalfeld, 17.6. (Sonntag), 8.00 Uhr.

Gelände nach Vermissten abgesucht. Negativ. Hunde schlugen vielfach an, v. a. weil der Junge in der Villa wohnt. Aber auch bzgl. des Mädchens Geruchsspuren an zwei Orten: im Palmenhain und im Affenhaus des neuen Tropenhauses (noch ein Liebesnest?). Keine weiteren Spuren der Jugendlichen. Gesamtes Grundstück war verwanzt. Urheber: Sohn Dr. Saalfelds. Technik wurde Dr. Saalfeld übergeben. Durchsuchung des Arbeitszimmers von Dr. Saalfeld ergab keine Hinweise auf Verstrickung in den Fall. Akten und Dateien zur Auswertung beschlagnahmt.

Zeitgleiche Durchsuchung bei Stayermed, Chefbüro und genetische Forschungslabore, 17.6. (Sonntag), 8 Uhr.

Keine Hinweise auf unzulässige Forschungen. Akten und Dateien zur weiteren Auswertung beschlagnahmt.

»Wo ist Jette bloß?«, sagte Klara bedrückt. »Jetzt kommt noch der Kommissar.«

Szenarien? Motive?

Theorie 1: Dr. Saalfeld hat tatsächlich mit Hilfe des Gärtners die vermissten Jugendlichen entführt. Hinweise, die dies vermuten lassen, konnten bei der Haus- und Bürodurchsuchung allerdings nicht gefunden werden. Es existieren lediglich die recht abenteuerlichen Aussagen der jungen Leute, die keine Beweise beibringen können. Überhaupt bleiben in diesem Szenario viele Fragen offen: Warum weiß bei Stayermed niemand über dieses angeblich wichtige Projekt Bescheid? Wären entsprechende Forschungen wissenschaftlich betrachtet überhaupt realistisch? Warum wurde der Junge ebenfalls entführt?

Theorie 2: Es liegt kein Verbrechen vor. Stattdessen befinden sich die beiden vermissten Jugendlichen auf einer Italienreise. Es gibt zwei glaubwürdige Zeugenaussagen, die von entsprechenden Plänen berichten (Marie Kosta und Carmen Serrano). Die Jugendlichen sind demnach ohne Erlaubnis losgefahren. Dies kommt häufiger vor, als man gemeinhin annimmt. Der blinde junge Mann, der aufgrund der Aussagen der oben bereits genannten Zeugen offensichtlich sehr verliebt war, wollte möglicherweise das Risiko eines Verbots der Reise gar nicht erst eingehen. Was das Mädchen betrifft, wollte sie ihren Adoptiveltern möglicherweise nicht eingestehen, dass sie ihre leibliche Mutter sucht. Nach Rückfrage bei unserer Polizeipsychologin ist ein solches Verhalten nicht selten. Sollte sich dieses Szenario bewahrheiten, haben die Zeugenaussagen der übrigen jungen Leute ausschließlich den Zweck, den wahren Grund der Abwesenheit der Vermissten zu verschleiern. Sie haben ihre Aussagen entsprechend abgestimmt und sich die Geschichte mit dem besonderen Gen ausgedacht, das Herr Dr. Saalfeld angeblich sucht. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Jugendlichen versuchen, den Verdacht auf Dr. Saalfeld zu lenken. Sein Sohn Alexander ist auch nicht gut auf ihn zu sprechen (Zitat Alexander Saalfeld: »Das hat eine lange Geschichte«). Vielleicht handelt es sich um einen Rachefeldzug. Weitere Geschichten wie die Blutabnahme durch den Gärtner Wim Tanner sollen die Polizei offenbar auf falsche Fährten führen.

Fazit: Szenario 2 erscheint mir plausibel. Es gibt keinen einzigen tragfähigen Beweis für die Anschuldigungen der Jugendlichen. Dr. Saalfeld hat einen ausgezeichneten Leumund. Er ist ein geschätzter Bürger (wohltätige Spenden, Verdienste um die Gartenkunst), erfolgreicher Unternehmer und zuverlässiger Familienvater. Sein Sohn hingegen hat durch die Verwanzung der Villa und des Gartens großes kriminelles Potenzial bewiesen. Auch die psychische Situation der jungen Leute spricht für das hier beschriebene Szenario. So ist der blinde Jonah Mint vermutlich sehr verliebt, was eine »Spontanreise zu zweit« nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt. Das offenkundig sehr hübsche vermisste Mädchen scheint innerhalb ihres Freundeskreises eine dominante Rolle zu spielen, was dazu führt, dass ihre Freunde zu Falschaussagen für sie bereit sind. Was sie selbst betrifft, wäre es nicht das erste Mal, dass ein Adoptivkind eine gewisse psychische Labilität aufweist.

Maßnahmen:
Die Aktenlage erlaubt es nicht, Dr. Saalfeld und Wim Tanner festzunehmen. Die Anschuldigungen der Jugendlichen sind nicht glaubhaft. Die Polizei wird die vermissten Jugendlichen zur Fahndung ausschreiben. Möglicherweise kann die Polizei in Italien sie aufspüren. Entsprechend wird die Polizei keine Sonderkommission zur Suche der Jugendlichen einrichten. Wir gehen davon aus, dass die Jugendlichen in einigen Wochen von selbst wieder auftauchen. Um auf Nummer sicher zu gehen, werden wir allerdings in den nächsten Wochen, zumindest solange die Jugendlichen verschwunden sind, Herrn Dr. Saalfeld und Herrn Tanner observieren lassen. Zu dieser kostenträchtigen Maßnahme haben wir uns aus Gründen der Vorsicht entschieden. Sollten sich Auffälligkeiten ergeben, wird der Einsatz einer Sonderkommission neu geprüft werden. Beim Umgang mit der Presse empfehle ich, auf das Alter der Vermissten hinzuweisen. Wir haben es bei den Vermissten nicht mit Kleinkindern zu tun – in einem solchen Fall wäre tatsächlich höchste Alarmbereitschaft gegeben –, sondern mit zwei frischverliebten 15- und 16-jährigen Jugendlichen.

Klara fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »›Psychische Labilität‹«, wiederholte sie. »Die verdrehen alles. Jette ist in Gefahr, und die tun so, als machte sie eine Italienreise! Das alles ist doch der Hammer!« Sie machte eine Handbewegung in Richtung der Blätter.

»Wir sollten nicht zu viel von der Polizei erwarten«, stellte Charlie fest.

»Am besten gar nichts«, sagte Klara böse. »Wichser.«

»Was?«

»Wichser!«, sagte Klara lauter.

Die Bedienung blickte zu ihnen herüber.

»Und jetzt?«, fragte Charlie nach einer Zeit.

Klara kramte in den Papieren. Dann hielt sie die Seite mit den Adressen hoch.

»Holunderweg 8. Die Villa der Saalfelds. Da fahren wir jetzt hin. Irgendwo muss Jette ja sein.«