Wim Tanner feiert Geburtstag

Wim Tanner saß auf der Familienveranda der saalfeldschen Villa und schenkte gerade Getränke ein. In das erste Glas füllte er einen Lowland Scotch, in das zweite einen Straight Bourbon und in das dritte einen japanischen Single Malt. Mit Whiskeys kannte er sich aus. Und was er in der Hausbar im Esszimmer gefunden hatte, konnte sich sehen lassen.

Heute war sein Geburtstag. Sein fünfunddreißigster. »Bedien dich«, hatte Kai Saalfeld gesagt und war dann in sein Arbeitszimmer verschwunden.

Das erste Glas, das er eingeschenkt hatte, war für ihn selbst. Das zweite und dritte für fiktive Gäste. Ein altes Spiel von früher. Am Morgen hatte ein Lieferant sogar noch einen Kasten besten Mineralwassers aus den schottischen Highlands gebracht. Es war also alles da, was man für eine Whiskeyparty brauchte. Eine der Frauen musste das Wasser noch vor ihrer Abreise bestellt haben. Regelrecht überstürzt hatten sie alle das Haus verlassen. Mit Ausnahme von Carmen. Die war schon seit geraumer Zeit nicht mehr da gewesen. Einige Tage nach ihrer Aussage bei der Polizei hatte sie sich heulend krankgemeldet. Wim Tanner hatte den Anruf in der Villa zufällig entgegengenommen. Jetzt waren nur noch er selbst, Kai Saalfeld und das Mädchen in der Villa.

Der kleine Verandatisch wackelte etwas, und er legte eine winzige Nacktschnecke, die gerade an seinen Füßen entlangkroch, unter eines der Tischbeine. Das Möbelstück drückte sich tief in den schleimigen Körper des Tieres und hatte jetzt Halt.

Die Abendsonne fiel warm auf sein Gesicht, als Wim Tanner in den Garten blickte. Zugegeben, es war riskant gewesen, in die Villa zurückzukehren. Aber es hatte geklappt. Seine Verkleidung hatte standgehalten. Jetzt, wo alles gut gegangen war, fand er den Schachzug genial. Niemand vermutete ihn hier. Die Polizei hatte das Haus gerade nach Strich und Faden durchkämmt. Draußen vor den Toren hingegen suchten sie das ganze Land nach ihm ab. Nicht ohne Grund hatten sich legendäre Mafiagrößen immer wieder in ihren Heimatdörfern versteckt. Dort fanden sie Unterstützung bei ihren Familien, und wenn die Polizei einen Ort einmal gut durchsucht hatte, wurde sie nachlässig. Der Mafiakiller Bernardo Provenzano zum Beispiel hatte alle an der Nase herumgeführt. Vierzig Jahre lang hatte er unbehelligt im Untergrund gelebt. Erst dann war er festgenommen worden, und zwar in seinem Heimatdorf Corleone auf Sizilien. Wim Tanner hatte nicht vor, denselben Fehler wie Provenzano zu machen. Er würde nicht zu lange am selben Ort bleiben. Sein Plan war, sich ein neues Versteck zu suchen, sobald es draußen etwas ruhiger geworden war. Bis dahin konnte er das Mädchen gut in der Villa unterbringen. Verstecke gab es genug. Von Zimmern im Haus, die niemand mehr nutzte und die mit Gerümpel vollgestellt waren, bis hin zu geheimen Kellerverliesen, die er im Laufe der Jahre eigenhändig angelegt hatte. Keinen Ort kannte er so gut wie die Villa, keiner war so verlässlich. Offiziell war es natürlich Kai Saalfelds Haus, doch Wim Tanner hatte es über die Jahre auf seine Art in Besitz genommen. Hier, an diesem Ort, im Auge des Orkans, fühlte er sich sicher. Wim Tanner beglückwünschte sich selbst zu der gelungenen Rückkehr.

Als er mit einem neu gekauften Gebrauchtwagen zur Villa gefahren war, hatte er das Mädchen im Kofferraum versteckt. Die Zivilbeamten am Eingang hatten ihn noch nicht mal angehalten.

Er hatte sich als älterer, südländischer Mann verkleidet und gab sich als der neue Gärtner aus. Der alte war flüchtig, hatte die Polizei erzählt. Er grinste beim Gedanken daran, wie leicht er die Beamten hatte täuschen können. Das Mädchen hatte er von der Garage aus unbemerkt ins Haus bringen können, denn in der Garage befand sich ein Aufzug, der bis hinauf ins Dachgeschoss fuhr, wo sie nun angekettet war.

Wim Tanner blickte in eines der gefüllten Whiskeygläser. Sein geschminktes Gesicht spiegelte sich in der goldgelben Flüssigkeit. Ein Gefühl von Bitterkeit stieg in ihm hoch. Was für ein Aufwand, sich so zu verkleiden! Er hatte eine Rundumverwandlung hinter sich. Seine dichten Haare waren ausgedünnt und grau gefärbt. Außerdem trug er jetzt einen ungepflegten grauen Vollbart. Über dem rechten Ohr steckte ein Hörgerät, und eine Selbstbräunungscreme sorgte für den südländischen Teint. Die Augen waren rot unterlaufen, aber dafür hatte er nicht extra Hand anlegen müssen. Das war das Werk dieser Jette Lindner. Und die Halskrause, die er trug, hatte er dem behinderten Sohn der Mints zu verdanken.

Natürlich hatte Wim Tanner auch einen neuen Namen: Antonio Caño, Gärtner aus Andalusien. Ob er an Gesellschaft interessiert sei, hatte Kai Saalfeld vorhin noch gefragt und ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, das Terrarium mit der Puffotter auf die Veranda gestellt. Eigentlich hatte Wim Tanner das Tier Kai Saalfeld zu dessen Geburtstag geschenkt. Aber in der Praxis war es nun doch eher seine Schlange geworden.

Das Tier war deutlich gewachsen, seitdem Wim Tanner es das letzte Mal gesehen hatte. Es lag träge in einer Ecke des Terrariums und rührte sich nicht. Als er an die Schlange herantrat, öffnete sie ihre zu Schlitzen verengten Augen und blinzelte ihn an. Dann rollte sie sich wieder zusammen und schlief weiter.

Das Einzige, wobei sie nicht nachlässig werden durften, war die Geschichte mit dem Abhören. Dem missratenen Sohn Saalfelds war durchaus zuzutrauen, dass er sie weiter belauschte. Vielleicht hatte auch die Polizei ein paar Wanzen versteckt. Am Nachmittag hatte er mit Kai Saalfeld ein längeres Gespräch gehabt. Sicherheitshalber hatten sie sich dabei auf eine Decke mitten auf der Wiese im Garten gesetzt und auch noch einen Kassettenrekorder angestellt. Sie hatten sich nicht einmal getraut, Stühle mitzunehmen. Wer wusste schon, wo der Bengel seine Mikros versteckt hatte? Aber schließlich waren sie keine Anfänger, daher hatten sie die Sache im Griff. Er hatte sich vorgenommen, im Haus möglichst nicht zu sprechen. Oder nur bei lauter Musik. Womöglich würden Alexander oder Jonah sonst noch seine Stimme erkennen.

Seit dem Gespräch mit Kai Saalfeld wusste er, dass sich vieles ändern würde, verdammt viel sogar, aber das war nicht unbedingt schlecht. Denn je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er endlich die Chance bekam, die er immer haben wollte: Er war nun sein eigener Herr.

Wim Tanner ließ den Blick über den Garten schweifen, was mit der Halskrause, die er trug, gar nicht so einfach war. Sofort stieg wieder bodenlose Wut in ihm hoch. Er ballte seine Hände zu Fäusten, hielt es nicht mehr auf dem Stuhl aus und sprang auf. Er machte zwei Schritte in Richtung des Hauses, wo er das Mädchen im Dachgeschoss eingesperrt hatte, konnte sich dann aber doch noch beherrschen und setzte sich wieder. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren, dachte er. Ich darf nichts Unüberlegtes tun.

Vor ihm lag der Garten mit seiner Blütenpracht da. Die Abendsonne ließ die Farben warm erstrahlen. Rot, Gelb, Orange, Blau, wohin er blickte. Der Garten strahlte etwas Friedliches aus.

Wim Tanners Blick fiel auf das Päckchen am Boden. Das obligatorische Geburtstagspaket seiner Mutter. Er würde es später öffnen. Interessanter war der Brief, der neben ihm auf dem Verandatisch lag. Kai Saalfeld hatte ihm das Schreiben direkt nach seiner Ankunft gegeben. Es war unbemerkt in den Briefkasten der Villa eingeworfen worden. Es waren nur wenige Zeilen. Ein Unbekannter kündigte darin an, dass er Wim Tanner wegen des Falken, den er in jener Nacht am See getötet hatte, zur Rechenschaft ziehen würde. Außerdem verlangte er, dass er das Mädchen sofort freiließe. Das Ganze war mit »Ein reisender Königssohn« unterschrieben.

Der Brief war wirklich sonderbar. Wim Tanner wusste beim besten Willen nicht, was er davon halten sollte. Er war mit Computer auf weißem Papier geschrieben. Ohne Briefkopf. Eigentlich gab es nur zwei Erklärungen: Entweder war der Sohn der Mints völlig am Durchdrehen und drohte ihm. Vielleicht gab er sich als Königssohn aus, der Schneewittchen retten wollte. Nur lag Schneewittchen nicht in einem Glassarg, sondern saß unter einem Glasdach. Wahrscheinlich wusste der junge Mint durch die Abhöraktionen über den Falken Bescheid. Die zweite Möglichkeit: Norbert hatte den Brief geschrieben. Immerhin hieß er Norbert Königssohn. Irgendwie endeten seine Gedanken in dieser Sache immer wieder bei Norbert. So oder so würde er sich von dem anonymen Schreiben nicht beeindrucken lassen. Es war an der Zeit, wieder selbst den Takt vorzugeben.

In den letzten vier Tagen war er der Gejagte gewesen. Er hatte sich eigentlich nur kurz am Elend der Bälger weiden wollen. Einmal von außen an das Verlies klopfen, es kurz öffnen, ein »Hallo, wie geht’s?« hineinschicken und dann wieder zurück ins Krankenbett düsen. Das war sein Plan gewesen, wenn auch ein ziemlich riskanter, denn er wusste, dass die Polizei ihn beschattete. Aber ein bisschen Spaß musste sein, und es war wirklich nicht schwer gewesen, unbemerkt an dem Aufpasser vor der Tür im Krankenhaus vorbeizukommen. Er hatte einfach gewartet, bis der Mann aufs Klo gegangen war. Der Beamte hatte zwar für diese Zeit die Tür von außen abgeschlossen, aber Wim Tanner hatte sie in null Komma nichts mit einem Draht geöffnet, war in aller Seelenruhe hinausspaziert und hatte sich ein Taxi genommen.

Aber die Gören waren nicht im Verlies gewesen. Am Ende hatte er unter großem Stress ein Auto knacken müssen und war in allerletzter Sekunde mit dem Mädchen abgehauen. Zuvor hatte der blinde Sohn der Mints ihn noch schwer am Hals verletzt. Die Schmerzen hatten ihn schier wahnsinnig gemacht. Weil er es nicht für ratsam gehalten hatte, in Deutschland einen Arzt aufzusuchen, war er mit dem gestohlenen Wagen über die Grenze nach Belgien gefahren. Zum Glück war er zu dem Zeitpunkt noch nicht zur Fahndung ausgeschrieben gewesen und wurde nicht kontrolliert.

In Brüssel hatte er sich über Nacht unter falschem Namen als Tourist in einem Krankenhaus behandeln lassen. Das Mädchen hatte er auf einem einsamen Parkplatz im Auto eingeschlossen. Sie war gar nicht wach geworden. Er hatte ihr extra noch ein Schlafmittel gespritzt. Früh am nächsten Morgen war er mit einem Mietwagen und einer neuen falschen Identität wieder nach Deutschland eingereist, das schlafende Mädchen im Kofferraum. Die folgenden drei Tage hatte er mit ihr in einem abgeschiedenen Haus verbracht. Die Immobilie hatte er vor einigen Jahren – ebenfalls unter falschem Namen – gekauft.

Erst heute Morgen hatte Kai Saalfeld mit ihm Kontakt aufgenommen und ihn wissen lassen, dass die Luft in der Villa rein sei. Die Polizei hatte das Haus gründlich durchsucht – und überhaupt nichts gefunden. Offenbar auch nichts, was Kai Saalfeld hätte belasten können. Dennoch stand es um Kai Saalfeld nicht gut. Die Polizei hatte ihm klargemacht, dass er als verdächtig galt. »Kann sein, dass sie mich nur deshalb nicht einlochen, weil sie Angst haben, dass ich das Mädchen irgendwo versteckt habe und es dann niemals gefunden wird. Bestimmt denkt die Polizei, dass ich sie früher oder später zu dem Versteck führe, wenn sie mich nur lange genug beschattet«, hatte er gemeint.

Ein richtig schwerer Schlag für Kai Saalfeld war allerdings die Reaktion von Stayermed gewesen. Das Unternehmen hatte ihn fristlos entlassen. Man könne sich niemanden an der Spitze leisten, gegen den polizeilich ermittelt werde, so die Begründung. Der Konzern hatte sich sogar geweigert, Kai Saalfeld die im Fall vorzeitigen Ausscheidens vertraglich zugesicherte Abfindung zu zahlen. Bei einer fristlosen Kündigung aufgrund von polizeilichen Ermittlungen sei das nicht nötig, hatte Aufsichtsratschef Berger süffisant erklärt.

Und das Unternehmen hatte noch einen Trumpf in der Hand gehabt: Stayermed wusste, dass Kai Saalfeld das entführte Mädchen als Gewinnerin des Schönheitswettbewerbs vorgesehen hatte. Der Polizei gegenüber hatte Kai Saalfeld aber immer behauptet, von dem Mädchen erstmals aus den Medien erfahren zu haben. Stayermed hatte Kai Saalfeld zu verstehen gegeben, dass sie diese Information an die Polizei weitergeben würden, wenn er die Modalitäten seines Ausscheidens aus der Firma nicht akzeptieren würde. Das war natürlich Erpressung, doch Saalfeld konnte nichts dagegen tun. Doch für ihn wurde es finanziell jetzt verdammt eng. Wim Tanner war vorher gar nicht klar gewesen, dass Kai Saalfeld unter solch großem finanziellem Druck stand und auf sein Gehalt und die Bonuszahlungen angewiesen war, um das Tropenhaus bezahlen zu können.

Aber trotz all dieser Probleme war Kai Saalfeld weiterhin erstaunlich guter Dinge. Die Formel für die reine Haut hatte er immer noch nicht gefunden, aber das würde nicht mehr lange dauern, hatte er gesagt. In der Zeit, in der die Polizei das Haus durchkämmte, hatte Kai Saalfeld kaum arbeiten können. Aber jetzt wollte er wieder loslegen. Kai Saalfeld war es gelungen, seinen Computer bei Stayermed mitzunehmen und in der Villa zu verstecken. Außerdem hatte er angeblich bei Stayermed keine Datenspuren hinterlassen.

In der Presse wurde inzwischen freimütig über ein »Schönheits-Gen« spekuliert, das mit der Entführung von Jette Lindner zusammenhänge. Der Sohn des Kochs hatte natürlich alles ausgeplaudert. Aber auch das schien Kai Saalfeld kaum zu beunruhigen. »Ich bin der Einzige, der weiß, auf welchem Gen er suchen muss«, hatte er gesagt. »Die anderen haben keine Chance. Selbst wenn sie sich irgendwie ein paar Haare von dem Mädchen besorgen können.«

Kai Saalfeld war der festen Ansicht, dass der Aufsichtsrat wieder angekrochen käme, wenn er ihm signalisiere, dass er über besagten Code verfüge. »Es geht um zu viel Geld.« Außerdem behauptete er, dass die Polizei ihm nichts nachweisen könne, da er an alles gedacht habe. Vorsichtshalber habe er sogar die Bänder seines Sohnes entsorgt. Bislang hatte Dukie der Polizei offenbar keine Bänder ausgehändigt, und jetzt war es dafür zu spät. Kai Saalfeld war lieber auf Nummer sicher gegangen. Denn selbst wenn die Gespräche überspielt worden waren, hätte irgendein Tontechniker vielleicht noch etwas rekonstruieren können.

Jetzt aber endlich einen Schluck zum Entspannen, dachte Wim Tanner. Er hob das Glas mit dem Scotch. »Auf das nächste Lebensjahr«, sagte er und hob es in die Höhe. Die goldgelbe Flüssigkeit schwappte träge von einer Seite zur anderen und verströmte einen schwachen Duft nach Zitrone und Wiesenblumen. Er merkte, dass der neue Bart beim Trinken störte. Wieder stieg Wut in ihm hoch, doch als ihn der Branntwein von innen zu wärmen begann, beruhigte er sich ein wenig. Mit einem zweiten Schluck leerte er das Glas. Dann spülte er seinen Mund mit Wasser aus und nahm sich der Getränke seiner Gäste an.

Es hatte seine Vor- und Nachteile, allein zu feiern. Der Nachteil war: Es galt als nicht gesellschaftsfähig. Im besten Fall hielten einen die anderen für verkorkst. Aber der Vorteil war, dass man mit niemandem teilen musste. Wim Tanner hatte sich entschieden, nur den Vorteil zu sehen. Der letzte Geburtstag mit echten Gästen lag schon eine Ewigkeit zurück; es war sein siebter gewesen, und er hatte einen richtigen Kindergeburtstag gefeiert. Doch am Tag danach hatte ihm ein Klassenkamerad gesteckt, dass seine Mutter allen Kindern zwei Mark für ihr Kommen gegeben hatte. Seit diesem Tag hatte Wim Tanner nie wieder jemanden eingeladen.

Sein Blick fiel auf die Zeitungen, die auf der Bank neben der Verandatür lagen. Zuoberst eine Boulevardzeitung. Der Aufmacher war wie immer ein Foto des vermissten Mädchens. Jeden Tag tauchten neue Bilder von Jette Lindner auf. Inzwischen musste ihr gesamter Bekanntenkreis seine Fotos verkauft haben. Wim Tanner hatte keine Ahnung, was für die Bilder gezahlt wurde, aber die Zeitungen schienen sich um sie zu reißen. Mit der Schönheit und Tragik des Mädchens ließ sich Auflage machen. Auch von ihm war wahrscheinlich irgendwo in der Zeitung ein Foto. Allerdings das Fahndungsfoto. Und das würde garantiert niemand mit dem andalusischen Gärtner in Verbindung bringen, als der er sich jetzt ausgab.

Wim Tanner holte sich die Zeitung und sah, dass neben dem Bild von Jette Lindner noch ein zweites, kleineres abgedruckt war. Herr und Frau Saalfeld beim Tanzen. Mitten durch das Paar verlief ein Riss, womit die Redaktion die Trennung der beiden bekannt gab. Die Überschrift lautete: »Böser Verdacht«. Darunter stand:

Wie lange hält eine Frau zu ihrem Mann? Was weiß Frau Saalfeld, was der Polizei nicht bekannt ist? Tatsache ist, dass Nadine Saalfeld, geborene Hochstadt, nach 21 Ehejahren ihren Mann verlassen hat. Den gemeinsamen Sohn Alexander (16) nahm sie mit. Am Freitagnachmittag um 16.35 Uhr verließen die beiden in einem voll gepackten Coupé das Anwesen. »Ich gehe für immer«, sagte Frau Saalfeld einer Freundin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Noch am selben Tag zogen auch die Eltern des befreiten Jungen, die bis dahin als Privatbedienstete bei Dr. Saalfeld beschäftigt gewesen waren, und das gesamte übrige Personal aus. Eine weitere Angestellte: »Alle wollen nur noch weg. Es ist gruselig, sich vorzustellen, dass die jungen Leute hier auf dem Grundstück gefangen waren und dass man immer noch nicht weiß, was genau passiert ist.« Um Dr. Kai Saalfeld, vor ein paar Tagen noch Topmanager und in der Gesellschaft gern gesehener Gartenmäzen, ist es still geworden. Hat das Glück ihn ohne eigene Schuld verlassen? Oder trägt er ein grausames Geheimnis in seinem Herzen?

Auf weibliche Hysterie ist Verlass, dachte Wim Tanner. Wie gut, dass alle weg waren. Sonst könnte er sich jetzt nicht hier aufhalten, irgendjemand hätte ihn bestimmt erkannt. Morgen würde er ein Versteck in der Villa herrichten, in dem das Mädchen länger bleiben konnte. Ich stell ihr auch die Schlange rein, dachte er. Vielleicht pariert sie dann endlich.

Er ging ins Esszimmer, um sich mit neuen Getränken zu versorgen. Bevor er mit den Gläsern wieder hinausging, drückte er noch auf die Fernbedienung der Stereoanlage. Ella Fitzgerald. Jazz. Die CD musste noch Frau Saalfeld eingelegt haben. Er stellte die Anlage laut, sodass die Musik bis weit in den Garten schallte. »Ihr habt ja gar nichts zum Sitzen«, sagte er entschuldigend in seine imaginäre Runde von Gästen. Eigentlich war er zu alt für solche Spielchen, aber sie holten ihn immer wieder ein. Er stellte zwei Stühle dazu.

Als Kind hatte er später zu seinen Geburtstagen immer zwei, drei fiktive Freunde eingeladen. »Rudi«, sagte Wim Tanner laut zu dem leeren Stuhl, »schenk doch mal ein.«

Rudi tat, wie ihm geheißen. Er war ein ehemaliger Arbeitskollege aus Klinikzeiten. Sie waren abends oft zusammen durch die Bars gezogen und hatten sich als junge Oberärzte ausgegeben. »Kumpel«, sagte Rudi und reichte ihm ein Glas, »du siehst so alt aus!« Er lachte wiehernd.

»Das kann ganz schnell gehen«, konterte Wim Tanner und trank das Glas in einem Zug aus.

»Auf dich, alter Sack«, sagte jetzt Ulf, ein ehemaliger Schulfreund, und erhob ebenfalls sein Glas. In Wim Tanners Fantasie tranken jetzt alle auf sein Wohl.

»Wenn ihr mir einen Wunsch erfüllen möchtet«, sagte Wim Tanner, »dann lasst uns auf meine Fledermaus anstoßen. Auf mein Mädchen.« Er leerte das dritte Glas. »Schluss jetzt!«, sagte er laut und schnippte mit den Fingern. Rudi und Ulf verschwanden. Wim Tanner hob das Päckchen auf, das immer noch auf dem Boden lag. »An den Jubilar« stand in großen Buchstaben auf dem Packpapier. Er hatte keine Lust, es zu öffnen, tat es aber trotzdem. Das Erste, was er sah, war eine Unterhose mit einem gelb-rosa-hellblauen Wellenmuster. Der Mann sank ermattet auf den Stuhl zurück, und das halb geöffnete Päckchen fiel ihm aus den Händen.

Seit dem Vorfall im Stadion, den sich seine Mutter bei einem Bekannten auf YouTube angesehen hatte, schickte sie ihm regelmäßig Unterhosen. An jenem Tag hatte er eine ebensolche, von ihr geschenkte, Unterhose mit Wellenmotiven getragen, aber nur, weil er keine andere saubere mehr gehabt hatte. Es war eine Notsituation gewesen, in der er morgens nach eben dieser Unterhose gegriffen hatte. Aber seine Mutter hatte die Szene als öffentliche Liebesbekundung gegenüber ihren Unterhosen verstanden und kaufte seither sämtliche Bestände pastellfarbener Unterhosen mit Wellenmuster auf.

Sein Vater war ganz anders gewesen. Er war ihm nie zu nahe getreten. Er hatte ihn auch gelehrt, dass man Menschen nicht brauchte. Von Beruf war er Kammerjäger gewesen. Der beste weit und breit. Die Leute pflegten viel Geld zu zahlen, damit er sie von ihrem Ungeziefer befreite, aber wenn er ihr Haus wieder verlassen hatte und sie ihn nicht mehr brauchten, mieden sie ihn.

Sein Vater redete immer mit Pflanzen und unter seinen Händen gediehen sie, als sei ihnen jeder Tag ein Fest. Seinen Sohn weihte er in die Geheimnisse der Pflanzenwelt ein, doch anders als sein Vater hegte Wim Tanner die Pflanzen nicht aus Liebe. Wenn er sie goss, das Unkraut jätete oder die Triebe beschnitt, spürte er seine Macht. An den Pflanzen studierte er die Kunst der Manipulation, und das mit großem Erfolg. Seine »Blumen des Bösen« trugen die herrlichsten Blüten.

Wim Tanner gähnte. Er holte sich einen letzten Cutty Sark aus der Hausbar und trank. Die Sonne war hinter den Bäumen untergegangen, aber es würde noch lange hell sein. Die kleinen Buchsbäume unterhalb der Terrasse hatten einen neuen Schnitt nötig, stellte er fest. Und wie es wohl im Gewächshaus aussah? Es gab noch eine zweite Titanenwurz, die theoretisch ebenfalls blühen konnte.

Die Schlange war wach geworden. Wim Tanner ging zum Terrarium und betrachtete sie. Je größer sie wurde, desto deutlicher zeichneten sich die braunen Streifen auf ihrem Rücken ab. Sie glitt lautlos über den weichen Untergrund aus Holzspänen und trockenen Blättern und suchte nach etwas Essbarem. »Was möchtest du haben?«, fragte Wim Tanner. »Ein Mäuschen?«

Er ging in die Küche und fand in den Tiefen der Kühltruhe einen Zehnerpack toter Mäuse. Er nahm eine Maus heraus und taute sie in der Mikrowelle auf. Dann knotete er das Tier mit dem Schwanz an einem Bambusstock fest und ging zurück auf die Veranda.

Die Schlange glitt unruhig im Terrarium auf und ab. Ob Kai Saalfeld sie wohl zuverlässig fütterte?, fragte sich Wim Tanner. Jetzt, wo er wieder in der Villa war, würde er sich lieber selbst darum kümmern. Er nahm den Deckel ab und legte den Stock quer über das Terrarium, sodass die Maus im Inneren hin und her baumelte. Die Schlange legte sich auf die Lauer. Wim Tanner gab dem Stock einen kleinen Stups, und das Mäuschen pendelte nun stärker im Käfig herum. Plötzlich schnellte die Schlange in die Höhe und riss die Maus vom Stock. Mit ihrer Beute im Maul verkroch sie sich in einer Ecke, renkte sich gekonnt den Kiefer aus und verschlang die Mahlzeit durch ihren geweiteten Rachenraum. »Guten Appetit«, sagte Wim Tanner.

In der nächsten Zeit würde er endlich zeigen können, was in ihm steckte. Kai Saalfeld hatte ihm am Nachmittag gestanden, ihn nicht mehr bezahlen zu können. Vierzehn Jahre hatte er für ihn gearbeitet. Der Mann hatte ihn immerhin aus dem verhassten Krankenhaus herausgeholt. Aber er hatte ihn in den folgenden Jahren auch herumkommandiert. In der saalfeldschen Villa lag auch noch eine zweite Kündigung. Der Konzern beschäftigte ihn natürlich auch nicht als Chefgärtner weiter.

Kai Saalfeld hatte sich gewünscht, dass Wim Tanner wenigstens für ihn persönlich weiter als Gärtner arbeitete. Den Garten würde Kai Saalfeld als Letztes aufgeben, das war klar. Sie hatten einen Deal gemacht. Wim Tanner würde sich weiter um die Pflanzen kümmern, und dafür bekam er das Mädchen. Das bedeutete, dass er mit ihr machen konnte, was er wollte. Die einzige Bedingung war, dass Kai Saalfeld weiter Zugriff auf ihre Gene haben könnte.

Bisher hatte er das Mädchen immer als Kai Saalfelds Gefangene betrachtet. Jetzt war sie seine Gefangene. Und er wusste auch schon, welchen Nutzen er aus dieser neuen Situation ziehen würde. Er hatte nicht vor, das Mädchen sexuell zu missbrauchen. Zumindest nicht, wenn sie sich einigermaßen benahm. Sex war ein Einfallstor für Fehler, und er wollte seine Chance nicht leichtfertig verspielen. Stattdessen würde er das Mädchen zu Geld machen, zu einem Vermögen. Sie sollte das Startkapital für seine neue Existenz sein. Was die Fledermäuse betraf, hatte er ja einen Rückschlag verkraften müssen. Aber er hatte bereits einen Plan. Die Berichte in den Zeitungen hatten ihn darauf gebracht.