Jette im Erdloch

Es hatte wieder angefangen zu schneien, und Jette spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Aber Jonah lief einfach weiter. Obwohl seine Füße tief im Schnee einsanken, wurde der Abstand zwischen ihnen größer. Jooonaaah!, versuchte sie zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Die Schneeflocken kamen jetzt von allen Seiten. Langsam verblasste Jonahs Gestalt im Schneetreiben. In der Ferne hörte sie ein dumpfes Grollen, das immer lauter wurde. Es schien näher zu kommen. Riesige Schneemassen türmten sich auf einmal vor ihr auf. Dann schlugen sie über ihr zusammen, rissen sie mit sich fort, drückten auf ihren Körper, schoben sich in ihren Mund, in die Nase, in die Ohren.

Luft, dachte sie. Ich brauche Luft! Jette fuhr aus ihrem Albtraum hoch. Sie zitterte am ganzen Körper. Um sie herum war es dunkel. Sie legte ihre Hände auf ihr Gesicht – kein Schnee. Ich habe nur schlecht geträumt, versuchte Jette sich selbst zu beruhigen. In ihrem Kopf pochte es, und sie hatte Schüttelfrost. Sie atmete tief durch und zog die Knie an. Die Stoffdecke, die sie hatte, war viel zu dünn für das kalte Erdloch, in dem sie sich befand. Sie tastete nach der Kopflampe, die sie am Vorabend neben sich auf der Matratze abgelegt hatte. Wie dunkel es hier war! Gar nicht weiß wie in dem Traum, sondern ganz schwarz. Aber machte das einen Unterschied?

Bei ihrem Fluchtversuch aus der Villa war alles schiefgegangen. Das gesamte Glasdach war eingestürzt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sofort waren überall die Lichter angegangen. Der Lärm hatte anscheinend das ganze Haus aufgeweckt. Jette hatte durch das offene Fenster in das Zimmer von Dukie einsteigen können und sich hinter einer Kommode versteckt. Weil es ihr zu gefährlich erschien, die Flucht durch den Garten direkt anzutreten, hatte sie erst mal abgewartet, in der Hoffnung, dass Wim Tanner die Suche nach ihr bald aufgeben oder ein Polizeibeamter das Zimmer betreten würde. Aber es war anders gekommen. Bereits nach wenigen Minuten war Wim Tanner in das Dachzimmer gepoltert, und seine Fledermaus hatte ihr Versteck aufgespürt. Während sie selbst die Fledermaus nicht aus den Augen gelassen hatte, aus Angst, von ihr gebissen zu werden, hatte Wim Tanner ihr einen stechend riechenden Wattebausch ins Gesicht gedrückt. In diesem Erdloch war sie irgendwann wieder aufgewacht. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seitdem vergangen war.

Wo war bloß die Kopflampe? Rechts von ihr hörte sie ein leises Piepsen. Die Mäusebabys. Sie hatte sie gestern hier gefunden und ihnen mit einem Handtuch auf ihrer Matratze ein Nest gebaut. Jette sah es als einen Freundschaftsbeweis an, dass die Mäusemutter ihr die fünf Mäusekinder ins Bett gelegt hatte. Jette hatte die Mäusemutter Niko getauft. Sie war eine kleine braune Wühlmaus, die ihr vor ein paar Tagen vorsichtig die Hand geleckt hatte, als sie wieder einmal reglos auf der Matratze vor sich hin gedämmert hatte. Jette hatte begonnen, sie zu füttern. Das Tier fraß alles. Brot, Reis, Zwieback. Was sie eben hier unten hatte. Behutsam strich Jette über die dünnen nackten Körper im Nest. Wie warm sie waren. Die Mäusemutter war wahrscheinlich irgendwo in ihrem weit verzweigten Gangsystem unter der Erde unterwegs. Vor zwei Tagen war sie mit einem Stück Mohrrübe im Maul aufgetaucht und hatte es auf die Matratze gelegt. Gemüse aus einem Garten: Nikos Gänge führten in die Freiheit.

Die Lampe lag neben dem Mäusenest. Jette schaltete sie an. Die Umrisse ihres Gefängnisses traten schemenhaft aus der Dunkelheit hervor. Sie befand sich in einem Erdloch, anders konnte man es nicht nennen. Es war ein Loch mit einem Erdboden und Erdwänden. In jeder Ecke stand ein Betonpfeiler, und auf diesen Pfeilern ruhte eine Decke aus Beton, die das Mädchen davor schützte, von herabstürzender Erde verschüttet zu werden. Der gesamte Raum war nur wenige Quadratmeter groß, ein Loch unter Tage, das ein Bagger geschaufelt hatte. Drei Dinge hatte Jette zur Verfügung: einen Lattenrost mit Matratze, die verhasste Campingtoilette und seit gestern einen kleinen Tisch. Wenn Jette sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme hob, konnte sie die Decke berühren. In der Mitte der Decke gab es eine große Luke. Aber sie wurde selten geöffnet.

Jette blickte auf die Armbanduhr. Es war kurz nach sieben. Draußen war es sicher schon hell. Jedes Mal, wenn sie auf die Uhr schaute, hoffte sie, dass sie noch funktionierte; bislang hielt die Batterie zum Glück.

Die Uhr hatte ein Ziffernblatt mit Zahlen von eins bis zwölf. Bisher hatte Jette die Abendstunden noch nicht mit den Morgenstunden verwechselt – soweit sie das einschätzen konnte. Sie versuchte, im Rhythmus zu bleiben und nur nachts zu schlafen. Die gemeinsame Zeitrechnung erschien ihr als die einzige Verbindung zu den Menschen draußen. Ansonsten fühlte sie sich von der restlichen Welt völlig abgeschnitten.

Sie fror erbärmlich, aber mehr zum Anziehen hatte sie nicht. Wim Tanner hatte ihr ein paar Sachen mitgebracht: ein T-Shirt, einen Pullover und eine Strumpfhose. Aber keine richtige lange Hose. Sie trug immer noch den Hosenrock, den sie schon im Tropenhaus angehabt hatte. Jette zog sich die Decke über den Kopf, um es etwas wärmer zu haben.

Die Kopflampe leuchtete die Betthöhle hell aus. Unter der Matratze spürte sie die harte Form der Schatulle. Sie hatte sie bei der Flucht aus dem Treppenhaus mitgenommen und hier versteckt. Es war eigentlich ein Wunder, dass Wim Tanner das Kästchen nicht gefunden hatte. Sie hatte es sich mit einem Stück Stoff um den Bauch gebunden, bevor sie den Fluchtversuch durch das Glasdach gewagt hatte, und als sie in dem Verlies unter der Erde aufgewacht war, war die Schatulle immer noch an derselben Stelle gewesen.

Die ersten Tage in dem neuen Gefängnis waren am schlimmsten gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt, lebendig begraben zu sein – in einer unterirdischen Grabstätte an einem unbekannten Ort. Es hatte Momente gegeben, in denen sich die Erdwände scheinbar auf sie zubewegten.

Sie hatte Platzangst bekommen und das Gefühl gehabt zu ersticken. Aber anders als in dem Verlies im Affenhaus hatte sie bisher weder vor Wut und Verzweiflung an die Wand getrommelt noch geweint. Sie war in eine Art Angststarre verfallen und hatte viele Stunden reglos und apathisch auf der Matratze zugebracht. Sie konnte sich einfach nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Diese Schwärze, die sich auch mit ihrer Kopflampe kaum vertreiben ließ. Dann die Feuchtigkeit und der Geruch nach Moder. Und erst die Stille. Die Töne und Geräusche der Außenwelt waren wie ausgeschaltet. Außer dem leisen Summen eines Gebläses an der Decke war nichts zu hören. Erst als Niko aufgetaucht war, war es ein bisschen besser geworden.

Jette ging die Luft unter der Decke aus. Sie steckte ihren Kopf wieder hervor. Ihr Blick fiel auf die Striche, die sie am Kopfende der Matratze mit einem kleinen Löffel in den Boden gekratzt hatte. Vier gerade Linien nebeneinander und eine fünfte quer darüber. Ihre Armbanduhr hatte leider keine Datumsanzeige, daher versuchte sie auf diese Weise die Tage zu zählen, die sie in diesem Kerker bereits eingesperrt war. Sie fügte einen weiteren Strich hinzu. Plötzlich hielt sie inne. Hatte sie heute nicht schon einen Strich gezogen? Nein, dachte sie. Heute ist der sechste Tag. Das ist schon richtig, versicherte sie sich selbst. Oder hatte sie etwa schon jegliches Zeitgefühl verloren? Die Dinge müssen ihre Reihenfolge behalten, dachte sie. Sonst löst sich alles auf. Ob sie noch die einzelnen Stationen ihrer Entführung zusammenbrachte? Erst das Affenhaus. Dann das Haus auf dem Land. Dann das kleine Treppenhaus. Jetzt das Erdloch. Das Leben, das sie vor ihrer Gefangenschaft geführt hatte, kam ihr inzwischen so weit weg vor, dass sie sich manchmal fragte, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte.

Das Gefühl, wie Jonah in dem Schneetreiben einfach weitergegangen war und sie allein zurückgelassen hatte, steckte ihr immer noch in den Knochen. Es war so echt gewesen, als hätte sie es wirklich erlebt. Warum träumte sie so etwas? Sie wusste doch, dass Jonah zu ihr hielt und sie niemals im Stich lassen würde. Und seit gestern wusste sie auch, dass er frei war. Sie hatte es in der Zeitung gelesen, die Wim Tanner aus Versehen hier unten liegen gelassen hatte. Er hatte sie nur kurz auf der Matratze ablegen wollen, aber Jette hatte in einem unbemerkten Augenblick schnell ihre Decke über die Zeitung geworfen, und Wim Tanner hatte sie dann anscheinend vergessen.

Gleich auf der ersten Seite prangte ein großes Fahndungsplakat nach Wim Tanner. Und in dem darunterstehenden Artikel wurde Jonah zitiert. Wo er jetzt wohl war und was er gerade machte? Das letzte Mal hatte sie ihn auf der Leiter im Tropenhaus gesehen. Es kam ihr vor, als wäre das schon ewig her.

Allerdings stand in dem Artikel noch mehr. Es gab einen ungeheuerlichen Verdacht. Die Polizei schloss nicht aus, dass Wim Tanner Eizellen von ihr entnehmen und verkaufen wollte. Da sie so außergewöhnlich schön sei, so der Journalist, sei es durchaus denkbar, dass kinderlose Paare für ihre Eizellen tief in die Tasche greifen würden. Die Zeitung hatte sogar ein Schaubild abgedruckt, welche medizinischen Schritte im Einzelnen dafür nötig wären. Erst müsse man das Wachstum der Eizellen durch eine Hormonbehandlung anregen, dann die Eizellen operativ entnehmen, sie mit dem Samen des Mannes befruchten und sie anschließend der neuen Mutter in die Gebärmutter einsetzen.

Jette hatte zunächst an einen Scherz geglaubt. Aber der Artikel klang ganz ernsthaft. Und dann hatte sie an die Spritzen denken müssen, die Wim Tanner ihr täglich verabreichte. Alles ergab auf einmal einen Sinn. Jetzt, da sie zu wissen meinte, was er mit ihr vorhatte, hatte sie das Gefühl, dass ihre Brüste spannten, und ihr war klar geworden, dass Wim Tanner sogar über ihren Zyklus Bescheid wusste.

Als ihr diese Dinge durch den Kopf gegangen waren, war ihr plötzlich ganz anders geworden. Sie hatte auch an das Küken denken müssen, dem sie vor langer Zeit einmal über die Straße geholfen hatte. Das Küken hatte nicht gemerkt, dass sie auf es aufpasste. Ob es auch jemanden gab, der schützend die Hand über sie hielt? An jenem Tag hatte sie für die beiden Tiere Schicksal gespielt – und diese für sie. Denn ohne die Enten hätte Jonah sie nie gefunden! Sie hätte bis heute nicht gewusst, dass es ihn überhaupt gab.

Sie blickte dem Strahl ihrer Kopflampe nach. Er warf einen hellen Lichtkegel an die Wand. Die Abdrücke, die die Baggerschaufel beim Ausheben der Erde hinterlassen hatte, waren gut zu erkennen. Die Wand sah aus wie eine klaffende Wunde. Wurzeln waren gekappt und Erdgänge von Tieren aufgerissen worden. Mit Sicherheit auch die Gänge ihrer kleinen Wühlmaus. Die Wurzeln kamen alle von der linken Seite, nichts wuchs direkt über ihr. Jette hatte darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass man sie wahrscheinlich unter einer betonierten Fläche gefangen hielt. Dafür sprach auch die betonierte Decke, die sich erdrückend dicht über ihr befand. Ob sie irgendwo unter der saalfeldschen Villa war? Manchmal schien sich Wim Tanner bei ihr zu verstecken. Dann kletterte er mit einem kleinen Campingstuhl in der Hand in das Erdloch hinab und hörte mit seinem iPod Musik, ohne sie zu beachten. Irgendwann klopfte es dann dreimal an der Luke, und Wim Tanner kletterte wieder hinaus.

Jettes Hand juckte. Sie hatte zwei Stiche. Mücken? Vielleicht eher Flöhe, dachte sie. Etwa von Niko? Jette sah auf die Uhr. Es war halb neun geworden. Selbst hier vertrödle ich noch meine Zeit, dachte sie. Dabei musste sie funktionieren und an ihrer Flucht arbeiten. Diszipliniert. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Vor zwei Tagen war ihr das noch einmal klar geworden. Da hatte sich Wim Tanner selbst überboten. Er hatte die Luke geöffnet, ihr einen Knochen zugeworfen und in seltener Beredsamkeit gesagt: »Das ist das, was von deiner Mutter übrig ist. Dachte, das interessiert dich. Hat sich Kai Saalfeld für seine Forschungen besorgt.« Und damit war er wieder abgezogen. Sie hatte den Knochen aufgehoben. Es hingen Fleischreste dran, und er roch nach Oregano. Es war eindeutig ein Rest vom Mittagessen gewesen, doch sie war trotzdem geschockt gewesen und hatte den Knochen schließlich in einer Ecke begraben. In diesem Augenblick war ihr bewusst geworden, dass das, was hier geschah, womöglich über ihre Kräfte gehen würde. Sie hatte eine unsichtbare Grenze passiert und befand sich in einer Welt, in der die Gesetze des Lebens, so wie sie sie kannte, nicht mehr galten. Deshalb sagte sie sich immer wieder, dass sie stark bleiben musste, redete sich ein, dass alles gut werden würde, solange sie nur funktionierte.

Sie gähnte. Es fühlte sich gut an, brachte irgendwie ein Stück Normalität in diesen unterirdischen Kerker. Doch sie durfte jetzt nicht schlafen, durfte nicht die ganze Zeit nur herumliegen. Sie musste körperlich fit bleiben, wenn sie aus diesem Loch herauskommen wollte.

Jette stand auf, zog die Lampe um ihren Kopf enger und machte ein paar Kniebeugen. Dann dehnte sie ihre Arm-und Beinmuskeln und sprang ein paarmal in die Luft. Auf dem Tisch stand noch das Waschwasser. Es war braun vor Schmutz, aber besser als nichts. Sie wusch sich kurz das Gesicht und die Hände. Dann trank sie ein paar Schlucke Mineralwasser. Hunger hatte sie keinen. Wenn sie jetzt einen Apfel hätte, wäre es etwas anderes. Aber auf die alten trockenen Brötchen, die noch da waren, hatte sie keine Lust. Was würde sie für einen Apfel geben!

An die Arbeit, sagte sie leise zu sich selbst. Der kleine Tisch war als Nächstes an der Reihe. Sie hatte ihn sich noch nicht genauer angeschaut. Vielleicht konnte er ihr irgendwie helfen, aus dem Gefängnis herauszukommen. Sie räumte ihn erst mal leer und blickte ihn dann prüfend an. Er bestand aus einer Spanplatte und vier metallenen Beinen. Sie drehte ihn um. Die Beine waren an der Tischplatte festgeschraubt. Vielleicht konnte sie ein Bein abmachen? Sie rüttelte etwas an einem der Beine. Es wackelte. Sie stemmte sich mit ihrem Fuß gegen die Tischplatte und zog mit aller Kraft. Einmal. Zweimal. Plötzlich flog sie mit dem Bein in der Hand an die Wand. Mühsam rappelte sie sich wieder auf und hielt das Metallstück hoffnungsvoll hoch. Jetzt besaß sie ein Werkzeug. Einen Meißel.

Von einer Holzverstrebung an der Wand nahm sie ein Handtuch ab. Ein Loch kam zum Vorschein, das Jette mit einem Löffel gegraben hatte. Doch dafür war es bereits recht groß. Es sollte ein Gang in die Freiheit werden, und das neue Werkzeug würde ihr dabei helfen. Das Loch reichte bereits vom Boden bis zu ihren Knien und war ein paar Zentimeter tief. Das ausgeräumte Erdgut hatte sie gleichmäßig unter ihrer Matratze verteilt. Die Erde war wie zusammengepresst, Lehmboden, der es einem nicht leicht machte. Jette suchte den Raum nach einem Stein zum Schlagen ab.

Sie kam jetzt schneller voran. Fast jeder Schlag war ein Erfolg. Die Erde löste sich in großen Stücken. Aber sie musste aufpassen, dass sie sich nicht auf die Finger haute. Sie hämmerte, schaufelte und klopfte unermüdlich weiter, und das Loch wurde zusehends größer. Die zähe Erde und die Wurzeln haben auch ihr Gutes, dachte sie. Sie sorgen für Festigkeit. So konnte sie einen stabilen Gang bauen und musste keine Angst haben, dass sie bei einem Fluchtversuch verschüttet wurde. Ihr schauderte kurz bei der Vorstellung, lebendig in diesem Gang begraben zu werden. Doch dann schüttelte sie diesen Gedanken ab und grub weiter. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie oben ankommen würde, sagte sie sich. Sie machte es genauso wie die Wühlmaus, nur eine Nummer größer. Jette grub in die Richtung, aus der die Wurzeln kamen. Dort müsste sie nach oben durchstoßen können. Sie keuchte inzwischen vor Anstrengung. Irgendwann war das Loch eine Armlänge tief, sodass sie zum Weiterarbeiten hineinkriechen musste.

An ihrer Hand bildete sich schon eine Druckstelle. Sie zog sich das T-Shirt unter ihrem Pullover aus und umwickelte sie damit. Eine Blase konnte sie jetzt nicht brauchen. Aber wenigstens wurde ihr beim Arbeiten warm. Plötzlich rutschte ihr der Meißel beim Schlagen ab. Er war auf eine feste Oberfläche gestoßen. Jette schlug erneut zu. Wieder rutschte er mit einem klirrenden Geräusch ab. Sie wischte die Erde beiseite. Ein großer Stein kam zum Vorschein. Sie versuchte es etwas weiter rechts. Aber auch dort Fehlanzeige. Sie wischte so viel Erde wie möglich weg – zum Vorschein kam ein Fels. Sie war auf eine Felswand gestoßen. Hier geht es nicht weiter, dachte sie verzweifelt.

Jette spürte, wie die Kraft sie verließ. Sie floss einfach aus ihr heraus. Wie Saft aus einer umgefallenen Flasche. Das Mädchen war unfähig, sich zu rühren. Der Fels vor ihr hatte eine helle, beigefarbene Maserung und kleine Vorsprünge und Einbuchtungen. An einer Stelle zeichneten sich die Umrisse eines Schneckenhauses ab. Jette passte genau in die Höhle hinein, die sie gegraben hatte. Sie fühlte sich merkwürdig geborgen. Die schwarze Erde schmiegte sich eng an sie. Wie lange dauert es, bis man selbst zu einem Abdruck wird?, fragte sie sich.

Sie war nass geschwitzt, und jetzt, wo sie sich nicht mehr bewegte, begann sie zu frieren. Die Kälte drang nun in sie ein, betäubte sie. Sie kauerte sich noch enger zusammen und steckte ihre Hände in die Taschen. Sie versuchte, an Jonah zu denken. Versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. An seine schmale Nase. Das kräftige Kinn. Die Sonnenbrille. Die beiden langen schmalen Narben. Aber die einzelnen Teile fügten sich nicht zu einem Ganzen zusammen. Einzelne Erinnerungsfetzen tanzten auf ihrer Netzhaut auf und ab. Plötzlich wusste sie, was es bedeutete, dass Jonah in dem Traum im Schneetreiben einfach weitergegangen war. Das war nicht der echte Jonah gewesen, sondern nur die Erinnerung an ihn. Die Erinnerung an ihn hatte begonnen zu verblassen. »Wie schnell das geht«, flüsterte sie.

Ihre Hand stieß auf einen kleinen Gegenstand in der Hosentasche. Sie nahm ihn heraus. Es war ein silberner Knopf. Von einer Jeans. Der Knopf von Jonah, dachte sie. Den er mir zugeworfen hat, als wir im Affenhaus auf Wim Tanner gewartet haben. Sie hielt den Knopf fest in der Hand und blieb eine Weile einfach da liegen. Schließlich spannte sie ihre Muskeln und schälte sich aus der engen Umhausung. Dann robbte sie auf allen vieren zur Matratze und kroch unter die Decke. Auf einmal kitzelte sie etwas an den Zehen. Niko war da. Die Maus war am Fußende unter die Decke geschlüpft und lief über Jettes Füße. Die Mäusebabys piepsten.

»Hey, deine Kinder haben Hunger«, sagte Jette.

Sie blickte auf die Uhr. Es war halb drei. Eine letzte Möglichkeit hatte sie noch. Sie konnte versuchen, mit Wim Tanner zu reden. Ihn davon überzeugen, dass er sie freilassen musste. Sie stand auf, aß ein Brötchen, trank etwas Wasser und benutzte die Toilette, die beim Abziehen ein gespenstisches Geräusch machte. Dann schob sie die ausgehobene Erde in das Loch zurück und setzte das Tischbein wieder ein. Wim Tanner musste bald kommen. Ihre tägliche Spritze war überfällig. Ihr Bein juckte. Zwei neue Stiche.

Und da wurde die Luke auch schon geöffnet. Helles Licht fiel durch die Öffnung, und Jette schloss geblendet die Augen. Sie hörte, wie die Strickleiter hinuntergeworfen wurde. Schnell warf sie die Decke über das Nest mit den Mäusen. Wim Tanner würde sie ohne mit der Wimper zu zucken an die Schlange verfüttern.

Der Mann kletterte mit einer Zigarette in der Hand die Leiter hinab.

»Das ist ein Nichtraucherzimmer!«, fauchte Jette.

Wim Tanner sah sie spöttisch an. Er trat einen Schritt auf sie zu und blies ihr den Rauch ins Gesicht. Jette rührte sich nicht. Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, und sie sah seine gelben schiefen Zähne und seine geröteten Augen. Warum hatte sie ihn so unfreundlich begrüßt?, ärgerte sie sich über sich selbst. Schließlich hatte sie sich ja vorgenommen, mit ihm zu reden, und da war es bestimmt nicht gerade förderlich, ihn wegen einer Zigarette anzumotzen. Wim Tanner trug immer noch seine Señor-Caño-Verkleidung.

»Deinen Arm!«, bellte er. Er warf die halb gerauchte Zigarette auf den Boden und zog eine Spritze aus seiner Hosentasche. Die Zigarette brannte auf dem Boden weiter.

Jette blickte durch die geöffnete Luke nach oben. Über dem Erdloch lag ein Raum; es war künstliches Licht, das in das Loch hereinfiel. Aber mehr konnte sie nicht erkennen. Wim Tanner schob ihren Ärmel hoch und stach mit der Spritze zu – einfach irgendwohin, so erschien es ihr. Es hatte etwas Schlampiges an sich, wie er die helle Flüssigkeit in ihren Körper drückte. Gleich würde er wieder gehen. Sie musste es jetzt versuchen.

»Herr Tanner«, sagte sie flehend, »bitte lassen Sie mich frei.«

»Du kannst also auch ›bitte‹ sagen«, zischte er.

»Ich habe Ihnen doch nichts getan.«

Er lachte grimmig und zeigte auf seine roten Augen. Dann auf seinen Hals.

»Ach ja, und die Ameisen.« Seine Stimme hatte etwas Anzügliches. »Etwas leichtsinnig, nicht wahr?«

»Wenn Ihrer Tochter so etwas passieren würde, würden Sie das wollen?« Jette wollte nicht so schnell aufgeben, doch Wim Tanner ignorierte die Frage. Seelenruhig packte er die Spritze ein. Jette drückte ihren Finger auf den Einstich. Die Zigarette brannte immer noch. Grauer Qualm stieg nach oben. Wim Tanner wandte sich von ihr ab und begann, die Vorräte zu prüfen. »Braucht das Goldeselchen noch etwas Futter?«, fragte er und lachte über seinen eigenen Witz.

»Ich werde Anspruch auf die Kinder erheben«, sagte Jette plötzlich.

»Du weißt Bescheid?« Er klang überrascht.

»Ihre Kunden werden die Kinder nicht behalten können.«

»Du wirst gar keinen Anspruch erheben«, blaffte Wim Tanner.

»Dann eben meine Eltern.«

»Weißt du, wie viele Kinder jedes Jahr geboren werden?« Er trat näher an sie heran. »Viele Millionen! Also viel Spaß beim Suchen!« Er lachte wieder, als hätte er gerade einen guten Witz gemacht, dann drehte er sich um und kletterte an der Strickleiter aus dem Verlies. »Morgen geht’s los!«, rief er ihr von oben zu. »Stell dich drauf ein!« Damit warf er die Luke zu.

Jette stand auf, drückte die Zigarettenkippe aus und nahm die Decke von dem Nest mit den Mäusen.