Durst

Jonah stand auf, um sich zu bewegen. Seine Beine waren steif vom vielen Sitzen. Gleich mit dem ersten Schritt stieß er an eine leere Sprudelflasche. »’tschuldigung«, murmelte Jette, die auf dem Boden saß und wieder ganz in das Elektrizitätsbuch vertieft war. Seit ihrem missglückten Ausbruchsversuch brütete sie über dem Text und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Warum hatte es nur einen kleinen Kurzschluss gegeben? Warum war der Entführer nicht richtig unter Strom gesetzt worden? Wie durch ein Wunder hatte Jette die Lampe wieder reparieren können. So hatten sie jetzt wenigstens Licht.

»Kein Problem mit den Flaschen«, sagte Jonah. Es war wirklich bemerkenswert, wie schlampig Jette war. Selbst die wenigen Gegenstände, die sie hier zur Verfügung hatten, reichten aus, um den Raum in ein heilloses Chaos zu stürzen. Wenn Jette sich zum Schlafen auszog, ließ sie ihre Klamotten immer dort fallen, wo sie gerade stand. Und wenn sie tagsüber die Isomatten an die Wand stellte, um etwas mehr Platz zu haben, ließ sie die Decken mit Sicherheit an verschiedenen Stellen im Raum zerknüllt liegen. Früher war Jonah auch unordentlich gewesen. Aber seitdem er blind war, räumte er alles akkurat auf. Sonst fand er nichts wieder.

Er fing mit ein paar leichten Turnübungen an, und sofort wurde ihm schwindelig. Sein Kreislauf machte nicht mehr richtig mit. Und das nach nur zwei Tagen im Verlies ohne ausreichend Wasser. Der Durst, den er inzwischen verspürte, hatte etwas Wildes, fast schon Animalisches an sich. Die Entführer hatten sie nach ihrem Ausbruchsversuch mit drei Wasserflaschen und vier Brötchen wieder eingesperrt. Die erste Flasche hatten sie noch in der Nacht getrunken. Aber bereits am nächsten Morgen war ihnen mulmig zumute gewesen, und seither behandelten sie das Wasser wie eine Kostbarkeit. Sie gönnten sich nur ein paar Schlucke am Tag, und das war zu wenig. Wenigstens war es im Verlies nicht so heiß wie im Tropenhaus. So würde ihr Körper nicht ganz so viel Wasser brauchen.

Am Tag nach ihrem Fluchtversuch hatten sie noch damit gerechnet, dass gleich die Tür aufgehen und irgendjemand Anweisungen brüllen würde. Aber es war niemand gekommen. Sie wussten nicht, ob das gut oder schlecht war. Die Entführer lechzten wahrscheinlich nach Rache. Es war der Blonde gewesen, der sie, noch deutlich mitgenommen, mit vorgehaltener Pistole gezwungen hatte, wieder in das Verlies zu gehen. Wim Tanner war völlig ausgeschaltet gewesen. Wenn Jette es doch nur geschafft hätte, ihm die Pistole abzunehmen. Wenn das mit dem Strom funktioniert hätte. Wenn die Tür zugegangen wäre … Aber diese Überlegungen führten zu nichts.

Er zwang sich, die Übungen weiterzumachen. Wahrscheinlich war die Anstrengung in ihrer Lage nicht einmal gesund, aber wenn er sich bewegte, ging es ihm besser. Er lief zwei Runden auf Zehenspitzen mit den Armen in der Höhe. Dann zwei Runden in der Hocke. Sein Körper klebte vor Schweiß. Gewaschen hatten sie sich überhaupt nicht mehr, seit die Männer da gewesen waren. Sie hatten kein Wasser mehr zum Waschen. Jonah dehnte noch seine Beinmuskulatur und die Schultern. Neben sich hörte er, wie Jette eine Seite umblätterte. Auch sie trank zu wenig. Ihre Körpertemperatur war bereits erhöht. Das hatte er am Morgen gemerkt. Sie war regelrecht ausgeflippt und hatte mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt. Er war zu ihr hingegangen, hatte sie von der Wand weggeholt, sie auf den Boden gesetzt und seinen Körper schützend um sie gelegt. Sie hatte geweint und war dann in seinen Armen eingeschlafen. Als sie aufgewacht war, schien sie immer noch sehr warm zu sein – zu warm.

Jonah stieß mit dem Fuß an einen Stuhl. Er wusste nie, wo die Stühle gerade standen. Wenn Jette einen benutzte, war er danach immer woanders, doch das störte ihn nicht. Er hob den Stuhl hoch, drehte ihn um und legte sich die Lehne aufs Kinn. Dann ließ er ihn los und stand freihändig mit dem Stuhl auf dem Kinn im Raum. Es klappte ganz gut, und das nach nur anderthalb Tagen üben. »Nicht schlecht«, kommentierte Jette aus ihrer Ecke. Er ließ den Stuhl zu Boden gleiten und führte ihr sein Fortgeschrittenen-Kunststück vor, das Gleiche mit zwei übereinanderstehenden Stühlen. Für einen Augenblick gelang es ihm. Dann gab es ein lautes Poltern, er strauchelte, stürzte und war kurz darauf unter dem Mobiliar begraben.

Jette räumte die Stühle zur Seite. Sie weinte lautlos, doch er merkte es trotzdem. Wenn sie weinte, ging ihr Atem anders. Ruckartiger und lauter. Er strich ihr übers Gesicht. Überall waren Tränen. Und wieder war sie viel zu warm.

»Deine Brille ist ja kaputt«, sagte sie. Sie war ihm bei dem Sturz von der Nase gefallen und lag irgendwo auf dem Boden. Es war ihm egal. Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Du hast schöne Augen«, sagte sie unsicher. »Sie sind blau.« Dann entdeckte sie seine Brille. Ein Glas war herausgefallen, aber noch ganz. Sie versuchte, es wieder einzusetzen, doch es gelang ihr nicht. »Schlimm?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Und?«, sagte sie. »Wie ist es passiert?«

»Was?«, fragte er, obwohl er genau wusste, was sie meinte.

»Deine Augen.«

Er brauchte etwas Zeit, um zu antworten. »Ein Laster«, sagte er dann. Mehr brachte er nicht heraus.

»Ja, und?«, fragte sie nach einer Weile ermunternd.

Er musste ihr mehr erzählen, das war klar. Immerhin hatte er ihr vorgeworfen, sich nicht für seinen Unfall zu interessieren.

»Ich war mit dem Fahrrad unterwegs.« Sein Mund brannte. »Ich …« Er verschluckte sich fast. »Ich bin ganz normal gefahren. Es war eine gerade Straße. Keine Kurve. Ein Laster hat mich überholt. Er fuhr viel zu nah an mir vorbei.«

»Und dann?«

»Was, und dann?«

»Der Unfall?«

»Was willst du denn noch hören?«, fragte er unwirsch. »Ich konnte nicht auf den Bürgersteig ausweichen. Der Bordstein war viel zu hoch. Ich wäre sofort gestürzt. Also bin ich weitergefahren. Ich dachte schon, ich hätte es geschafft, aber der Laster hatte einen Anhänger. Und der Windsog von dem Anhänger hat mich ins Trudeln gebracht. Ich hab noch versucht, trotz der hohen Kante auf den Bürgersteig zu fahren, aber da ist das Rad schon durch die Luft geflogen. Das ging alles ganz schnell. Ich hab das gar nicht richtig gemerkt. Es war eine irrsinnige Wucht dahinter. Mehr weiß ich nicht mehr.« Er sah den Bordstein wieder vor sich, den er hatte hochfahren wollen. Ein rotbrauner Bordstein mit einer abgebrochenen Kante, voller Dreck und Staub. Und ein Kaugummi hatte da gelegen. Rosafarben und angekaut, mit dem Abdruck der Zähne in der formbaren Masse. Das Kaugummi war das Letzte gewesen, was er gesehen hatte.

»Und wieso die Augen?«, fragte sie.

»Ich hab mich beim Sturz am Kopf verletzt. Es war sogar etwas gebrochen. Und dabei wurden die Sehnerven abgeklemmt. Beide.«

»Wirst du irgendwann wieder sehen können?«

»Vielleicht … Vielleicht auch nicht.«

Die Ärzte hatten ihm gesagt, dass die Sehnerven die Bilder von den Augen ins Gehirn transportieren. Wenn die Sehnerven kaputt sind, kommt im Gehirn nichts mehr an. Sehnerven wachsen nicht nach, hatten sie gesagt. Und künstlich könne man sie nicht herstellen. Seine Eltern hatten ihn zu einer ganzen Armada von Ärzten geschleppt. Keiner konnte ihm helfen, aber dafür hatten fast alle ungefragt einen guten Ratschlag auf Lager gehabt in der Art von »Gewöhn-dich-möglichst-schnell-daran-da-kann-man-eh-nichts-ändern«.

»Du hast überlebt«, sagte Jette. »Und du hast keines dieser Schädel-Hirn-Traumata. Ich bin froh, dass du lebst und dass du jetzt hier bist.« Ihre Stimme war freundlich, ehrlich. Wie die eines guten Freundes. Es versetzte ihm einen Stich.

Dann sagte sie abrupt: »Jo, wir müssen hier raus.«

Der Themenwechsel kam ihm viel zu schnell. »Du hast recht«, antwortete er und versuchte, sachlich zu klingen. Was hatte er erwartet? Dass sie in Tränen aufgelöst seinen Schilderungen lauschen würde? Dass sie ihn beglückwünschen würde, wie gut er als Blinder zurechtkam? Er riss sich zusammen. Eine Blöße wie am ersten Tag ihrer Gefangenschaft, als er sich vor ihren Augen hatte gehen lassen, wollte er sich nicht noch einmal geben. Das Problem war, er hatte einfach keine Idee, wie sie aus dem Verlies herauskommen sollten. Sie hatten bereits alle Wände abgesucht und nichts gefunden, was ihnen hätte helfen können. Kein Täfelchen zum Wegschieben, keinen Knopf zum Draufdrücken. Nichts. Sie hatten sogar die Steckdose im Dunkeln abmontiert und sie wieder eingesetzt, als ihnen nichts mehr einfiel.

»Vielleicht sollten wir das Gebläse ausbauen«, sagte Jonah langsam. Das hatten sie sich bisher nicht getraut. Der kleine rechteckige Kasten pumpte schließlich Sauerstoff in ihren Kerker, und sie hatten nicht vor, sich die Atemluft abzudrehen. Wenn das Gebläse aus war, weil Jette so wie jetzt die Steckdose für die Lampe nutzte, wurde es bereits nach einer halben Stunde stickig, und sie machten es dann jedes Mal schnell wieder an. Sie hatten keine Ahnung, wie das Gebläse technisch funktionierte. Der Ausbau wäre also ein echtes Wagnis. Vielleicht wäre der Raum dann hermetisch abgeschlossen, und das Gebläse ließe sich nicht wieder richtig einsetzen. Aber möglicherweise steckte es auch einfach in einem Loch in der Wand, und wenn sie es ausbauten, hätten sie eine Öffnung ins Freie.

»Okay«, sagte Jette entschlossen.

»Wir stellen das Gebläse noch einmal an, bevor wir es rausnehmen«, sagte Jonah. »Dann haben wir für eine Weile genug Luft.«

Jette stöpselte die Kabel um. Als sie die Lampe ausmachte, setzte sie ihre Arbeit im Dunkeln ohne Unterbrechung fort. Sie kommt schon gut im Dunkeln zurecht, dachte Jonah freudlos.

»Eine Viertelstunde?«, fragte sie.

Er nickte. Sie setzten sich schweigend nebeneinander auf die Isomatten. Das Gebläse brummte. Jonah fiel zum ersten Mal bewusst auf, dass er atmete. Er lebte, weil er atmete. Oder atmete er, weil er lebte? Die Zeit dehnte sich, während sie darauf warteten, dass der Raum mit ausreichend Sauerstoff gefüllt war.

Endlich standen sie auf. Jette machte wieder Licht, stellte einen Stuhl unter das Gebläse und kletterte hoch. Jonah hörte, wie sie an dem Gerät herumfuhrwerkte.

»Kann man das Gehäuse einfach so abheben?«, fragte er.

»Nee«, sagte Jette, »ist angeschraubt.« Sie suchte in ihren Hosentaschen nach dem Draht, mit dem sie schon die Lampe aufgeschraubt hatte. Nach ein paar Minuten hatte sie das Gehäuse aus der Verankerung gelöst und reichte es Jonah.

»Hier ist noch ein Filter«, sagte sie. »Den nehm ich auch noch raus.« Sie klang jetzt nervös. Jonah hoffte, dass sie nichts überstürzte und dabei einen Fehler machte. Doch der Filter war im Nu ausgebaut, und plötzlich rief Jette aufgeregt: »Da ist ein Rohr! Und es kommt ein bisschen Licht herein! Aber das Rohr ist außen irgendwie zu. Vielleicht Lamellen. Ich versuch, sie wegzudrücken. Mein Arm passt durch.« Sie hantierte mit ihrem Arm in dem Rohr herum. »Jo!«, rief sie jubelnd. Aber er wusste es schon. Frische Luft wehte herein. »Hier ist ein Loch in der Wand!« Sie war begeistert. »Ich kann den Himmel sehen. Ich muss nur meinen Kopf schief legen. Es wird gerade dunkel. Und es ist bewölkt, aber nur ein bisschen. Ich sehe einen Vogel …« Sie redete ohne Punkt und Komma. »Schnell, gib mir was zum Rauswerfen.«

Er reichte ihr seine kaputte Brille. »Das ist gut«, sagte sie anerkennend. Sie konnte sich von ihrem Ausguck kaum losreißen, doch irgendwann sprang sie hinunter und umarmte Jonah. Sie glühte fast.

»Hier, Jella, trink was«, sagte Jonah besorgt.

Sie nahm einen Schluck.

»Noch einen.«

»Später.«

»Nein, jetzt«, beharrte er. »Du musst trinken.«

Sie trank noch einen Schluck.

Dann kletterte sie wieder auf den Stuhl. »Jo, da ist schon ein Stern! Und ein Flugzeug. Wenn ich eine Sternschnuppe sehe, wünschen wir uns was, okay? Und riechst du das? Da hat jemand eine Wiese gemäht.« Sie war so fröhlich, als wären sie schon frei.

Irgendwann an diesem Abend legten sie sich schlafen und lauschten gemeinsam in die Stille, die keine mehr war. Ein Hahn krähte. Um diese Zeit!, dachte Jonah. Seltsam. In der Ferne sprang ein Auto an. Das Gelächter von Menschen schallte durch die Nacht. Jonah zuckte zusammen. Sie mussten hier raus – und zwar schnell. Das Wichtigste war, dass sie sich irgendwie bemerkbar machten. Vielleicht konnten sie auch eine Fahne aus dem Loch hängen. Zum Beispiel mit Kleidern von ihnen an einem Stuhlbein.

»Weißt du, was wirklich gemein daran ist, dass du blind bist?«, riss Jette ihn aus seinen Überlegungen.

»Nein«, murmelte Jonah.

»Dass du mich nicht sehen kannst!«

Das ist ja wohl die Höhe, dachte er.

»Ich bin hübsch.«

»Ich weiß.«

»Ja, aber du siehst mich gar nicht. Für dich bin ich völlig unsichtbar. Ehrlich gesagt ist das für mich ziemlich ätzend.«

Da beugte er sich über sie und küsste sie. Sie hielt ihren Mund geschlossen und bewegte sich nicht. Ihre Lippen waren trocken und rissig, und sehr weich. Sie hatte rote Lippen, das spürte er. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, und ihr warmer Atem zog an ihm vorbei. Ihr Herz schlug laut. Er küsste sie noch einmal.

»Jo«, sie setzte sich auf, »ich trau mich nicht.«

Er war verblüfft. Hatte sie etwa noch nie einen Jungen geküsst?

»Du musst doch gar nichts machen«, sagte er. Etwas Klügeres fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein, aber das war egal. Er wusste plötzlich, dass er genau das Richtige tat. »Komm, leg dich wieder hin.«

Er zog sie an sich und umfasste ihren Körper. Gesicht an Gesicht, Bauch an Bauch, Beine an Beinen, so blieben sie liegen. Sie war heiß und roch sehr nach Jette. Ihr Herz schlug direkt an dem seinen, und Jonah wartete, ob sich ihre Herzschläge angleichen würden. Aber die Herzen scherten sich nicht umeinander. Er hielt sie noch etwas stärker fest und stieß sich dann mit den Füßen leicht von der Wand ab, um mit ihr im Arm durch den Raum zu rollen. Aber natürlich war dafür nicht genug Platz, die nächste Wand war nur eine halbe Umdrehung entfernt. Jetzt lag sie auf ihm. Er fasste ihr ins Haar. Erst in die vollen Locken, dann an den Haaransatz. Er hielt sie fest. Und da beugte sie sich zu ihm hinab und küsste ihn. Länger, als er sie geküsst hatte. Sie gehört zu den Mädchen, die immer das letzte Wort haben, dachte er.

Sie richtete sich auf und sagte: »Ich seh dich ja gar nicht.«

»Ich dich auch nicht«, sagte Jonah.

Sie ging zu der Lampe, machte sie an und legte sich wieder zu ihm.

»Das ist viel zu hell«, sagte sie kurz darauf.

»Ja, find ich auch.«

Sie knipste die Lampe wieder aus.

Er küsste sie. Auf ihre Nase. Ihre Wangen. Auf die kleine Narbe am Arm, wo sie in jener Nacht am See gebissen worden war. Auf ihre Augen. Sehende Augen. Dann küsste sie ihn auch auf seine Augen. Es war ein Kuss, der Blinde wieder sehend macht. Also öffnete er seine Augen und erwartete, sehen zu können. Aber alles war dunkel wie immer.

»Du bist das Beste, was mir je passiert ist«, sagte er.

»Titanic?«, fragte sie belustigt. »Oder Silbermond?« Sie summte ein paar Takte eines Liedes, das er nicht kannte, hörte aber gleich wieder auf, weil sie die Melodie nicht halten konnte.

»Ich mein es ernst«, sagte er.

»Ohne mich wärst du jetzt nicht in diesem Verlies«, wandte sie ein. »Vielleicht sterben wir hier.«

»Ja, aber davor wollte ich eigentlich gar nicht mehr leben.«

»Jetzt wirst du vielleicht sterben.«

»Ich sterbe lieber, obwohl ich leben will, als dass ich lebe, obwohl ich sterben möchte.«

»Aha«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Mund. Plötzlich hielt sie inne und stützte sich auf.

»Was ist?«, fragte Jonah.

»Mir ist schwindelig.«

»Trink was.« Er suchte nach der Wasserflasche.

»Ist schon vorbei.«

Er reichte ihr die Flasche. »Mach schon.«

Sie trank zwei Schlucke.

»Mehr.«

Sie trank noch zwei.

»Mehr.«

Sie schüttelte den Kopf und stellte die Flasche weg. Dann legte sie ihren Kopf auf seinen Bauch und ließ ihre Hände unter seinem T-Shirt nach oben wandern. »Wozu sind eigentlich die da?«, fragte sie und stippte an seine Brustwarzen. Sie war frech. Aber dann fand er den Riss in ihrer Bluse, von dem sie gesprochen hatte. Eine aufgeplatzte Naht an der Seite. Mindestens fünfzehn Zentimeter lang. Und da legte er seine Finger hinein. Erst den Mittel- und Zeigefinger, dann die ganze Hand. Er fuhr sacht über die nackte Haut unter ihrer Bluse. Um ihren Bauchnabel herum hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Sie sagte nichts mehr.

»Einen Vorteil hat es, dass wir hier sind«, flüsterte er.

»Ach ja? Und welchen?«, fragte Jette.

»Wir sind ganz allein.«

»Na toll.«

»Ich weiß noch einen«, sagte Jonah. »Wir werden nicht gestört.«

Er drehte sie auf den Rücken und beugte sich über sie. Er war stärker als sie. Es war ein schönes Gefühl, stärker zu sein. Er legte sich ganz auf sie und stützte sich so ab, dass sich ihre Körper etwas berührten. Von oben hätte man nur ihn gesehen. Jette war ganz unter ihm verschwunden. Er zeichnete mit seinen Fingern ihre Lippen nach. »Jo«, sagte sie unsicher. Das sollte heißen: Kannst du mich nicht rauslassen? Er verstand es sehr wohl, dachte aber nicht daran. Sie war unvorsichtig, öffnete den Mund, und er legte seinen Finger hinein. Das war verboten. Er wusste es. Er spürte ihre harten, glatten Zähne, die weiche, feuchte Haut im Innern ihrer Wangen. Nur ihre Zunge war verschwunden, die hatte sie versteckt. Plötzlich biss sie ihn in den Finger, und im gleichen Augenblick presste sie ihre Beine zusammen. Jonah blieb liegen und dachte nur: Hoffentlich macht sie das noch mal. Er ließ sie nicht mehr los. Und was jetzt im Einzelnen geschah, hätte er im Nachhinein nicht mehr sagen können. Sein Mund spürte ihren Körperformen nach. Seine Nase versuchte möglichst viel von dem Jette-Geruch nach Erde und Pfefferminz einzusaugen. Seine Hände flossen über ihren Körper. Sie drängte sich an ihn, bis fast alle Wölbungen ihrer Körper in irgendeiner Kuhle untergebracht waren. Sie wand sich unter seinen Berührungen und fasste ihn so an, als gehörte sein Körper ihr. Sie zählte seine Zehen und erwartete anscheinend ernsthaft, eine andere Zahl als zehn zu erhalten.

Irgendwann zog er endlich sein viel zu kleines T-Shirt aus und setzte sich ihr mit nacktem Oberkörper gegenüber.

»Und?«, sagte sie neckisch. »Wie viele Haare hast du auf der Brust?«

»Weiß nicht«, sagte er. »Kannst ja zählen.«

»Eins, zwei, drei, vier …«

Rechts von sich hörte Jonah ein leises Scharren.

»… neun, zehn, elf, zwölf«, zählte Jette. »Zwölf Stück!«

»Stimmt nicht«, sagte Jonah. »Das sind mehr. Du musst besser zählen. Komm näher ran.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und drückte es an seine nackte Brust. Er spürte ihre Wimpern, die an seiner Haut vorbeistrichen. Ihre Nasenflügel, die sich blähten. Ihren warmen Atem. Sie öffnete ihren Mund und küsste ihn auf die Brust.

Das Scharren wurde lauter.

Sie drehte sich zur Seite.

»Jo, die Tür geht auf!«

Jetzt hörte er es auch. Die Tür schwang zur Seite.

»Du hast doch gesagt, uns stört hier niemand«, sagte sie vorwurfsvoll. Sie meinte es völlig ernst.

»Hallo?«, fragte eine Mädchenstimme von draußen.

»Klara!!«, rief Jette. Alle Freude der Welt lag in diesem Ausruf. So hatte er sie noch nie erlebt.

»Äh …« Das Mädchen wirkte peinlich berührt. Die Situation war eindeutig.

»Was ist denn?«, fragte eine andere Mädchenstimme von außen.

»Charlie!« Wieder ein entzückter Ausruf von Jette.

»Sollen wir lieber …«, sagte das erste Mädchen unsicher, »… später wiederkommen?«

»Nein, bloß nicht!« Jette lachte und löste sich scheinbar ohne jedes Bedauern aus seiner Umarmung. Sie ordnete kurz ihre Kleidung, und schon war sie draußen.

Freundinnen, dachte Jonah, na super. Ohne sich sonderlich zu beeilen, kroch er aus dem Verlies. Die Wärme im Tropenhaus schlug ihm wie eine Wand entgegen.

»Hey, Alter!« Da war auch Dukie. Er wirkte etwas verlegen und klopfte ihm gleich mehrmals auf die Schulter. Jonah wurde schummrig zumute, und er musste sich setzen. Jette hingegen schien topfit und total aufgedreht. Sie und ihre Freundinnen standen etwas abseits, unterhielten sich im Flüsterton, und hin und wieder hörte Jonah sogar ein unterdrücktes Lachen. Es fielen Wörter wie »Einraumappartement« und »modisches Event«. Jette spielte die Entführung herunter, was ihn irgendwie ärgerte.

Nicht weit entfernt hörte er das Rauschen der Berieselungsanlage und merkte, wie durstig er war. Dukie brachte ihm die letzte Sprudelflasche aus dem Verlies, und weil Jette nichts abhaben wollte, trank er sie aus. Die Mädchen erzählten Jette, wie sie sie gefunden hatten. Ob im Tropenhaus Licht sei, wollte Jonah wissen. »Ja, wir mussten unten eine Lampe anmachen«, sagte Dukie. »Wir haben leider nicht daran gedacht, Taschenlampen mitzubringen. Wir sollten schnell abhauen.«

»Jo«, sagte Jette und kam auf ihn zu, »das sind Klara und Charlie, meine Freundinnen.«

»Hallo«, sagte das Mädchen, das zuerst am Verlies gewesen war. Wahrscheinlich hielt sie ihm in diesem Moment die Hand hin, aber das war nicht sein Problem. Er war müde.

»Hallo«, sagte das andere Mädchen. Sie hatte eine hohe Stimme und war etwas zurückhaltend.

»Ich bin Jonah«, sagte er und drehte seinen Kopf freundlich in Richtung der Mädchen.

»Jo«, sprudelte Jette heraus, »Wim Tanner hat deinem Freund erzählt, dass er und der andere Entführer sich im Tropenhaus verletzt haben. Dein Freund hat sofort gecheckt, dass sie mit uns gekämpft haben müssen. Charlie und Klara haben dann mit ihm zusammen das ganze Tropenhaus nach uns abgesucht, aber nichts gefunden. Und dann hat dein Freund heimlich die Baupläne besorgt. Und auf denen war das Verlies tatsächlich eingezeichnet! Und zwar mit einem Knopf, der die Schiebetür von außen öffnet. Den haben die Entführer nie benutzt, als wir dabei waren. Der ist hier unter der Holzverkleidung versteckt! Was sagst du dazu? Und sie haben auch eine Leiter besorgt.«

Jonah nickte matt.

»Gehen wir!«, sagte Jette und stürmte zum Rand des Hochsitzes. »Wer hält die Leiter?«

»Ich«, sagte Dukie und folgte ihr.

Jonah machte ebenfalls ein paar Schritte in die Richtung.

»Komm«, sagte das Mädchen mit der hohen Stimme. »Ich führe dich.«

Jette war schon auf der Leiter. Jonah hörte das Knarren der Sprossen. Er machte sich Sorgen. Vorhin war ihr noch schwindelig gewesen, und jetzt flitzte sie die Leiter hinunter wie ein Eichhörnchen einen Stamm. Hoffentlich kam sie gut unten an.

»Ich geh als Nächster«, erklärte Jonah.

»Okay«, sagte Dukie.

Das Mädchen führte Jonahs Hand an die Leiter. »Schaffst du das?«, fragte sie.

Die Leiter reichte ihm bis zur Brust und schien nur an den Hochstand angelehnt zu sein. Hoffentlich hielt Dukie sie auch wirklich fest. Jonah fuhr mit den Händen über das Holz. Die Leiter wirkte stabil und hatte eine normale Größe. Entschlossen setzte er seinen Fuß auf die erste Sprosse. Verdammt, dachte er, ich hab meine Schuhe gar nicht angezogen. Er würde sie später holen. Auf der zweiten Sprosse wurde ihm schlecht. Er hielt kurz inne und atmete tief ein und aus. Dann ging es wieder. Der Abstieg dauerte ewig. Was alles noch schwerer machte, war, dass er dauernd seine zu weite Hose wieder hochziehen musste. Er versuchte, dabei keine allzu lächerliche Figur abzugeben. Die drei anderen warteten bestimmt oben und schauten ihm zu. Er spürte Jettes schnelle Schritte weit unten auf der Leiter. Dann ihren Sprung auf den festen Boden. Sie hatte es geschafft. Schließlich war auch er fast unten angelangt.

Jette rief ihm vergnügt zu: »Hier ist g a n z viel Wasser! Eine Dusche!« Sie hatte sich wohl unter eine Berieselungsanlage gestellt. Er hörte das platschende Geräusch ihrer Schritte auf dem nassen Untergrund. »Nur noch vier Stufen!«, rief sie ihm zu.

Er machte eine kurze Pause und hörte ein Geräusch, das nicht hierhergehörte. Schritte. Ihm wurde auf einmal eiskalt. »Renn weg!«, rief er Jette zu. Fast im selben Augenblick hörte er einen Schlag. Ein dumpfer Aufprall auf einem Körper. Jette gab einen undefinierbaren Laut von sich. Es klatschte, als ihr Körper auf dem nassen Boden aufschlug.

»Ist was?«, rief eines der Mädchen von oben. Dann gab jemand der Leiter einen Stoß, und sie kippte um. Er versuchte noch, von der Leiter abzuspringen, um möglichst auf den Füßen zu landen, doch er verlor den Halt und schlug hart mit der Seite auf dem Boden auf. Die Schritte entfernten sich. Sie waren jetzt schwerer. Der Mann trug eine Last.

Jonah war nun hellwach. Er spürte keinen Schmerz. Weder von dem Sturz noch von den Entbehrungen der vergangenen Tage. Er war jetzt ein Jäger. Ein blinder Jäger. Lautlos folgte er dem Geräusch der Schritte, indem er sich mit seinen Händen und Füßen vorwärtstastete. Beim Gehen hob er die Füße hoch in die Luft, damit sie sich nicht im Wurzelwerk verfingen, und setzte sie sacht auf dem unbekannten Boden auf. Wenn er auf ein Hindernis stieß, betastete er es und glitt an ihm vorbei. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Geräusch vor ihm gerichtet. Es war Wim Tanner. Der leichte Geruch nach Fledermäusen machte jeden Zweifel unmöglich. Als der Mann die Tür zum Tropenhaus öffnete, duckte sich Jonah hinter einen Busch. Dann folgte er ihm.

Die Luft draußen schlug ihm kühl entgegen. Er registrierte es kaum. Wim Tanners Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Er ging zum Parkplatz. Jonah lief ihm auf dem Grasstreifen neben dem Weg hinterher. Als Wim Tanner über den offenen Parkplatz ging, blieb er in sicherer Entfernung stehen. Dann wurden zwei schwere Autotüren geöffnet, wie sie an den Ladeflächen von Lieferwagen oder Lastern zu finden sind, und Jonah hörte, wie Wim Tanner keuchend ins Innere des Autos kletterte. Jetzt rannte Jonah los. Es war ein Lauf ins Nichts. Er hielt seine Arme weit vorgestreckt, erwartete aber dennoch, jeden Moment über einen Poller oder einen großen Stein zu stürzen. Aber nichts dergleichen geschah. Als das Auto nicht mehr weit weg sein konnte, verlangsamte er seinen Lauf. Er tastete sich vor und stieß tatsächlich auf einen Lieferwagen. Die Ladetüren standen immer noch offen. Wim Tanner war im Innern des Autos verschwunden und ächzte dort laut. Wahrscheinlich legte er Jette gerade auf dem Boden ab. Ob das Auto innen dunkel war? Stockdunkel?

Jonah kletterte geräuschlos in den Wagen hinein und zog die Tür schnell hinter sich zu. Er war jetzt mit Wim Tanner und Jette allein im Auto. Hoffentlich ist es dunkel und er kann nichts sehen, betete Jonah. Im Wagen war es still. Wim Tanner rührte sich nicht. Nur sein pfeifender Atem war zu hören. Er wartet ab, ob ich ein Geräusch mache, dachte Jonah. Damit er weiß, wo sein Gegner ist. Er sieht wirklich nichts! Sonst hätte er längst angegriffen. Aber wo war Jette? Warum hörte er sie nicht atmen? Plötzlich hörte Wim Tanners pfeifendes Atemgeräusch abrupt auf. Ob sich die Augen des Mannes bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten? Vielleicht fiel doch etwas Licht in den Laderaum? Und wenn Wim Tanner irgendwo eine Lampe hatte? Jonah blieb nicht viel Zeit. Er schlich auf Wim Tanner zu. Seine nackten Füße verursachten keinerlei Geräusch. Es waren nur drei, vier Schritte, die ihn von dem Mann trennten. Jonah wusste genau, wo Wim Tanner stand – er konnte ihn riechen. Wie ein Hund bewegte er sich nach rechts und links schnüffelnd vorwärts, dem Geruch von Schweiß, Fledermäusen und Adrenalin folgend. Als Wim Tanner zum Greifen nahe vor ihm stand, blieb er stehen. Der Mann schien ihn nicht zu sehen. Er reagierte überhaupt nicht. Jonah hörte Wim Tanners Schlucken, das Knacken seines Kiefers, sogar einen leisen Furz. Aus dem Mund des Mannes drang der Geruch von Tomatensoße mit Oregano. Jonah hörte Wim Tanners Herz schlagen. Oder war es sein eigenes? Jonah schloss die Hand zur Faust und schlug zu. Er traf Wim Tanner seitlich am Hals. Das Gewebe war weich und sehnig. Der Mann taumelte zurück. Verdammt! Er hatte den Kehlkopf treffen wollen, doch das war nicht gelungen. Wim Tanner brüllte dennoch vor Schmerz auf und sank zu Boden. Dort blieb er röchelnd liegen. Jonah bückte sich, tastete nach dem Kopf des Mannes, hielt ihn mit einer Hand fest und schlug erneut zu. Wieder in den Hals. Auch diesmal traf er nicht genau den Kehlkopf. Aber unter seinem Schlag sprang eine Sehne weg. Er schlug noch ein drittes Mal zu. Und traf den Kiefer. Als er seine Faust dieses Mal zurückzog, war sie feucht und klebrig. Schnell fand er Jette, hob sie auf und kletterte mit ihr aus dem Wagen. Sie atmete. Er hievte sie sich über die Schultern. Jetzt musste er nur den Weg nach Hause finden.

Es gab einen kleinen unbefestigten Pfad, der über den Acker zur Villa führte. Er hatte alles im Kopf. Zuerst musste er links über den Parkplatz. Er ging los. Seine Hände, mit denen er Jette trug, fehlten ihm zum Tasten. Mit den Füßen suchte er nach der Einmündung des kleinen Weges und fand ihn. Jette war bei ihm. Er würde alles für sie tun. Er hatte das Gefühl, sie bis ans Ende der Welt tragen zu können. Ihr Kopf lag auf seiner Brust und baumelte beim Gehen leicht hin und her. Wasser tropfte von ihren Haaren, und auch ihre Kleider waren von der Berieselungsanlage komplett durchnässt. Er versuchte, ihren Kopf festzuhalten, was ihm allerdings nicht gelang, weil er beide Arme brauchte, um sie überhaupt tragen zu können.

Sie kamen an den Teil des Ackers, auf dem sein Vater Kartoffeln anbauen ließ. Jonah hörte das leise Rauschen des Windes in den Stauden. Es roch nach frischem Laub. Ob die Pflanzen blühten? Sie dufteten leider nicht, wenn sie blühten. Als Blinder war ihm die Kartoffelblüte abhandengekommen. Was ihm in dieser Situation durch den Kopf ging! Verrückt. In Gedanken blickte er in ein weiß-gelbes Blütenmeer. Für ihn blühten sie jetzt. Er lachte leise. Niemand konnte ihm vorschreiben, was er sah. Nicht einmal die Wirklichkeit.

Dann durchzuckte es ihn. Ob er Dr. Saalfeld geradewegs in die Arme lief? Immerhin war es seine Villa, zu der er gerade ging. Jonah blieb stehen. Plötzlich fühlte er sich schutzlos auf dem einsamen Feld. Wahrscheinlich war seine Silhouette noch aus Hunderten Metern Entfernung zu sehen. War die Nacht dunkel oder hell? War es bewölkt, oder war der Himmel klar? Jonah fröstelte. Dabei war es nicht einmal richtig kalt. Aber warm war es auch nicht. Was war das überhaupt für ein Wetter? Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen.

Jette war schwer, er packte sie kaum noch. Und seine Füße begannen jetzt zu schmerzen. Er war barfuß über Kies gelaufen, mit ihr auf den Schultern. Kleine und große Kieselsteine hatten sich in seine Fußsohlen gebohrt. Und in seiner rechten Ferse war ein pochender Schmerz. Vielleicht ein Dorn.

»Jella«, sagte er leise. »Du musst aufwachen.« Er legte sie behutsam in das Gras am Wegrand und setzte sich neben sie. »Wach auf«, sagte er noch einmal und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte Fieber. Sogar unter ihrer nassen, kalten Kleidung spürte er, dass sie glühte. Plötzlich fingen seine Hände an zu brennen. Brennnesseln. Hier war alles voller Brennnesseln. Jette atmete ruhig weiter. Sie reagierte nicht. Dann begann ihr Bein zu zucken. Es war ganz steif und zuckte. Er strich hilflos mit seiner Hand über ihre Haut. Ich muss sie verstecken und dann Hilfe holen, dachte er. Aber wo gab es hier ein Versteck? Er würde sie ein paar Meter neben dem Weg auf den Boden legen. Im Dunkeln würde man sie nicht sehen. Hoffentlich holte sie sich nichts, wenn er sie hier in ihren nassen Klamotten liegen ließ. In der Ferne hörte er eine Sirene. Sie kam näher. Die Polizei, dachte er erleichtert. Dukie hatte sein Handy dabeigehabt. Na klar.

Neben ihm knackte ein Ast.

Dann traf ihn ein harter Schlag, und er rang nach Luft.

Noch ein Schlag.

Jonah wurde ohnmächtig.

Wim Tanner, der Jonah trotz zweier angebrochener Halswirbel gefolgt war, hob Jette auf, warf sie sich über die Schultern und wankte mit ihr über den Acker fort.