Endlich eine Spur

Charlie lag auf dem Sofa ihrer Oma in der Küche. Hier konnte sie am besten schlafen. Nachts gehörte die Küche ihr. Sie musste sie mit niemandem teilen. Ansonsten gab es in der Wohnung nur noch das Schlafzimmer ihrer Großmutter und das Wohnzimmer, in dem sich ihre Mutter und ihre kleine Schwester eingerichtet hatten. Die Küche war nicht schlecht. Die Dinge, die einen hier umgaben, hatten einen besonderen Zauber. Da war die Keksdose oben auf dem Schrank, die die Besuche bei ihrer Großmutter seit ihrer frühesten Kindheit begleitete. Oder die gusseisernen Kellen in den Schubladen, die so unregelmäßig gefertigt waren, als hätte der Schmied von nebenan ihre Herstellung übernommen. Und natürlich die Uhren an der Wand, die sich mit ihrem lauten Ticken dafür zu rechtfertigen schienen, dass sie schon seit Langem nur noch ihrem eigenen Rhythmus folgten.

Das Beste an der Küche aber war das Sofa. Es war groß und weich und hatte ein verschwenderisches Blumenmuster. Zur Lehne hin war es etwas abschüssig, sodass man über kurz oder lang in einer Kuhle zu liegen kam. Wenn man nicht schlafen konnte, ließ man am besten die Hand in den Spalt zwischen Lehne und Sitzpolster gleiten. In der Ritze befanden sich allerlei Dinge, die im Laufe der Zeit dorthin gerutscht waren, ohne dass es jemand bemerkt hatte.

Jetzt beförderte Charlie ein zusammengeknülltes Stück Zeitungspapier an die Oberfläche und strich es glatt. Im Halbdunkel des Zimmers war schwer etwas zu erkennen. Aber ihre Großmutter hatte ein paar Passagen im Text angestrichen. Es ging um Zwangsräumungen. Na super, dachte Charlie. Die wohlige Atmosphäre war dahin. Gereizt drehte sie die Zeitungsseite um. Todesanzeigen. Auch nicht besser.

Sie stand auf und knipste das Licht an. Vielleicht sollte sie ein paar Kekse essen? Sie holte die Dose vom Schrank und stellte sie auf den Tisch. Sie musste an die Villa von Dukie denken. Wie groß das Haus war. Und wie klein diese Wohnung hier. In der Keksdose waren frische Makronen, die ihre Großmutter vor ein paar Tagen gebacken hatte. Sie gab sich viel Mühe, damit sie sich bei ihr wohlfühlten. Während Charlie ihren Gedanken nachhing, arbeitete irgendetwas in ihr. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber was?

Sie legte sich wieder hin und stöberte noch ein bisschen in der Sofaspalte. Sie beförderte ein unbeschädigtes Portionsdöschen mit Kaffeesahne zutage, eine silberne Perle und einen alten Eisstil. Dann knipste sie das Licht wieder an. Der Zeitungsausschnitt. Die Todesanzeigen. Das war es!

Eine gewisse Elvira Königssohn war gestorben. Und als einziger Trauernder hatte ein Mann namens Norbert Königssohn unterschrieben. Es gab sogar eine Traueradresse, in einem Viertel am Stadtrand. Die Anzeige war erst drei Wochen alt. Ob der Mann ihr Norbert Königssohn war? So häufig war der Name schließlich nicht. Sie mussten die Adresse zumindest überprüfen. Charlie holte ihr Handy aus dem Rucksack und wählte Jonahs Nummer.

Sie waren sofort aufgebrochen, und alle hatten mitkommen wollen. Jonah, Dukie, Charlie und Klara. Jetzt standen sie vor dem Haus, einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus mit einem kleinen Vorgarten. Es war schon spät am Abend, aber hinter einigen Fenstern brannte noch Licht. Der Name der verstorbenen Dame stand noch am Klingelschild.

Klara klingelte. Keine Reaktion. Sie versuchte es noch einmal. Aber alles blieb ruhig. »Alle Klingeln gleichzeitig?«, fragte sie. Jonah nickte. Einen Augenblick später ging der Türsummer. Jonah drückte auf.

»Ja?«, rief eine Frau von oben.

»Entschuldigen Sie bitte die späte Störung«, antwortete Klara. »Wir möchten nur etwas in den Briefkasten werfen.« Sie schlichen leise die Treppe hinauf. Die Wohnung lag im dritten Stock. Dort klingelte Klara noch einmal. Wieder nichts. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Tür aufzubrechen. Jonah hatte für den Fall extra Werkzeug mitgenommen. Ein Brecheisen, eine Zange, einen Schraubenzieher, einen Hammer und ein Tuch, das man unter den Hammer legen konnte, um das Geräusch der Schläge zu dämpfen. »Darf ich mal?«, flüsterte Klara und schob ihn zur Seite. Dann machte sie sich am Schloss zu schaffen, und nach kurzer Zeit schwang die Tür auf.

»Wie hast du das denn gemacht?«, fragte Jonah verblüfft.

Klara nuschelte etwas vor sich hin, das klang wie »einen Dietrich besorgt«, aber keiner der anderen fragte weiter nach.

Jonah war angespannt. Sie mussten endlich etwas finden, was sie irgendwie weiterbrachte. Seit zehn Tagen gab es keinerlei Lebenszeichen mehr von Jette. Wobei er sogar den Einsturz des Glasdaches als Lebenszeichen gewertet hatte. Sein Gefühl sagte Jonah, dass Jette noch in der Villa war. Aber was konnte man mit »seinem Gefühl« schon anfangen? Nachdem sie der Polizei gesagt hatten, dass Dr. Saalfeld und Wim Tanner sich getroffen hatten, hatte die Polizei die Villa noch ein weiteres Mal durchsucht. Die Beamten hatten das ganze Haus auf den Kopf gestellt, sämtliche Schränke und Schubladen durchwühlt, Möbel verrückt, Wände abgeklopft und sogar Radargeräte eingesetzt, mit denen sie Hohlräume hinter Wänden orten konnten. Aber sie hatten nichts gefunden. Keine Spur von Jette.

Jonah schloss die Tür hinter ihnen. Er hörte, wie jemand auf den Lichtschalter im Flur drückte. Hoffentlich fiel das Licht draußen nicht auf. Aber wahrscheinlich wären ihre Taschenlampen von außen viel verdächtiger. Vielleicht hätten sie doch bis morgen warten sollen, wenn es hell war?

In der Wohnung roch es muffig. Ein Hauch von Altdamenparfüm lag in der Luft. »Sie haben noch nichts ausgeräumt«, sagte Klara erleichtert.

Jonah tastete sich vorsichtig voran. Der Flur war lang. Vier Türen gingen von ihm ab. Es gab ein Schlafzimmer, eine Küche, ein Wohnzimmer und ein Bad. Wie lange das dauert, bis ich mich orientiert habe!, dachte er.

»Kommt mal her!«, rief Klara leise. Sie war im Wohnzimmer. »Hier, das Fotoalbum«, sagte sie, als alle den Raum betreten hatten. »Guckt mal!«

»Ist er das?«, fragte Dukie.

»Ich denk schon«, sagte Klara. »Steht Norbert drunter.« Sie blätterte weiter.

»Da!«, rief Charlie.

»Das ist unser Mann!«, sagte Dukie.

»Was ist denn da drauf?«, fragte Jonah ungeduldig.

»Norbert im weißen Kittel in einem Labor. Los! Weitersuchen!«

Wieder war es Klara, die etwas fand. Diesmal kam ihre Stimme aus dem Schlafzimmer. »Seht euch das mal an! Noch ein Album. Mit Postkarten aus aller Welt. In den ersten Jahren hat er sich noch Fred genannt. Aber es ist immer die gleiche Handschrift. Und später hat er mit Norbert unterschrieben. Aus Bangladesch … Singapur … Ghana … Argentinien. Und in letzter Zeit nur noch aus dem Schwarzwald! Und hier …«, sagte Klara triumphierend, » … eine Adresse!« Im Zimmer war es andächtig still. »Am Forstenbach 6. Der Ort heißt Hohenfeld. Er lädt seine Mutter ein, ihn zu besuchen. Er ist dort Leiter in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Er schreibt, sie soll nach einem Norbert Küster fragen.« Klara blätterte weiter. Dann ihre fassungslose Stimme: »Guckt mal, was er hier schreibt: Er hat Falken!«