Eine lange Flucht geht zu Ende

Jonah hatte sich zurückgelehnt und lauschte dem monotonen Rattern des Zuges. Er war müde. Kein Wunder. Er hatte in der letzten Nacht nicht geschlafen. Es war einfach zu aufregend gewesen in der Wohnung der alten Dame, und er hatte sich danach stundenlang unruhig im Bett gewälzt und kein Auge zubekommen.

Charlie stand schon seit Längerem am Fenster und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Hin und wieder sagte sie Sätze wie: »Da ist ein Feld mit ganz vielen Tulpen.« Oder: »Diese Schwarzwaldhäuser sehen lustig aus.« Aber auch ihre Stimme klang etwas schwach.

Der Waggon wurde mit Wucht zur Seite gedrückt, und es ratterte laut. Jonah schrak hoch. Ein anderer Zug kam ihnen entgegen.

Es war das erste Mal, dass er Eisenbahn fuhr, seitdem er nicht mehr sehen konnte. Es war gewöhnungsbedürftig. Aber auch mit dem Autofahren hatte er erst wieder klarkommen müssen. Man wusste nicht so recht, was mit einem geschah und wie man all diese Geräusche einordnen sollte. Waren sie jetzt in einen Tunnel gefahren? Ein leichter Druck hatte sich auf seine Ohren gelegt, und die Luft, die von draußen hereinkam, war merklich kühler geworden.

»Meinst du, dass Norbert Königssohn wirklich weiß, wo Jette ist?«, fragte Charlie.

Jonah nickte.

»Und warum befreit er sie dann nicht?«

»Das werde ich ihn auch gleich fragen«, sagte Jonah grimmig.

Sie hatten ihr Kommen natürlich nicht angekündigt. Norbert Königssohn sollte sich weiter unentdeckt wähnen, damit sie den Überraschungseffekt auf ihrer Seite haben würden. Er sollte keine Zeit haben, sich Ausflüchte zu überlegen. Wenn sie ihm erst mal gegenüberstanden, würde Charlie kein unruhiger Blick, keine Geste des Mannes entgehen. Und Jonah wollte genau auf die Stimme des Mannes achten. Sie würden ihm sein Geheimnis entreißen.

»Ich hoffe nur, dass er auch da ist«, sagte Jonah. Er musste laut gegen den Fahrtwind ansprechen. »Dann wird er uns schon sagen, was er weiß.« Seine Stimme hatte einen ungewöhnlich aggressiven Unterton.

»Wir werden ihn auf jeden Fall tüchtig in die Mangel nehmen«, sagte Charlie besänftigend und schloss das Fenster. Sie setzte sich neben ihn.

»Du brauchst nicht mit mir zu reden wie mit einem kranken Dackel.«

»Besser wie mit einem kranken Kampfhund? Was willst du tun, wenn er nichts sagt? Ihn anfallen?«

»Wir sperren ihn ein. Lassen ihn verhungern. Verdursten. Bis er redet.«

»Du meinst es ernst.«

»Weißt du, was sie jetzt vielleicht gerade mit Jette machen?«, entgegnete Jonah.

Er hatte Angst um Jette. Eine beißende, kalte Angst, die immer da war, in jeder Sekunde, ihn manchmal aber regelrecht ansprang, wie ein Raubtier sein Opfer. In diesen Momenten hörte er auf zu atmen und versuchte, mit seinen Händen seinen Nacken und seinen Bauch vor dem Angriff zu schützen.

Er nannte sie auch nicht mehr Jella, sondern nur noch Jette. Der Name, den er ihr einst gegeben hatte, machte ihm jetzt Angst. Er erschien ihm bei Weitem nicht so bodenständig und robust wie Jette. Eine Jella konnte der Wind wegwehen. Der Name war nicht viel mehr als ein Hauch. Wie hatte er ihr diesen Namen geben können?

Der Zug fuhr langsamer. »Komm«, sagte Charlie. »Wir müssen aussteigen.«

Jonah zog sich seine Jeansjacke über und griff nach seinem Rucksack. Er ließ sich die Zeit ansagen. Es war halb elf. An der Tür hatte sich eine Schlange gebildet. »Wanderer«, erklärte Charlie.

Jetzt hielt der Zug mit kreischenden Bremsen. Die Türen wurden geöffnet, und Jonah trat hinaus ins Freie. Die Luft roch frisch und würzig. Spazierstöcke klapperten auf dem Bahnsteig. Leute unterhielten sich, lachten. Eine Gruppe suchte nach einem fehlenden Teilnehmer. Es herrschte ein freundliches buntes Treiben. Wenn ich all das doch nur sehen könnte, dachte Jonah kurz. Dann war der Gedanke wieder verflogen. Das Gute an neuen Problemen ist, dachte er, dass man die alten vergisst. Er hatte schon lange nicht mehr darüber nachgedacht, dass er blind war. Er hatte zu viel zu tun. Er musste Jette finden.

Charlie griff nach seiner Hand, und sie gingen auf den Vorplatz. In der Sonne war es warm. Die Blätter der Bäume rauschten im Wind. Ein Auto fuhr vorbei. In der Ferne läutete eine Kirchturmglocke. »Es ist schön hier«, sagte Charlie. »Aber ich sehe keine Taxis.« Sie kramte einen Plan hervor, den sie sich von dem Ort besorgt hatte. »Ich glaube, es ist nicht weit«, sagte sie. »Das Haus liegt am Waldrand. Wir gehen einfach zu Fuß.«

Sie liefen schnell. Jonah hatte sich bei Charlie untergehakt. Wenn er mit ihr unterwegs war, nahm er seinen Stock gar nicht erst mit.

Bereits nach ein paar Minuten erreichten sie einen kleinen Waldweg. »Da lang«, sagte Charlie. Sie dirigierte ihn mit sanftem Druck vorbei an Steinen, Wurzeln und anderen Unebenheiten. Mit ihr an der Seite könnte ich sogar rennen, dachte Jonah. Dann musste er an Jette denken. Wie er das erste Mal seine Hand steif auf ihre Schulter gelegt hatte und sich von ihr führen ließ. Das war, als sie ihn unter dem Baum angesprochen hatte. Und später dann, wie sie ihn im Affenhaus immer an die Hand genommen hatte. Bei Jette musste man selbst auf Unebenheiten achten, doch er wäre jetzt gern mit ihr an der Hand über eine Wurzel gestolpert. »Verdammt!«, würde sie zerknirscht sagen. »Ich pass jetzt wirklich auf.«

»Hier stinkt’s«, platzte Charlie in seine Gedanken hinein.

»Nach Vögeln«, antwortete Jonah zufrieden. »Sind wir da?«

»Ich glaube schon. Da vorn ist ein Haus. Und daneben stehen Käfige.« Charlie schüttelte sich. »In dem Käfig dahinten sitzt ein ziemlich dunkler Geselle. Mit krummem Schnabel. Aber sonst sehe ich niemanden.«

»Hallo?«, rief ein junger Mann aus Richtung des Hauses. »Kann ich euch helfen?«

»Wir möchten Herrn Küster sprechen!«, rief Charlie.

»Geht zu den Volieren durch. Dort ist er.«

»Der meint die Käfige«, stellte Charlie fest. »Er ist also wirklich da.«

Sie gingen noch ein Stück weiter und hörten bald ein beruhigendes »Ja-mein-Freund-kri-kri-kri-ein-bisschen-fliegen?kri-kri-kri …« Eine Männerstimme mittleren Alters. Dann kräftiges Flügelschlagen.

»Hallo?«, rief Charlie.

Ein ungehaltenes »Augenblick!« war die Antwort. Dann freundlicher: »Ich komm gleich raus.« Kurz darauf fiel eine Tür ins Schloss, und Schritte näherten sich.

»Da ist der Mann«, flüsterte Charlie. »Er hat einen Vogel bei sich. Sitzt auf seiner Hand. Das Vieh hat irgendwas auf den Augen. Man sieht nur den Schnabel. Sieht ziemlich gruselig aus.«

»Was kann ich für euch tun?«, fragte der Mann, der auf einmal vor ihnen stand.

»Sind Sie Herr Küster?«, fragte Jonah.

»So ist es«, antwortete der Mann. Er klang arglos. Freundlich.

»Wir möchten mit Ihnen reden«, sagte Jonah. Für einen Augenblick fühlte er sich bereits am Ziel angelangt.

»Kein Problem«, antwortete der Mann. »Wenn ich den Falken dabei fliegen lassen kann? Später wird’s zu heiß.«

Jonah zuckte mit den Schultern. Ihm fiel auf, dass der Mann ihm direkt geantwortet hatte. Er hatte in seine Richtung gesprochen. Die meisten Leute wandten sich an Charlie, Klara oder Dukie. Aber vielleicht hatte der Mann auch noch gar nicht bemerkt, dass er blind war.

»Geht schon mal zur Wiese durch, dort entlang«, sagte der Mann. »Muss mir nur noch einen neuen Handschuh holen. Den alten hat der Kamerad hier zerbissen.« Er ging mit schnellen Schritten davon. Der Mann hatte etwas Lässiges an sich. Und wirkte gleichzeitig bestimmt.

Ein paar Minuten später stand er wieder neben ihnen. Jonah hatte das Gesicht des Mannes vor Augen. Ein heller Typ mit blonden dichten Haaren, nachlässig rasiert, ohne Brille. So würde er sich an ihn erinnern.

Am Anfang hatte es ihn noch verunsichert und gestört, dass er nie wusste, ob die Bilder, die sich in seinem Kopf bildeten, mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Aber irgendwann hatte er sich gedacht, scheiß drauf. Norbert Königssohn war für ihn eben blond. Sollten die anderen ihn doch braun, rot oder mit grün gepunkteten Haaren sehen. Ihm war es egal. »Worum geht’s denn?«, fragte der Mann jetzt neugierig.

»Wir wollen wissen, wo Jette ist«, begann Charlie ohne Umschweife.

»Wer ist denn Jette?«, fragte der Mann.

»Sie kennen sie«, sagte Charlie. »Außerdem haben Sie ja sicher alles in der Zeitung gelesen.«

»Bedaure«, sagte der Mann. »Ich lese kaum noch Zeitungen.« Er lachte etwas.

»Vielleicht hilft Ihnen der Name Lina Sandwey auf die Sprünge«, sagte Jonah barsch.

Irgendetwas fiel zu Boden. Der Vogel kreischte laut auf. Der Mann bückte sich. Er brauchte ewig, um sich wieder aufzurichten. »Entschuldigung«, murmelte er. »Die Tasche mit dem Fleisch.«

»Und?«, fragte Jonah drängend.

»Woher wisst ihr …?«

»Wo ist sie?«, fiel Jonah ihm ins Wort.

Der Mann schwieg. Er atmete schwer. Dann stieß er hervor: »Ich muss den Vogel fliegen lassen.« Er hantierte an dem Tier herum. »So, jetzt kannst du wieder sehen«, murmelte er. »Noch die Riemen an den Füßen … Und los geht’s!« Mit lautem Flügelschlagen erhob sich der Vogel in die Luft.

»Herr Königssohn, wo ist sie?«, wiederholte Charlie.

»Wer seid ihr?«

»Wo ist sie?«

»Sie … ist … tot«, stotterte der Mann. »Wisst ihr das denn nicht?«

»Das kann nicht sein«, sagte Jonah tonlos. Er spürte, dass Charlie an seinem Arm zitterte. Tot, dachte er. Und noch während das Wort durch seinen Kopf fuhr, stellte er das Atmen ein. Es war keine bewusste Entscheidung. Er hörte einfach auf zu atmen. Er wusste nicht, ob es stimmte, was der Mann gesagt hatte. Aber solange er nicht atmete, konnte Jette nicht wirklich tot sein. Aus irgendeinem Grund hatte er den Eindruck, dass ohne seinen nächsten Atemzug etwas so Ungeheuerliches nicht vollendet werden konnte.

»Was ist passiert?«, flüsterte Charlie.

Der Mann sagte nichts.

»Was ist passiert?«, wiederholte sie.

»Wer seid ihr? Warum wollt ihr das wissen?«, stieß der Mann gepresst hervor.

»Was ist passiert?« Charlie brüllte jetzt.

Aber der Mann redete immer noch nicht.

»Bitte«, sagte Charlie etwas beherrschter. »Erzählen Sie es uns. Wir sind ihre Freunde.«

»Ihre Freunde?«, fragte der Mann. »Aber sie ist doch tot. Wie …« Dann schluchzte er auf.

»Bitte«, wiederholte Charlie.

»Es war meine Schuld«, sagte der Mann gepresst. »Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«

»Dann tun Sie es jetzt«, verlangte Charlie.

»Ich habe damals auf der Krankenstation gearbeitet, auf der sie geboren wurde«, begann er stockend. »Ich hatte dort ein Labor und machte klinische Studien. Ich war kein Arzt, sondern Biologe. Humangenetik. Ich arbeitete an meiner Doktorarbeit. Sie war das schönste Baby, das wir je gesehen hatten. Mit einer ganz außergewöhnlichen Haut. Straff, glänzend, makellos, keine einzige Unebenheit. Nichts Verschrumpeltes. Ich habe sie direkt nach der Geburt zu Gesicht bekommen, und sie sah nicht aus, als hätte sie neun Monate in Fruchtwasser gelegen, sondern als wäre sie direkt vom Himmel gefallen.«

Jonah wunderte sich, wie ruhig sein Körper war, seit er aufgehört hatte zu atmen. Er erinnerte sich an eine Geschichte, in der ein Mann sich nicht nach seiner Liebsten umdrehen darf, weil diese sonst zu Stein wird. Der Mann drehte sich um. Er selbst würde diesen Fehler nicht machen. Er hielt weiter die Luft an.

»Ich war ehrgeizig«, erzählte der Mann neben ihm weiter. »Ich hatte bereits als Student bei der Entschlüsselung des NF1-Gens mitgewirkt. Das Gen wird euch nichts sagen. Es hat etwas mit der Haut zu tun. Ich wollte mich um ein Stipendium bei einem amerikanischen Spitzenforscher bewerben. Die Studien, die ich in der Klinik machte, waren meine Visitenkarte. Ich sah in dem Baby die Chance meines Lebens. Wenn es eine genetische Veranlagung für seine perfekte Haut hatte und ich sie finden würde! Ich wäre auf der Stelle berühmt gewesen.«

Der Mann sprach nicht weiter. Seine Gedanken schienen ihn wegzutragen. Charlie räusperte sich. Noch einmal, diesmal lauter.

»Die Ärzte auf der Station«, nahm der Mann den Faden wieder auf, »nahmen dem Baby viel Blut ab, um es zu untersuchen. Die Mutter war drogenabhängig gewesen, und man musste mehr Vorsorgeuntersuchungen machen als üblich. Doch von dem Blut blieb immer etwas übrig, und ich holte es mir, obwohl das nicht erlaubt war. Aber niemand fragte danach. Das Kind hatte tatsächlich auffallend viele Mutationen auf dem NF1-Gen. Ich hoffte, die eine zu finden. Oder das Set an Mutationen. Ich wurde immer besessener von der Idee. Ich arbeitete rund um die Uhr. Ich wandte neue statistische Methoden an, las in kürzester Zeit Hunderte von Fachaufsätzen, kaufte für viel Geld neue Labortechnik. Und fand nichts.« Der Mann schwieg wieder.

»Jonah, alles in Ordnung?«, fragte Charlie auf einmal.

Er nickte.

»Du musst atmen«, sagte sie.

Er nickte wieder, aber es ging nicht.

»Sie ist nicht tot«, sagte Charlie. »Er erzählt von früher.«

Jonah nickte. Sie ist nicht tot, wiederholte er in Gedanken Charlies Worte. Und dann endlich kam sein Atem wieder. Er keuchte und holte tief Luft.

»Und dann?«, fragte er. »Wie ging es dann weiter?«

Der Mann schwieg wieder. Er setzte zum Reden an, aber die Silben erstarben ihm auf den Lippen. »Ich sollte den Vogel rufen«, sagte er schließlich. »Es ist ein Trainingsflug. Er muss lernen zu gehorchen.« Er stieß ein lautes »Hoy, hoy, hoy!« aus.

»Erzählen Sie bitte weiter«, bat Charlie.

»Ich hatte lange gearbeitet«, fuhr der Mann stockend fort. »Mir eine Pizza bestellt, aber vergessen, sie zu essen. Als ich in der Nacht endlich nach Hause gehen wollte, warf ich wie immer noch einen Blick in das Buch mit den Entlassungen vom nächsten Tag. Und da stand der Name des Babys. Es war ein Schock für mich. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass sie noch länger auf der Station bleiben würde. Doch jetzt entschied ich, mir auf der Stelle Blut auf Vorrat zu holen. Natürlich hatte ich schon etwas Blut zur Seite geschafft, aber es war möglich, dass ich das Baby nie wiedersehen würde. Sicher war sicher.«

Das Glöckchen näherte sich. Mit lautem Flügelschlagen landete der Vogel auf seinem Herrn. »Gut gemacht!«, lobte der Mann müde. Jonah hörte, wie die Schnallen einer Tasche geöffnet wurden. Fleischgeruch stieg in seine Nase. Der Vogel gab ein aufgeregtes Krik-krik-krik-krik-krik von sich und flatterte wild mit den Flügeln. Dann war es still. Schließlich sagte der Mann: »Flieg noch mal, Junge!« Und der Falke erhob sich erneut in die Lüfte.

»Sie lag zusammen mit anderen Babys in einem Zimmer«, redete der Mann unaufgefordert weiter. »Als Erstes habe ich ein paar Haare von ihrem Kopf abgeschnitten. Das war schon mal sichere DNA. Aber für meine Untersuchungen war Blut praktischer. Die Ärzte hatten ihr sowieso eine Kanüle in den Handrücken gelegt, weil sie ihr öfter Blut abnahmen. Ich musste nicht neu stechen. Am Anfang klappte alles. Ich füllte eine Spritze mit Blut, dann eine zweite. Sie wachte nicht auf. Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass ich noch mehr brauchte. Bei der dritten Spritze machte sie plötzlich die Augen auf, sah mich an – und hörte auf zu atmen.« Der Mann rang um Fassung. »Ich habe sie geschüttelt und ihren Namen gerufen. Aber sie hat nicht mehr geatmet. Ihre Lippen haben sich verfärbt, und sie lief schon blau an. Ich hatte zu viel Blut abgenommen. Der Kreislauf war kollabiert. Und dann bin ich aus dem Zimmer gerannt. Ich bin einfach weggelaufen. Fünfzehn Jahre habe ich mich gefragt, warum ich keine Hilfe geholt habe.«

»Sie ist damals nicht gestorben«, sagte Charlie. »Ein Arzt hat sie wiederbelebt. Er hatte sich eigentlich nur in der Tür geirrt, aber gleich gesehen, was los war. Ihr ist nichts passiert. Sie kennt die Geschichte von ihren Eltern. Der Arzt dachte, er hätte sie vor dem plötzlichen Kindstod gerettet.«

»Sie ist nicht gestorben?«, fragte der Mann ungläubig.

»Nein.«

»Das kann nicht sein. Sie war tot.«

»War sie nicht«, sagte Charlie.

»Doch.«

»Nein. Haben Sie denn nie nachgefragt?«

»Ich war mir so sicher«, sagte der Mann langsam. »Ich bin aus dem Krankenhaus gerannt. Durch die Straßen geirrt. Irgendwann bin ich nach Hause gegangen, habe meinen Pass geholt und mich in ein Flugzeug gesetzt. Ich hatte einen Menschen getötet. Ein Baby. Und das nur aus beruflichem Ehrgeiz. Ich konnte es nicht fassen. Bis zu diesem Moment war alles in meinem Leben rundgelaufen. Ich hatte immer Erfolg gehabt. Und jetzt war ich auf einmal auf der Flucht. Weniger vor der Polizei als vor mir selbst. Ich stand vor dem Nichts. Wisst ihr, ich habe meinen Beruf sehr geliebt. In der darauffolgenden Zeit litt ich sehr, und es dauerte Jahre, bis es mir wieder besser ging. Ich habe dann versucht, etwas Neues zu machen, etwas ganz anderes, und das hier ist ein Ergebnis davon.« Er machte eine ausholende Geste mit dem Arm, mit der er wohl das Heim für die Jugendlichen und die Vogelzucht meinte. Dann sprach er weiter: »Ich versuche jetzt, Menschen zu retten. Und das Baby ist wirklich nicht gestorben?«

»Aber Sie müssen doch den Brief geschrieben haben«, unterbrach ihn Jonah. Er zog das anonyme Schreiben an Wim Tanner aus seiner Jeansjacke. Der Mann nahm den Brief, las ihn und gab ihn ihm zurück.

»Nein«, sagte er, »der ist nicht von mir.«

»Aber Sie heißen doch ›Königssohn‹. Und der Absender des Briefes ist ›Ein reisender Königssohn‹. Und Sie waren doch auch immer unterwegs.«

»Aber ich habe den Brief nicht geschrieben.«

»Das kann doch kein Zufall sein«, sagte Jonah. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Jette nie wieder gesehen haben?«

»Ja«, sagte der Mann.

»Und wer hat dann den Brief geschrieben?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und die Falken?«, sagte Jonah wütend. »Streiten Sie auch ab, dass Sie Falken haben?«

»Nein, ich habe Falken.«

»Und warum, bitte schön?«

»Ich kenn mich mit ihnen aus«, sagte der Mann. »Mein Vater war Förster. Und für die Jugendlichen hier sind sie genau das Richtige. Sie richten sie zum Jagen ab. Das gefällt den jungen Leuten. Aber sie müssen auch geduldig sein. Und zuverlässig. Den Tieren regelmäßig Futter geben. Ich habe hier Jugendliche, die das erste Mal seit Langem wieder eine Beziehung aufbauen. Manche auch überhaupt das erste Mal. Zugegeben, zu einem Falken. Aber immerhin. Mit Hingabe. Und Liebe.«

»Ihre Liebe interessiert mich einen Scheiß«, sagte Jonah. Ihm wurde schlecht. Sie waren in einer Sackgasse gelandet. Wieder einmal. Wo sollten sie Jette noch suchen? Die Zeit lief ihnen davon. Jeder Tag, der verging, bedeutete einen Tag mehr für sie in Gefangenschaft. Wer wusste, wie es ihr inzwischen ging? Ihr Besuch war völlig umsonst gewesen. Sie waren mal eben durchs ganze Land gereist, um irgendeinem verkappten Wissenschaftler mitzuteilen, dass das, was er meinte, vor fünfzehn Jahren angerichtet zu haben, gar nicht so war. Als ob sie nichts anderes zu tun hätten.

»Essen!«, rief eine Jungenstimme aus der Ferne.

»Gleich!«, antwortete der Mann neben ihnen. Dann fragte er wieder: »Sie ist wirklich nicht tot? Ich verstehe das nicht. Sie hat die ganze Zeit über gelebt? Ich habe wegen eines Irrtums … Ich meine, es ist gut, was ich hier gemacht habe, aber …«

»Kennen Sie Dr. Saalfeld und Wim Tanner?«, fragte Charlie.

»Sie waren damals beide auf der Station«, antwortete der Mann, noch ganz in seinen eigenen Gedanken versunken.

»Die beiden haben Jette entführt«, sagte Charlie. »Deswegen sind wir hier. Haben Sie eine Idee, wo sie sie versteckt haben könnten?«

»Nein«, sagte der Mann. »Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen. Aber warum haben sie sie entführt?«

»Dr. Saalfeld sucht die genetische Mutation, die Sie damals entdeckt haben. Aber …« Charlie hielt inne und sagte langsam: »Sie haben ja gar nicht erzählt, dass Sie die Mutation gefunden haben.«

»Hab ich auch nicht«, sagte der Mann.

»Aber Dr. Saalfeld hat doch Notizen von Ihnen entdeckt, in denen steht, dass Sie die Mutation gefunden haben«, sagte Charlie. »Er ist davon überzeugt, dass es stimmt, was Sie geschrieben haben. Deshalb hat er Jette entführen lassen. Er wollte ihr heimlich Blut abnehmen. Niemand sollte wissen, von wem das Blut mit der Mutation stammte. So wollte er sichergehen, dass er sein Wissen für sich allein haben würde. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, gibt es diese Mutation gar nicht?«

»Verdammt«, sagte der Mann. »Ich kann mir denken, was er gefunden hat. Mein Gott, das darf doch alles nicht wahr sein. Dann bin ich auch noch daran schuld …«

»Woran sind Sie schuld?«, fragte Jonah.

»Ich …«

»Wieso?«, brüllte Jonah.

»Ich … habe einen solchen Zettel … geschrieben.«

»Geht es vielleicht etwas genauer?«, zischte Jonah.

»Bevor ich in der Nacht zu dem Baby ging, war ich wie im Wahn«, presste der Mann hervor. »Ich hatte mir vorgestellt, dass ich das Rätsel gelöst hätte. Ich saß an meinem Schreibtisch und stellte mir vor, Wissenschaftler aus aller Welt riefen an und gratulierten mir. Ich hob richtig den Hörer ab.« Der Mann lachte freudlos. »Ich nahm auch Papier und einen Stift zur Hand und fing mit dem entscheidenden Fachaufsatz an: ›Ich habe heute auf dem NF1-Gen des neugeborenen Kindes Lina Sandwey eine genetische Mutation entdeckt, die ihr eine perfekte Haut beschert …‹ Das Papier habe ich dann wohl auf dem Tisch liegen lassen.«

»Es war nur ein Wunsch«, sagte Charlie langsam.

»Nur ein Wunsch«, bestätigte der Mann bitter.

»Sie müssen Dr. Saalfeld sagen, dass es die Mutation nicht gibt. Dann hat er keinen Grund mehr, Jette gefangen zu halten«, sagte Charlie.

»Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?« Der Mann überlegte. »Vielleicht hat er dann auch keinen Grund mehr, eure Freundin am Leben zu lassen. Wenn er sie wirklich entführt hat, wird sie reden, wenn er sie gehen lässt.«

Jonah hätte dem Mann am liebsten die Gurgel umgedreht. Wie er es einfach so aussprach, dass Jette getötet werden könnte. Jonah achtete immer peinlich genau darauf, dass seine Gedanken vor diesem Punkt stehen blieben. Er liebte Jette. Und dennoch konnte er sie mit seiner Liebe nicht schützen. Er konnte keinen Schutzschild um sie ziehen. Irgendetwas musste bei der Schöpfung gründlich schiefgegangen sein. Es musste nur irgendein Idiot kommen, mit seinem Messer in Jettes Körper stoßen, und sie wäre für immer tot.

»Essen!«, rief wieder jemand vom Haus, diesmal etwas ungeduldiger. Statt einer Antwort schickte der Mann ein »Hoy, hoy, hoy!« in den Himmel. Dann fragte er: »Wollt ihr zum Essen bleiben?«

Jonah schüttelte den Kopf. »Danke, aber wir müssen Jette finden«, sagte er. »Wir haben keine Zeit.«

»Wo wollt ihr sie denn suchen?«

»Überall.«

»Man sollte schon wissen, wo man sucht«, sagte der Mann.

»Danke für den schlauen Ratschlag«, antwortete Jonah böse.

»Wisst ihr denn wenigstens, wie ihr am besten vorgeht?«

»Wir kommen schon zurecht«, grummelte Jonah.

»Ist Kai Saalfeld eigentlich immer noch besessen von seinen Gärten?«, fragte Norbert Königssohn.

»So kann man es sagen«, erwiderte Jonah müde.

In der Ferne hörte er das Glöckchen des Falken. Das Klingeln wurde lauter. Das Tier kam zurück.

»Guter Junge«, lobte der Mann, als es gelandet war. »Bleibt zum Essen«, sagte er. »Vielleicht kann ich euch doch noch helfen.« Und dann fügte er immer noch ungläubig hinzu: »Und sie ist wirklich nicht gestorben?«